Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.05.2019

Miriam Gebhardt: Wir Kinder der Gewalt. Wie Frauen und Familien bis heute unter den Folgen der Massenvergewaltigungen bei Kriegsende leiden. DVA Deutsche Verlags-Anstalt (München) 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-421-04731-1. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 33,90 sFr.
„Die Geschichte ist nicht vergangen“
Erinnerung, Schuld und Sühne sind Prozesse, die – wenn Individuen und Gesellschaften fähig und in der Lage sind, human und hoffnungsvoll zu denken – nicht einfach vergessen und abgelegt werden können. Individuelles und kollektives Erinnern ist meist schmerzhaft, und es besteht die Gefahr, auf entstandenes Unrecht und Gewalt mit Rachegelüsten zu reagieren. „Aug‘ um Auge, Zahn um Zahn“, diese biblische und vielfach alltagsbestimmte Reaktion auf Unrecht kann verständlich sein. Viel schwieriger, und nicht immer hilfreich und angezeigt ist es, auf Gewalt gewaltlos zu reagieren. Die Entscheidung allerdings ist im Krieg und bei kriminellen Taten außer Kraft gesetzt. In der Geschichte der Menschheit gibt es viele Gewalttaten von Menschen gegen Menschen, die in der Geschichtsschreibung notiert, verschwiegen oder verklittert werden. In der individuellen und kollektiven Erinnerung aber sind sie entweder wahrheitsgemäß vorhanden, oder sie existieren als nicht nachprüfbare, erzählte Geschichten. Dadurch entsteht Faktenwissen, oder es bilden sich interessen- und machtgeleitete Fake News. Im wissenschaftlichen Denk-Diskurs wird auf Facetten, Fiktionen und Fallen hingewiesen, und es werden Wege aufgezeigt, Wahrheiten von Mythenbildungen und Vorurteilen unterscheiden zu können (siehe dazu z.B.: Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Was unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir der kollektiven Dummheit entkommen können, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php).
Entstehungshintergrund und Autorin
Täter- und Opfer-Erzählungen, besonders wenn es sich um zahlreiche Gewalttaten wie Vergewaltigungen von deutschen Frauen zum Ende des Zweiten Weltkrieges durch alliierte Soldaten handelt, wurden lange Jahre verschwiegen, nur im Familienkreis weitergegeben oder in der Nachkriegszeit aus ideologischen und machtpolitischen Gründen manipuliert. Für die im Westen lebenden Bewohner waren es ausschließlich russische Vergewaltiger, während für die Menschen im Ostblock diese Erinnerungen entweder tabu waren, oder die Bösen bei den Amerikanern gesucht wurden. Erst in der neueren Zeit gibt es – außerhalb Europas, etwa in Afrika und Lateinamerika – Wahrheitskommissionen, die nicht auf der Grundlage „Aug‘-um-Auge!“ tätig sind, sondern Versöhnung anstreben.
Die Konstanzer Journalistin und Historikerin Miriam Gebhardt legt mit ihren Recherchen über Täter und Opfer zum Ende des Zweiten Weltkriegs keine Abrechnung vor. Es sind die von Beteiligten und Betroffenen in Interviews und Berichten übermittelten Erlebnisse und Gefühle, die das Buch „Wir Kinder der Gewalt“, wie auch die 2016 erschienene Studie „Als die Soldaten kamen“, eher zu einem Versuch der historischen Wahrheitsfindung, und nicht zu einer Vergeltung machen. So sei vorweg darauf hingewiesen, dass rechte Rasikalistenn und Populisten in dem Buch keinerlei Munition für ihre Vorderlader finden werden.
Aufbau und Inhalt
Die Autorin will mit ihrer Studie „Wir Kinder der Gewalt“ Erinnerungen von zum Kriegsende vergewaltigten Frauen bewusst machen, die Erlebnisse der Opfer dokumentieren, die familialen und gesellschaftlichen Diskriminierungen und Stigmatisierungen benennen und die transgenerationalen Prozesse verdeutlichen. In der Einleitung verweist sie auf die Dimensionen der Gewalt: Sie rechnet aus, dass es zwischen Kriegsende 1945 und 1955 zu rund 900.000 Vergewaltigungen an Frauen durch Soldaten der alliierten Truppen kam: „Die kriegsbedingte sexuelle Gewalt spielte sich im ganzen Spektrum sozialer Kontakte ab: beim Missbrauch von Abhängigen…, bei Übergriffen gegen Mitbewohner…, bei der Zusammenarbeit mit dem Personal von Hilfsorganisationen oder medizinischen Einrichtungen…, bei der Notprostitution sowie natürlich bei überfallartigen Angriffen auf völlig fremde Frauen und Männer im öffentlichen Raum“. Miriam Gebhardt ignoriert auch nicht die Gräueltaten von deutschen Soldaten bei den Sieges- und Eroberungszügen der deutschen Wehrmacht während des Krieges. Die vergewaltigten Frauen und die aus der Gewalttat hervorgegangenen Kinder litten in der verunsicherten und zerrissenen deutschen Gesellschaft Häme und Ablehnung. Die Autorin betont, dass sie ihre Untersuchungen und Recherchen ausschließlich mit Menschen durchgeführt hat, die sich freiwillig und von sich aus bei ihr gemeldet haben. Sie stellt fest, dass es offensichtlich ein Bedürfnis von direkten Opfern und deren Nachkommen war, ihre Leidens- und Familiengeschichte zu erzählen. Keiner besonderen Betonung bedarf, dass das Projekt äußerst emotional und persönlich durchgeführt wurde.
Die Autorin schildert die Lebensgeschichte von fünf Menschen. Da ist Eleonore S., die mit der Überschrift „Ein ‚Franzosenkind‘ sucht die Liebe“ über Kindheiten in der Nachkriegszeit erzählt; da ist Maria K., das „Amerikanerkind“, das in der Weihnachtszeit „Silent Night“ singt und eine merkwürdige Verwandtschaft zur fremden Sprache und den fremden Menschen empfindet; da ist Klara M., deren Mutter von sowjetischen Soldaten vergewaltigt und in den Gulag verschleppt wurde; da ist Marianne F., deren Mutter ihr im Erwachsenenalter erst ihre Leiden erzählte, und was für sie, die Tochter, zu einem schier unüberwindlichen Betroffens- und Erinnerungstrauma wurde; Und da ist Karl T., der erst viel später begriff, warum seine Mutter über die Zeit des Kriegsendes nicht sprach und nur kurz darauf verwies: „Da kamen halt die Alliierten und haben sich genommen, was sie brauchten“.
Es sind aufgeschriebene und erzählte, in Gesprächen und Interviews erfragte, mühsam herausgestoßene Erinnerungen, wie auch sprudelnd und freiwillig geschilderte Gedanken und Erfahrungen, die die Autorin im Wortlaut wiedergibt, zusammenfasst, nacherzählt und interpretiert. „So zieht sich ein roter Faden durch die Geschichte, an dem sich reale und imaginierte, persönlich erlittene und kollektiv empfundene Ängste vor sexualisierter Gewalt festmachen“. Mit dem Blick auf zukünftige Entwicklungen und hoffentlich menschlicheren und menschenwürdigeren Umgang der Menschen miteinander vermittelt das Buch auch eine positive Erkenntnis: „Historische Aufklärung kann heilen helfen“; und zwar dann, wenn es gelingt, „eine erhöhte Sensibilisierung für kriegsbedingte sexuelle Gewalt bei internationalen Konflikten“ zu entwickeln und so ein „Nie wieder“ auszudrücken und die Menschheit auf Humanität zu verpflichten.
Fazit
Der Bericht „Wir Kinder der Gewalt“ ist keine Abrechnung und lässt keinen Raum für Vergeltung, und schon gar nicht für rassistisches, nationalistisches und populistisches Gedankengut. Es sind Bemühungen, vergangenes Unrecht zu erinnern und wachsenden Vorurteils- und Stereotypenbildungen Fakten und Wirklichkeiten entgegen zu setzen. Nicht Rachegelüste, Fingerzeig-Argumente und Schuldzuweisungen können den tatsächlichen Gewalttaten gerecht werden, sondern nur objektives und faktisches Erinnern. Miriam Gebhardt unternimmt dafür den bemerkens- und anerkennenswerten Versuch. Für alle diejenigen, die durch die Lektüre des Buches entweder eigene oder familiäre Nachfragen empfinden, verweist die Autorin mit „Hinweisen für Betroffene“ auf Internet-Portale und Informationsquellen, die ein Weiterfragen ermöglichen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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