Claudia Steigerwald: Kulturelle Bildung als politisches Programm
Rezensiert von Prof. Dr. Birgit Dorner, 18.03.2021

Claudia Steigerwald: Kulturelle Bildung als politisches Programm. Zur Entstehung eines Trends in der Kulturförderung.
transcript
(Bielefeld) 2019.
329 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4574-3.
D: 39,99 EUR,
A: 39,99 EUR,
CH: 48,70 sFr.
Reihe: Edition Politik - Band 69.
Thema und Entstehungshintergrund
Das Buch von Claudia Steigerwald stellt ausgehend von der Ideen- und Diskursgeschichte der Kulturellen Bildung seit den 1970er Jahren den Einfluss dieser Diskurse auf die aktuellen Förderstrukturen der deutschen Kultur-, Bildungs- und Jugendpolitik dar. Die Autorin geht in ihrer Forschung den Fragen nach, wie die Notwendigkeit der Förderung kultureller Bildung begründet wird und welche gesellschaftlichen Entwicklungen und politischen Ereignisse als Impuls für die zentralen Diskurse im Feld dienen. Dabei konstatiert sie einen Fördertrend Kulturelle Bildung im letzten Jahrzehnt.
Bei diesem Buch handelt es sich um die Dissertation von Claudia Steigerwald.
Autorin
Claudia Steigerwald, geb. 1986, promovierte nach einem Studium der Angewandten Kulturwissenschaften an der Leuphana Universität Lüneburg am WÜRTH Chair of Cultural Production der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Berufliche Erfahrung sammelte sie als wissenschaftliche Referentin beim Rat für Kulturelle Bildung e.V. sowie im Kulturamt Ravensburg.
Aufbau
Der Aufbau der Arbeit orientiert sich am klassischen Muster einer kulturwissenschaftlichen Dissertation, Einführung in die Forschungsfrage, Darstellung des Forschungsstandes, Methodisches Vorgehen, Darstellung der Ergebnisse, Schlussbetrachtung.
Inhalt
Kapitel 1 Einführung: Die Autorin beschreibt zunächst die Genese ihrer Forschungsfrage, die Zielsetzung ihres Forschungsprojekts sowie den Stand der Forschung zu Kultureller Bildung in Deutschland. Als einen besonders problematischen Aspekt arbeitet sie zum einen heraus, dass Kulturelle Bildung zu einem „Container-Begriff“ geworden ist, der sich sowohl auf kulturpädagogische Praxis zur Förderung von Persönlichkeitsbildung von Kindern und Jugendlichen bezieht als auch als ein kulturelles Mittel verstanden wird, um die soziale Kohäsion der Gesellschaft, die Inklusion und speziell die Integration von Geflüchteten und Migrant*innen zu fördern. Zugleich soll Kulturelle Bildung für ein jüngeres Publikum in den Kultureinrichtungen sorgen im Sinne eines Audience Developments. Dadurch wird der Forschungsgegenstand Kulturelle Bildung diffus. Zum anderen ist trotz der politischen Konjunktur des Themas Kulturelle Bildung und einem Fördertrend von Seiten der Politik sowie verschiedenen Stiftungen, die Forschung zur Ideengeschichte und zur Wirkung kultureller Bildung in Deutschland wenig ausgeprägt. Zur Bedeutung kulturpolitischer Diskurse als Faktoren des Politikwandels gibt es ebenso wenig Forschung, da das Feld stark Praxis dominiert ist und sich zudem in Diskurshoheit einer übersichtlichen Zahl an Player*innen befindet. Ziel der Forschungsarbeit von Claudia Steigerwald ist es nun die zentralen Diskurse im Feld der Kulturellen Bildung und der Neuen Kulturpolitik seit den 1960er herauszuarbeiten und auf ihre Wirkmächtigkeit hin zu beleuchten.
Kapitel 2 Methodik:
Steigerwald verwendete eine zweischrittige Forschungsstrategie, zum einen wurden vielfältige Textdokumente zur Kulturellen Bildung seit den 1960er Jahren systematisch mit der Methode der Diskusanalyse vor dem Hintergrund des theoretischen Konzepts der Public Policy Analysis ausgewertet, zum anderen wurden zentrale Akteur*innen der Kulturellen Bildung und Neuen Kulturpolitik in Leitfaden gestützten Interviews befragt. Die Autorin wählt für beide Analysen zwei Beobachtungspunkte, zum einen die policy windows, um spezifische politische und gesellschaftliche Konstellationen zu beschreiben, die bestimmten Akteur*innen und Diskursen Eintritt ins Feld gewähren, zum anderen die in den Diskursen gemachten Problemdefinitionen.
Kapitel 3 Ergebnisse:
Die Darstellung der Forschungsergebnisse gliedert sich in vier Unterkapitel, die Ideengeschichtliche Genese, die Argumentative Analyse, die Akteursanalyse und die Wirkmacht des Diskurses.
Ideengeschichtliche Genese
Die Genese der Ideengeschichte Kultureller Bildung in Deutschland führt Steigerwald auf zwei maßgebliche Entwicklungslinien zurück, zum einen das Erstarken der sozialen Linie in der Kulturpolitik, der sogenannten Neuen Kulturpolitik, und damit eine Konzeption von Kulturpolitik als Sozialpolitik und zum anderen auf den parallel verlaufenden pädagogischen Fachdiskurs, der sich zur Neuen Kulturpädagogik ab den 1980er Jahren verdichtet. Für die wissenschaftliche und politische Etablierung des Themas Kulturelle Bildung war darüberhinaus die durch verschiedene Akteur*innen aber besonders dem Deutschen Kulturrat angestoßene, systematische Verwendung des einheitlichen Begriffs „Kulturelle Bildung“ für alle Praxisformen von Bildung durch Kultur entscheidend. Diese aber führte aber gleichzeitig zur oben beschriebenen Begriffsunschärfe.
Argumentative Analyse
Die Darstellung der Diskurse und Argumente für eine Förderung kultureller Bildung wird in Jahrzehnte gegliedert, beginnend mit den 1970er Jahren bis zurzeit ab der Jahrtausendwende. Dabei werden sukzessive die durch die Diskursanalyse herausgearbeiteten sieben zentralen Argumente des Diskurses der Kulturellen Bildung und der Neuen Kulturpolitik in Deutschland diskutiert: das emanzipatorisch-politische, das sozialpolitische, das kulturpolitische, das ökonomische, das bildungspolitische Argument, das arbeitsmarktpolitische und das individuelle Argument. Die ersten drei Argumente haben ihre Wurzeln bereits in der Neuen Kulturpolitik und Soziokultur der 1970er Jahre, das ökonomische Argument erstarkt in der Mitte der 1980er Jahre, die weiteren drei tauchen erst in jüngerer Zeit im Diskurs auf. In ihrer Darstellung zeigt die Autorin auch die Entwicklung der Diskurslinien, die Häufigkeit ihrer Verwendung, ihre Wirkmacht und ihr Fortbestehen über die Jahre auf sowie die Ablösung von Argumenten durch andere je nach gesellschaftlichen Entwicklungen.
Seit den 1970er Jahren wird Kultureller Bildung oft die Funktion der politischen Emanzipation von Bürger*innen zugeschrieben und kulturelle Bildung als politische Bildung verstanden, die zur politischen Teilhabe führt. Dieses emanzipatorisch-politische Argument aus der 1968er-Bewegung kommend aktualisiert sich seit der Jahrtausendwende durch die Diskurse um die Bürgergesellschaft und auch durch neue digitale Formen der Bürgerbeteiligung. Kulturelle Bildung wird nun die Aufgabe der Bildung zu verantwortungsvollen und im Gemeinwesen engagierten Bürger*innen zugeschrieben.
Das bildungspolitische Argument fokusiert Kulturelle Bildung als Allgemeinbildung und als Förderung einer ganzheitlichen Bildung. Über das Stichwort der Teilhabe(gerechtigkeit) wird es ab der Jahrtausendwende mit dem sozialpolitischen Argument verbunden. Das sozialpolitische Argument wird besonders von einigen Akteur*innen wie dem Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Programm „Kultur macht stark“ vertreten. Kultureller Bildung fällt die Aufgabe zu, einer möglichen Spaltung der Gesellschaft vorzubeugen durch den Abbau von Teilhabehürden. Das individuelle Argument dagegen fokusiert die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen durch kulturelle Bildung und Stärkung der individuellen Fähigkeiten.
Im Zentrum des Kulturpolitischen Arguments steht das Audience Development, also die Gewinnung von neuen Zielgruppen als Nutzer*innen kultureller Angebote und damit die Sicherstellung der kulturellen Infrastruktur insgesamt. Mit dem ökonomischen Argument wird die Standortförderung durch Kultur in den Blick gerückt. Ab der Jahrtausendwende werden die Wirkungsversprechen Kultureller Bildung durch das arbeitsmarktpolitische Argument, die arbeitsmarktpolitischen Versprechen wie Förderung der „Soft Skills“ und Schlüsselqualifikationen für bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt durch Kulturelle Bildung erweitert.
Akteursanalyse
Kulturelle Bildung ist zum einen Bestandteil der Kulturförderung von Bund, Ländern und Kommunen, zum anderen agieren im Feld Akteur*innen der Zivilgesellschaft wie Stiftungen, Vereine oder Verbände sowie marktwirtschaftlich ausgerichtete Akteure der Kultur- und Kreativwirtschaft. Steigerwald arbeitet als wichtigen Erfolgsfaktor für die Konjunktur Kultureller Bildung, die Besetzung von mehreren Leitungsfunktionen in unterschiedlichen Akteursgruppen durch eine überschaubare Anzahl von Akteur*innen und damit Sprecher*innen, heraus. Viele der ausschlaggebenden „Gatekeeper“ im Feld haben „multiprofessionelle Funktionen“, sie sind sowohl in der Wissenschaft, in der Politik und in zivilgesellschaftlichen Vereinen und Verbänden aktiv.
Wirkmacht des Diskurses
Die Autorin führt die politische Wirksamkeit der Diskurse auf eine Struktur zurück, die sie mit dem niederländischen Diskursforscher Maarten Hajer Diskurskoalitionen nennt. So wird die Wirkmacht bestimmter Argumente durch enge Koalitionen zwischen den sie vertretenden Akteur*innen gestärkt, genauso wie durch die Anbindung an jeweils aktuelle politische Desiderate sowie bildungspolitische Entwicklungen und Diskurse. Durch einen Generationenwechsel im Feld, durch neue und besonders wissenschaftliche Förderlinien, dem damit verbundenen Eintritt neuer Akteure ins Feld im Bereich Wissenschaft, prognostiziert die Autorin in den nächsten Jahren eine stärkere Auseinandersetzung um die Diskurshoheit im Feld.
Kapitel 5 Conclusio
In dem abschließenden Kapitel werden die im vorhergehenden Kapitel dargestellten Ergebnisse noch einmal zusammengefasst und kritisch pointiert diskutiert. So weist die Autorin darauf hin, dass die Konjunktur Kultureller Bildung sich vorwiegend auf der diskursiven Ebene abbildet, dass man nicht umfassend auch von einer finanziellen Konjunktur sprechen kann, eine solche ist empirisch in den öffentlichen Ausgaben nicht belegbar. Gerade der Blick auf den schulischen Bereich zeigt, dass auch generell nicht pauschal von einer Konjunktur Kultureller Bildung gesprochen werden kann, da die künstlerischen Unterrichtsfächer unter einem hohen Fachkräftemangel leiden, Unterrichtsausfall in diesen bildungspolitisch wenig wertgeschätzten Fächern toleriert wird und so keinesfalls von einer kulturellen Teilhabegerechtigkeit für alle Kinder und Jugendliche gesprochen werden kann. Kulturpolitik insgesamt attestiert Steigerwald einen Mangel an Strahlkraft und explizit kulturpolitischen Utopien.
Diskussion
Die Autorin arbeitet detailgenau ideengeschichtliche Entwicklungen und argumentative Trends in der Kulturellen Bildung und der Kulturpolitik ab der zweiten Hälfte des 20. Jh gut nachvollziehbar heraus. Gerade das Kapitel mit der Darstellung der Ergebnisse gibt erhellende Einblicke über die Entfaltung von Wirkmächtigkeit einzelner Diskurse und Akteur*innen vor dem Hintergrund zentraler gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen. Ebenso regen die kritischen Diskussionen der Ergebnisse, gerade auch was die Akteurslandschaft und Kulturpolitik allgemein betrifft zum Weiterdenken an.
An einigen Stellen wäre eine flüssigere und stringentere Form der Darstellung wünschenswert, so kommt beispielsweise der Lesefluss immer wieder durch Wiederholungsschleifen ins Stocken, was das Lesen des Buches ein wenig mühsam macht. Dies ist natürlich auch dem Dissertationsformat geschuldet.
Fazit
Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Historie der Kulturellen Bildung in Deutschland und gibt einen Überblick über die heutigen Akteurslandschaft mit ihren Leitsätzen, Programmatiken. Besonders interessant ist es für alle Insider*innen des Feldes Kultureller Bildung, aber auch für alle, die ein explizit kulturpolitisches Interesse verfolgen.
Rezension von
Prof. Dr. Birgit Dorner
Katholische Stiftungsfachhochschule München, Fachbereich Soziale Arbeit
Professorin für Kunstpädagogik in der Sozialen Arbeit
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