Christian Lindmeier: Differenz, Inklusion, Nicht/Behinderung
Rezensiert von Dr. phil. Mai-Anh Boger, 24.06.2019

Christian Lindmeier: Differenz, Inklusion, Nicht/Behinderung. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 159 Seiten. ISBN 978-3-17-036082-2. D: 26,00 EUR, A: 26,70 EUR, CH: 31,20 sFr.
Thema
Kernthema und zugleich Hauptanliegen des schlanken und gut lesbaren Buches von Christian Lindmeier ist die Einführung differenztheoretischen Denkens in die sonder-/heilpädagogische Theoriebildung zum Thema Inklusion. Durch Theorieimporte aus der Philosophie der Differenz, der Migrationspädagogik und den post-kolonialen Studien sowie der Anerkennungstheorie soll eine reflexive Herangehensweise an eine ‚diversitätsbewusste Pädagogik‘ herausgearbeitet werden.
Aufbau
Das Buch lässt sich grob in zwei Hauptabschnitte unterteilen. Nach einer Einleitung werden in den Abschnitten 2–4 Theoriezugänge dargelegt, die laut Autor in der Sonder-/Heilpädagogik derzeit noch zu wenig rezipiert werden, um deren Wert für eine Theoriebildung zu Inklusion herauszuarbeiten. In der zweiten Hälfte des Buches (Abschnitte 5 - 7) geschieht sodann eine Anwendung dieser Theorien auf aktuelle Fragen der Dekategorisierung, der Vergabe von Förderschwerpunkten und der Frage nach dem Verhältnis der Begriffe ‚Inklusion‘ und ‚Bildungsgerechtigkeit‘.
Inhalt
Einleitend beschreibt Lindmeier zwei Positionen, die sich seines Erachtens in der Sonder- und Heilpädagogik derzeit gegenüberstehen:
- ein individualpädagogisches Verständnis von Förderpädagogik, das sich an den Einzelnen richtet und affirmativ mit dem Konstrukt des sonderpädagogischen Förderbedarfs umgeht, sowie
- ein gegen diesen affirmativen Umgang gerichtetes Verständnis von integrativer/inklusiver Pädagogik, das auf eine Dekategorisierung zielt.
Beiden attestiert er sodann ein „Reflexionsdefizit“, was sich vor allem in den individualistischen Verkürzungen durch mangelnde differenztheoretische Fundierung zeige – und dieses Reflexionsdefizit sei es, „das auch die Frontstellung zueinander begründet“ (S. 12). Der Autor hofft – auf Basis dieser Diagnose der Problemlage – dass eine Beschäftigung mit Theorien der Differenz, des Otherings und des Ableism, dieses Lagerdenken durchbrechen könne. Das Anliegen des Buches ist es also, zwei verhärtete Fronten in den Dialog zu bringen. Der Vektor des Buches ist synthetisch-dialogisierend; und so sind auch die folgenden Kapitel weniger auf Streit aus, denn vielmehr auf Theorieimporte, die in ebenjener Hoffnung geschehen, ein interdisziplinärer Dritter möge zwischen den zwei ‚Lagern‘ vermitteln.
So referiert der Autor im zweiten Abschnitt des Buches verschiedene Begriffe und Theorien der Differenz (Heidegger, Derrida, Lacan, Adorno, Lyotard und Luhmann), wobei dies zunächst nur sehr kursorisch geschieht. Dieses Kursorische lässt sich verstehen, wenn man das Buch eher als Einladung versteht, überhaupt ein differenztheoretisches Fundament in der Sonder-/Heilpädagogik zu etablieren, denn als kämpferischen Theorieentwurf. Paradigmen- und Schulenstreits innerhalb des Diskurses um Differenz treten hier in den Hintergrund zugunsten einer harmonisierenden Perspektive, welche die Bereicherung des differenztheoretischen Denkens insgesamt für die Heimatdisziplin des Autors betont.
Der dritte Abschnitt widmet sich sodann einer Relektüre der Anerkennungstheorie aus sonderpädagogischer Perspektive. Unter Auslassung der feministischen Quellen wird dabei attestiert, Annedore Prengels ‚Pädagogik der Vielfalt‘ sei „differenztheoretisch unterbestimmt“ (S. 34). Aus einer stärkeren Bezugnahme zu Theorien, die auf das Riskante und Brüchige der Anerkennung verweisen, erhofft sich der Autor eine erhöhte Sensibilität für Adressierungen in pädagogischen Praktiken.
Der vierte Abschnitt befasst sich mit dem Begriff des Othering und votiert stark dafür, dieses Konzept, das sowohl in der Migrationspädagogik als auch in den post-kolonialen Studien zum festen Kanon gehört, in der Sonder-/Heilpädagogik zu etablieren.
Im fünften Abschnitt widmet sich das Buch sodann dem Transfer des Othering-Konzeptes auf die Debatten um den sonderpädagogischen Förderbedarf. Man merkt deutlich, dass der Autor ab diesem fünften Kapitel wieder,Zuhause’ in seiner Stammdisziplin ist: Die Kritik an der Verwaltungskategorie ist klarsichtig und nimmt auch die Eigenbeteiligung der Sonderpädagogik an diesem fortlaufenden Othering in den Blick. Mehrfach betont der Autor in diesem Abschnitt, dass es sich beim Begriff des sonderpädagogischen Förderbedarfs nicht um einen wissenschaftlichen Begriff handele (S. 66) und führt sorgsam und gekonnt durch die Geschichte der (gescheiterten) Versuche, dies der Bildungspolitik zu kommunizieren (S. 67).
Fortgeführt wird dieser Impetus im sechsten Abschnitt, der sich der Forderung nach einer „diversitätsbewussten Pädagogik“ widmet. Dieser enthält die Vorbereitung des im siebten Abschnitt ausgeführten abwägenden, reflexiven Moments sowie eine klare Kante gegen das institutionell abgesicherte Othering durch zieldifferentes Unterrichten. Das abwägende Element lautet dabei:
- „Eine individuumszentrierte Förderpädagogik wird dadurch ebenso obsolet wie eine radikal individualisierende, dekategorisierende Pädagogik der Vielfalt. Demgegenüber ist eine machtkritische, diversitätsbewusste Pädagogik zu konzipieren, die sich mit den Ambivalenzen sozialer Differenzkonstruktionen kritisch auseinandersetzt“ (S. 82). Die klare Ansage dieses Kapitels lautet wie folgt: „Auf Basis der bisherigen Ausführungen ist daher zu empfehlen, von der Aufrechterhaltung der eigenständigen Bildungsgänge für die Förderschwerpunkte Lernen und geistige Entwicklung Abstand zu nehmen.“ (S. 96).
Das siebte Kapitel bildet m.E. den Höhepunkt des Buches. Einleitend bemängelt Lindmeier darin, dass der Begriff der Bildungsgerechtigkeit in sonderpädagogischen Kreisen zwar häufig als normative Leitkategorie aufgerufen werde, jedoch nur sehr selten ausdifferenziert und in seinem Gehalt hinterfragt. Sodann führt er drei Verständnisse von Bildungsgerechtigkeit (als Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit, als Teilhabe- und Befähigungsgerechtigkeit und als Anerkennungsgerechtigkeit/relationale Gerechtigkeit) aus und relationiert diese zur ‚Inklusivität‘, um zu einer Neurahmung von „Inklusivität als Gebot der Bildungsgerechtigkeit“ zu kommen.
Im Ausblick votiert der Autor im Widerhall auf seine Einleitung für ein reflexives Pendeln zwischen den beiden eingangs skizzierten Lagern, um so zu einer Figur der reflexiven (Ent-)Dramatisierung von Differenz zu gelangen, was bedeutet: er schließt sich dem mittlerweile in weiten Teilen der Pädagogik kanonisch gewordenen Votum für kontextsensibles Abwägen an. Abermals wird hier also das Ziel des Buches deutlich, eine Reflexionsfigur, die in den geschlechter- und migrationsbezogenen Pädagogiken längst etabliert ist, auch in der Sonder-/Heil-/Behindertenpädagogik einzuführen bzw. zu stärken.
Diskussion
Kritisch zu diskutieren wäre bezüglich des dritten Abschnitts die gewählte Theorienarration, die in Folge der Kritik an der ‚Pädagogik der Vielfalt‘ entfaltet wird. Lindmeier vergisst bei diesem Urteil die differenztheoretischen Schriften, die Annedore Prengel (damals) rezipierte (vorwiegend Irigaray, differenzfeministische Schriften italienischer Provenienz, etc.) und hat diese auch in seiner eigenen Darstellung von Differenztheorien ausgelassen (s.o.). So reduziert er Prengels Differenzdenken auf ihre Rezeption Lyotards (S. 35), welchen er selbst in seinem zweiten Kapitel einführt (S. 24). Das Unsichtbarmachen der feministischen Mütter des Denkens über Differenz führt so zu einer Suggestion eines Erkenntnisfortschritts durch eine ‚differenztheoretische Wende‘. Diese Sehnsucht nach einem Erkenntnisfortschritt zeigt sich auch in seiner Rezeption der Arbeiten von Budde bei gleichzeitiger Nicht-Rezeption der Arbeiten von Faulstich-Wieland. So verständlich dieser Wunsch nach einem Erkenntnisfortschritt auch sein mag, verführt er doch dazu, wichtige Vorarbeiten zu einem Denken der Differenz in der Pädagogik auszublenden.
Sowohl im zweiten als auch im vierten Abschnitt kommt es zu einer vergleichsweise unkritischen Rezeption der importierten Theorien: So wurden zum Beispiel die Kritiken am Konzept des Othering in der Darstellung weggelassen. Diese Entscheidung des Autors erscheint jedoch als sehr verständlich, wenn man diesen vierten Abschnitt vielmehr als eine erste Einladung versteht, sich überhaupt mit dem Begriff des ‚Othering‘ zu befassen. In diesem Sinne handelt es sich bei den Abschnitten 2–4 insgesamt um eine sehr geeignete und auch sehr gut lesbare Einführung für Sonder-/Heilpädagog_innen, die noch nicht zwischen verschiedenen Theorielinien argumentativ abwägt, aber doch hinreichend ist, um eine Intuition dazu zu entfalten, warum sich eine tiefergehende Beschäftigung sowohl mit differenztheoretischen Zugängen als auch mit migrationspädagogischen und post-kolonialen Studien in der Heil-/Sonderpädagogik lohnt.
Der Nachteil dieser kursorischen Rezeption wird jedoch in den darauffolgenden Kapiteln in der Anwendung der Konzepte auf sonderpädagogische Fragen bezahlt: So geht im fünften Abschnitt das spezifische Vokabular eines machtkritischen Othering-Konzeptes teilweise wieder verloren; Vielmehr findet hier eine,Rückübersetzung’ in das etablierte Vokabular der Sonderpädagogik statt. Eine dichtere Verkettung wäre hier vielleicht wünschenswert gewesen.
Auch im sechsten Abschnitt ist die Anwendung der Konzepte und Theorien migrationspädagogischer und post-kolonialer Provenienz noch sehr kursorisch und verirrt sich zuweilen in zu wenig differenzierten Wiedergaben: So heißt es zum Beispiel, das Narrativ, die Anderen* als „soziale und kulturelle Bereicherung“ zu betrachten, stehe „im Einklang mit der Othering-Perspektive und ihrem Bestreben, den Perspektiven und Stimmen von marginalisierten Anderen Gehör zu verschaffen“ (S. 87). Genau dies ist jedoch nicht der Fall. Viel eher hätte man hier zum Beispiel in den Quellen der im Buch viel zitierten Castro Varela das Konzept des strategischen Essentialismus nach Spivak heranziehen müssen: Das Erheben der anderen* Stimme reproduziert ebenso die durch das Othering aufgerufenen Kategorien. Es steht eben nicht im Einklang mit einer Kritik des Othering, sondern verweist auf die Ambivalenz des strategischen Einsatzes solcher Kategorien in Akten der Repräsentation marginalisierter Gruppen. Derartige Fehlrezeptionen hätten durch das Herausarbeiten der Unterschiede und durch eine Wiedergabe der internen Debatten innerhalb migrationspädagogischer und post-kolonialer Kreise verhindert werden können. Der Preis für die harmonisierende, einladende Wiedergabe der zu importierenden Theorien besteht in diesen Abkürzungen.
Auf die Elaboration der im siebten Abschnitt angerissenen Gedanken an anderer Stelle wird man gespannt sein dürfen. Doch auch hier ließe sich eine fehlende kritische Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Konzepten bemängeln, die im Buch vergessen wurden: Lindmeier arbeitet dabei mit dem Begriff ‚Inklusivität‘. Diese m.E. gewöhnungsbedürftige deutsche Übersetzung des Begriffs „inclusiveness“ nehme laut Autor den Platz der „Brüderlichkeit“ in der aufklärerischen Trias ein. Der Autor grenzt diesen Vorschlag jedoch nicht zu dem im deutschsprachigen Raum etablierteren Vorschlag ab, statt von ‚Brüderlichkeit‘ von ‚Solidarität‘ zu sprechen. Auch hier droht das Einführen von vielleicht nur scheinbar Neuem also zu einem Vergessen bzw. Unsichtbarmachen älterer, aber auch benachbarter Schriften – in diesem Fall jener zu einer solidarischen Pädagogik – zu führen. Zu diskutieren wäre meines Erachtens vielmehr das Verhältnis zwischen Entwürfen einer solidarischen Pädagogik und den Konzepten einer Inklusionspädagogik statt diese offensichtliche Verbindung durch Streichung des Solidaritätsbegriffs zu schwächen.
Fazit
Insgesamt ist es Lindmeier gelungen, eine bündige Einführung in differenztheoretisches Denken für ein sonder-/heilpädagogisches Publikum zu verfassen. Die flüssig lesbaren Kapitel eignen sich in diesem Sinne auch bestens für den Einsatz in Seminargruppen und werden auf diesem Wege sicherlich zu einer Etablierung differenztheoretischen Denkens in sonder-/heilpädagogischen Kreisen beitragen.
Für eine weitergehende Theorieentwicklung hätte man sich jedoch gewünscht, das siebte Kapitel, in dem der Autor schlussendlich seine eigenen theoriebildenden Gedanken darlegt, wäre ausführlicher geraten. So wird sich die Bedeutung differenztheoretischen Denkens im Fachdiskurs wohl erst zeigen, wenn sich an neuen Theorieentwürfen prüfen lässt, worin genau der Mehrwert dieses Theorieimportes besteht. Erst dann ließe sich z.B. auch vertiefend ergründen, ob die Abkehr vom Solidaritätsbegriff zu einem substantiell anderen Ergebnis führt oder ob hier nur eine Vokabel getauscht wurde. Insbesondere steht es noch aus, diese Überlegungen mit den Debatten um verschiedene in der Disziplin etablierte Behinderungsbegriffe zu verbinden: Was bedeutet ein solcher differenztheoretischer Einsatz konkret für den Begriff von Behinderung? Wie unterscheidet sich der im siebten Abschnitt grob skizzierte Entwurf von anderen dekonstruktiv inspirierten Theorieentwürfen – etwa aus ableismuskritischen Kreisen – wenn man ihn genauer ausführt?
Das Weglassen der internen Debatten zur Kritik am Konzept des Othering sowie das Fehlen einer Prüfung auf Kommensurabilität und einer darauf folgenden Abwägung zwischen den dargestellten differenztheoretischen Zugangsweisen bricht zuweilen den argumentativen Gang des Buches, verleiht dem Buch aber zugleich jenen Charakter einer gut lesbaren Einführung. Auf eine Fortsetzung, die einer konsequent durchgehaltenen Theoriebildung dient, würde man sich jedoch freuen, wenn einem die Theoriebildung in der Sonder-/Heilpädagogik am Herzen liegt, denn eines zeigt das Buch mit Sicherheit: Wenn man nicht in den im Inklusionsdiskurs allzu oft dominanten Modus der übereilten und oft auch nur halb-bewussten Politisierung verfällt, ist wieder Platz sowohl für reflexive Figuren als auch für Theorieentwürfe, die sich nicht auf die üblichen präskriptiven Phraseologismen beschränken.
Rezension von
Dr. phil. Mai-Anh Boger
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