Heidrun Kiessl: Systemische Ansätze in der Heilpädagogik
Rezensiert von Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer, 30.07.2019

Heidrun Kiessl: Systemische Ansätze in der Heilpädagogik. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 170 Seiten. ISBN 978-3-17-033064-1. 28,00 EUR.
Thema
In dem Buch von Heidrun Kiessl wird dargestellt, worin die Merkmale systemischer Ansätze bzw. heilpädagogischer Konzepte bestehen, wo es Gemeinsamkeiten gibt und wie systemisches und heilpädagogisches Denken und Handeln sich wechselseitig bereichern können.
Autorin
Frau Dr. Heidrun Kiessl ist systemische Therapeutin und Professorin für Heilpädagogik und Beratung an der Fachschule der Diakonie in Bielefeld.
Entstehungshintergrund
Frau Kiessl begleitete selbst als Heilpädagogin und Systemische Therapeutin Familien in einer psychosomatischen Fachklinik. Weiter sammelte sie Erfahrungen in der Lehre und Vermittlung systemischer Familienberatung an berufsbegleitend Studierende. In Fallbesprechungen und Supervisionen mit den Studierenden konnte sie feststellen, dass diese von systemischen Methoden profitieren und sie als nützlich für ihre Arbeit erleben. Mit Blick auf diese Zielgruppe verfasste Frau Kiessl die vorliegende Veröffentlichung.
Aufbau
Das Buch ist meinem Empfinden nach eine Art Lesebuch zu systemischen Ansätzen in der Heilpädagogik und je nach Kapitel stehen stärker Hintergrundinformationen und Theorien oder ganz praktische Hinweise im Vordergrund.
Das Buch besteht aus sieben Kapiteln. Auf die Einleitung folgen drei eher theoretische Kapitel zu Begrifflichkeiten und Grundlagen systemischen Denkens, zu systemischen Perspektiven und Schnittstellen zwischen heilpädagogischen und systemischen Haltungen. Darauf folgt ein ausführliches und sehr praxisorientiertes Kapitel zu Methoden systemischer Ansätze. Die beiden abschließenden Kapitel befassen sich mit dem Transfer systemischer Ansätze, sowie einem Fazit und Ausblick.
Inhalt
Kapitel 1 ist die Einleitung. Hier geht die Autorin auf die Entstehung systemischer Ansätze ein. Dabei stellt sie sowohl frühe Ansätze dar, als auch Methoden, die im Kontext bestimmter Strömungen (z.B. Mailänder Gruppe) entstanden sind und benennt Vertreter*innen dieser Methoden. Weiter führt sie Begriffsklärungen durch (z.B. zum Begriff System), erläutert kompakt die Verortung systemischen Denkens und Handelns in der Heilpädagogik und stellt ihre Motivation für das Buch und die Gliederung desselben vor.
Kapitel 2 trägt die Überschrift „Theoriebasierte Reflektion Systemischer Ansätze zur Orientierung im heilpädagogischen Handeln“. Dieses Kapitel zeichnet aus, dass theoretische Grundlagen systemischer Ansätze gut verständlich erklärt werden. Zunächst erläutert die Autorin, dass und wie sich soziale Systeme von ihrer Umwelt abgrenzen und wie die weitere Interaktion zwischen System und Umwelt verläuft. Davon ausgehend geht die Autorin auf die Kybernetik erster und zweiter Ordnung ein. In der Kybernetik I werden Strukturen, Funktionen, Beziehungen und Positionen innerhalb eines Gesamtgefüges untersucht. In der Kybernetik II wird der Glaube an die objektive Erkenntnis der beratenden Person relativiert und diese wird als Teil des Kontextes und damit Teil des Systems betrachtet. Weiter geht sie auf das Prinzip der Autopoesie ein, also wie ein System sich selbst erhält. Anschließend richtet sie den Blick auf den Konstruktivismus sowie unterschiedliche Strömungen innerhalb des Konstruktivismus. Das Kapitel endet mit einer Zusammenfassung und zwei Praxisbeispielen.
Kapitel 3 ist überschrieben mit „Heilpädagogik im Umgang mit Beeinträchtigungen: Die Betrachtung von Problemen unter systemischer Perspektive“. In diesem Kapitel zeigt die Autorin auf, welchen Gewinn für die Problemlösung es darstellt, den „Tanz um das Problem“ (S. 41) zu beenden und stattdessen in einem zirkulären Prozess zu prüfen, was das Problem für das System bedeutet und welche Auswirkungen es auf das System und die einzelnen Glieder des Systems hat. In Praxisbeispielen beleuchtet die Autorin kritisch welche Konsequenzen Zuschreibungen und Diagnosen haben können.
Kapitel 4 befasst sich mit „Schnittstellen heilpädagogischer und systemischer Haltungen“. Die Autorin zeigt auf, dass der gemeinsame Nenner dieser Haltungen die Ressourcenorientierung und die Vermittlung von Optimismus und Zuversicht seien. Davon ausgehend verdeutlicht sie, wie heilpädagogische und systemische Ansätze einander bereichern und zu einer Art inneren Kompass, wie sie es nennt, führen können, der handlungsleitend wird. Intensiver richtet die Autorin den Fokus auf Haltungen in der Gesprächsführung, u.a. die Neutralität des Beratenden, aktives Zuhören, Feinfühligkeit und Mentalisieren („die aufmerksame Beachtung und Reflexion des eigenen psychischen Zustandes und der Verfassung anderer Menschen“, S. 52).
Kapitel 5 widmet sich unter der Überschrift „Methodenschätze Systemischer Ansätze“ den verschiedenen Methoden, die in der systemischen Beratung zur Anwendung kommen. In Unterkapiteln erläutert die Autorin zunächst die Methoden, die am Beginn einer Beratung stehen (z.B. Joining und Auftragsklärung) und geht davon ausgehend sowohl auf Methoden ein, die in bestimmten Weiterentwicklungen der systemischen Beratung zur Anwendung kommen, als auch auf Bausteine, die je nach Kontext eingesetzt werden können. In Bezug auf Ersteres wird auf knapp zehn Seiten fundiert und gut verständlich auf die lösungsfokussierte Kurztherapie eingegangen. Der besondere Reiz hinsichtlich der von Frau Kiessl präsentierten methodischen Bausteine ist, dass sie nicht nur ausführlich und konkret auf etablierte Methoden wie das Genogramm eingeht, sondern darüber hinaus auch auf Methoden, die gerade in der heilpädagogischen Arbeit von hohem Nutzen sein können. Als Beispiel seien hier gestalterische Methoden genannt, wo sie in Bezug auf Malen und Zeichnen eine hohe Praxisnähe herstellt, indem sie exemplarisch konkrete Zeichenaufträge vorstellt (z.B.: „Zeichne, wie deine Familie sich verändert hat, seit das Problem in euer Leben getreten ist.“, S. 121).
Besonders wertvoll ist m.E., dass sie auch Vorgehensweisen beschreibt, die nicht in jedem Lehrbuch für die systemische Beratung zu finden sind, z.B. wie man einen Auftrag adäquat ablehnen kann (S. 59). Ebenso wird in diesem Kapitel deutlich, dass Frau Kiessl aktuelle Diskurse bekannt sind, die sie gekonnt in das Kapitel einbaut. Das Kapitel schließt mit einem Unterkapitel zur Beendigung eines Beratungsprozesses sowie Ausführungen zur Wirksamkeit systemischer Ansätze.
Kapitel 6 geht auf den „Transfer Systemischer Ansätze in der Heilpädagogik“ ein, befasst sich mit den Schnittstellen zwischen diesen beiden Ansätzen, prüft, wie diese sich ergänzen und bereichern können und beleuchtet aber auch die Grenzen. Die Autorin regt an, Tools aus beiden Ansätzen zu nutzen, wenn dies zielführend erscheint. So können neue Betrachtungsweisen und Strategien entwickelt werden. Weiter wirft Frau Kiessl in diesem Kapitel einen Blick auf die verschiedenen Felder heilpädagogischen Handelns und zeigt auf, wie z.B. in der Frühförderung oder in der klinischen Arbeit mit Erwachsenen systemische Ansätze zum Tragen kommen. Hierbei geht sie auch auf recht neue Entwicklungen wie die Unabhängige Teilhabeberatung ein (S. 145). Anhand einer gut verständlichen und fachlich fundierten Darstellung zeigt die Autorin welche Unterschiede zwischen einem klassischen und einem systemischen Case Management bestehen und welche systemischen Methoden und Techniken jeweils zum Einsatz kommen können. Weiter stellt sie die Grundlagen einer Systemischen Heilpädagogik vor, die „mehr ist und mehr sein muss als Systemische Therapie und Beratung“ (S. 149). Auch der Frage nach den Grenzen systemischer Ansätze in der Heilpädagogik widmet sie sich. Hier verweist die Autorin zum einen auf kontextbedingte Grenzen, wenn es zum Beispiel eher eines advokatorischen Begleitens und Beratens bedarf, zum anderen auf strukturelle Grenzen wie Finanzierungsprobleme. Auch auf Einschränkungen, die sich aus den sprachlichen und kognitiven Defiziten der Adressat*innen ergeben, geht sie ein.
Kapitel 7 stellt mit einem „Fazit und Ausblick“ das letzte Kapitel des Buches dar. Die Autorin plädiert dafür, eine systemische Heilpädagogik zu etablieren. Dabei betont sie, dass zunächst systemisch-heilpädagogische Haltungen eingeübt werden sollten, bevor in der Praxis auf dieser Basis gehandelt und Methoden umgesetzt werden. Nochmals erinnert sie daran, dass systemische Ansätze gut zu heilpädagogischen Aufträgen passen, da es in der Regel notwendig ist, das Umfeld mit seinen Netzwerken und Ressourcen miteinzubeziehen. Aus diesem Grund beendet die Autorin ihr Werk mit einem Blick in die Zukunft. Sie hofft, dass systemisches Arbeiten in der Heilpädagogik nicht nur institutionell, sondern auch hinsichtlich des strukturellen Rahmens und der finanziellen Ressourcen einen guten Platz finden wird.
Diskussion
Das Buch von Heidrun Kiessl beleuchtet einen Bereich, zu dem bislang eher wenig publiziert wurde und gerade die gut verständlichen Schaubilder, die die Autorin selbst erstellt hat (z.B. S. 10–12, 148), stellen in meinen Augen einen Teil des Schatzes dar, den dieses Buch in sich birgt.
Dem*der Lesenden wird schnell klar, dass Frau Kiessl eine Lehrende ist, die es schafft Theorie und Praxis, ausgehend von ihren persönlichen Erfahrungen als Heilpädagogin, gut verständlich und praxisorientiert zu verbinden. Zudem ist Frau Kiessl überaus belesen, was nicht nur zu einem umfangreichen und aktuellen Literaturverzeichnis mit vielen Anregungen zum Weiterlesen führt. Darüber hinaus ist sie hierdurch in der Lage, aktuelle – auch politische Entwicklungen – nicht nur zu benennen, sondern auch zu kontextualisieren und Zukunftsvisionen zu entwickeln (vgl. Kapitel 7).
Einen besonderen Reiz bieten die Praxisbeispiele, die das zuvor Beschriebene verdeutlichen und noch besser verständlich werden lassen.
Gerade deshalb ist es schade, dass die ersten Seiten der Einleitung vergleichsweise komplex formuliert sind und damit einen recht steilen Einstieg in das Thema darstellen. Schon auf der zweiten Seite der Einleitung werden Fachbegriffe vorausgesetzt, v.a. in den an und für sich sehr gelungenen Schaubildern, die leider zunächst nicht weiter erläutert werden.
Die oben als Bereicherung benannte Fülle bringt es mit sich, dass manche „Nebenschauplätze“ eröffnet werden, die etwas eigentümlich auf mich wirken. Sei es die Erklärung was laut Duden ein Ansatz ist (S. 13) oder im Absatz zur gendergerechten Schreibweise, dass trotz hauptsächlicher Verwendung der weiblichen Schreibweise „männliche oder Transgender-Heilpädagogen eingeschlossen“ (S. 19) sind. – Bezüglich letzterem hoffe ich sehr, dass auch Personen eingeschlossen sind, die sich weder als männlich, weiblich noch als trans betrachten.
Fazit
Das Buch „Systemische Ansätze in der Heilpädagogik“ von Heidrun Kiessl (2019) bietet eine Fülle von Informationen zu dem im Titel genannten Thema. Je nach persönlicher Ausgangs- und Interessenslage des*der Lesenden mag er*sie die gut verständliche Darstellung der theoretischen Grundlagen systemischen Arbeitens, v.a. in Kapitel 2, für sich besonders lesenswert finden. Oder der*die Lesende freut sich darüber, dass in Kapitel 5 Methoden so fundiert und detailliert erklärt werden, dass sie sofort in der Praxis umsetzbar sind. Vor allem für (studierende und angehende) Heilpädagog*innen dürften die Kapitel von Interesse sein, die Fragen zum Selbstverständnis des*der Heilpädagog*in und der Anschlussfähigkeit heilpädagogischen Handelns an systemisches Vorgehen erörtern.
Rezension von
Dipl. Soz.-Päd. Franziska Günauer
Diplom-Sozialpädagogin, Erziehungswissenschaftlerin (MA), berufstätig als Pädagogin auf der Station für Menschen mit geistiger Behinderung, Autismus und anderen Entwicklungsstörungen des ZfAE des kbo-Isar-Amper-Klinikums, Region München
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