Karlheinz Benke: Geographie(n) der Kinder. Von Räumen und Grenzen [...]
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Reutlinger, 28.06.2005
Karlheinz Benke: Geographie(n) der Kinder. Von Räumen und Grenzen (in) der Postmoderne.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung
(München) 2005.
428 Seiten.
ISBN 978-3-89975-506-0.
D: 39,90 EUR,
A: 41,30 EUR,
CH: 66,00 sFr.
Reihe: Forum Sozialwissenschaften - 2.
Hintergrund und Thema des Buches
"Die Wirklichkeit gibt es nicht; was es gibt sind individuelle Konstruktionen derselben. Womit der Begriff (von) Realität eben in der postmodernen Terminologie klar heterogen, pluralistisch bzw. different strukturiert und vielmehr als Pluralwort, nämlich: 'die Realitäten' aufzufassen ist" (S. I). Mit diesem Zitat legt der Autor gleich zu Beginn der "Geographie(n) der Kinder" seinen Zugang zum Thema fest: Nach postmoderner Tradition bzw. Denkfigur werden die Vielzahl von Kinderräumen bzw. deren vielseitige Wahrnehmung in den Vordergrund gerückt. (Wissenschaftliche) Zitate unterschiedlichster disziplinärer Sichtweisen stehen gleichberechtigt neben eigenen Gedanken und Alltagsquellen wie Gesprächen, persönlichen Aufzeichnungen von Kindern, sowie deren Bilder ihrer subjektiven Lebenswelten.
Im Zentrum des vorliegenden Buches steht die Perspektive der Kinder, die als handelnde Individuen ihre eigenen Kindheiten inszenieren und somit auch unterschiedlichste Kinderräume erschaffen und gestalten. Damit reiht sich das Buch in eine handlungszentrierte Tradition sozialgeographischer Forschung und Theoriebildung ein, welche die Geographien der Menschen zum Ausgangspunkt macht - d.h. dass hier ein Wandel von Geographie als Raumwissenschaft zur Geographie als Handlungswissenschaft vollzogen wird. Dem Autor geht es in seinem Buch um die Schaffung alternativer Denkräume für und über Kinder. Vielfach begreifen Erwachsene das Verhalten von Kindern nicht oder schätzen es falsch ein, "weil sie von Kindheitserfahrungen ausgehen, die mit den heutigen nichts mehr gemeinsam haben" (S. IX). Karheinz Benke wählt in Abgrenzung dazu eine Perspektive, die Kinder als Experten ihrer Lebenswelt betrachtet. Mit der vorliegenden Arbeit soll bei den Erwachsenen die Wahrnehmung hinsichtlich Kindergeographien sensibilisiert werden.
Der Autor
Karlheinz Benke, Dr., engagiert sich seit Jahren als Reformpädagoge und Erziehungshelfer im (außer)schulischen Bereich und setzt sich praktisch und theoretisch mit kinder- und jugendrelevanten Themen auseinander. Die Arbeit ist gleichzeitig als Dissertation am Institut für Geographie an der Universität Wien vorgelegt worden.
Aufbau und Inhalt
Auf 428 Seiten verfolgt der Autor das Ziel, "über eine Vielfalt differenter Zugänge ein theoretisches (Ge)Bild(e) von Kindergeographien zu zeichnen, das auch durchaus gegebene Horizonte - auch von Disziplinen - erweitert. Als gedankliche Andockhilfe zu vorliegender Arbeit dient ein - den postmodernen Gedanken adäquater - multidimensionaler, interdisziplinärer Ansatz, der Bezüge zu philosophisch-psychologischen, soziologisch-empirischen Grundverständnis herstellt" (S. V).
In den ersten Teilen werden die grundlegenden Begriffe Geographie, Räume, Kinder und Postmoderne geklärt und abgegrenzt. Einleitend stellt der Autor in "einer Skizze des gegenwärtigen Gesellschaftszustandes" den Rahmen kindlichen Handelns dar. Das kindliche Handeln wird im Wesentlichen über die Methode der (teilnehmenden) Beobachtung qualitativ erfasst, beschrieben und diskutiert. Benke folgt dazu folgenden Fragestellungen:
- Wie nehmen Kinder (ihre) Räume wahr?
- Wie verändern diese neuen Bedingungen der Postmoderne die kindliche Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster im Raum?
- Wie nützen sie diese bzw. welche Handlungsspielräume haben sie respektive: wie machen sich Veränderungen (in ihrem Aktionsraum) bemerkbar? (S. XIV)
Die Arbeit organisiert sich um 7 Kristallisationspunkte (bzw. strukturierende Linien). Hervorzuheben sind die 20, zum Teil sehr interessanten Abbildungen, die der Autor alle selbst entworfen hat und die einen guten Überblick über die bisherige interdisziplinäre Forschung zu Kindheit und Raum geben. In der vorliegenden Geographie(n) der Kinder werden diese sozialräumlichen Traditionen (die bis auf die Untersuchungen Marta Muchows 1930er Jahre in Hamburg zurückgehen) aufgearbeitet, mit eigenen Überlegungen und Forschungsergebnissen ergänzt und in postmoderner Weise präsentiert.
- Verschiedene Wirklichkeiten sind gleich gültig. Sprache, hier "verstanden als authentischer Text, unmittelbar aus 'Kinderhand'" wird nicht bloß Träger, sondern "Übermittler einer Wahrheit unter vielen" gesehen. Erster Kristallisationspunkt bildet damit das Gebiet "a. Geographie und Postmoderne". Pluralität und Differenz stehen im Mittelpunkt postmoderner Gedanken. Im Teil "a.3. Geographie und Räume" ist ein Exkurs zu Sozialraum und Lebenswelt zu finden. Hier gelingt es dem Autor an die aktuelle interdisziplinäre Sozialraumdiskussion anzuschließen, ohne diese jedoch zu rezitieren. Interessant sind die Überlegungen zu Raum und Räumen, indem eine Vielfältigkeit von Räumen und Räumlichkeiten zugelassen wird. Damit wird der aktuelle interdisziplinäre Raumdiskurs aufgenommen und konstruktiv weitergedacht.
- Im zweiten Kristallisationspunkt "b. Gesellschafts-Skizzen (in) der Postmoderne" werden die Familie(n) als "engste Gesellschaftsräume" dargestellt, sowie einen Exkurs zum Thema Zeit unternommen. In diesem Teil ist auch die Grundthese des Buches zu finden: "Wenngleich es einerseits den Kindern materiell noch nie so gut ging, wird ihnen andererseits Bewegungs- und Spielraum sukzessive entzogen oder diesen zumindest komprimiert. Als Ersatz für diesen FreiRaum-Schwund bietet ihnen die Gesellschaft der Erwachsenen kompensativ Handlungen in virtuellen Räumen an, welche dergestalt als Substitutionsräume begriffen werden können" (S. 26). Postmodern gedachte (d.h. am Subjekt orientierte wie pluralistische) 'Geographien der Kinder' haben "ihren Räumen und Grenzen exakt auf zwei Betrachtungsachsen nachzuspüren: einerseits entlang einem quasi 'entwicklungsphysiologisch-biographischen Längsschnitt' (Kristallisationspunkt c.) und andererseits entlang einem quasi 'geographischen Querschnitt' (Kristallisationspunkt d.), der über die Vielzahl genutzter Räume aufklärt" (S. 47).
- Der dritte Kristallisationspunkt "c. Geographie(n) der KinderRäume" versammelt deshalb - quasi im Längsschnitt, der die Entwicklung des kindlichen Subjekts symbolisiert - beispielsweise Bewegungs- und Handlungsräume, Geographische ZeitRäume, interessante Darstellungen von Säuglings-, KleinkindRäume, frühe, mittlere und späte Kindheitsräume, sowie Geographien des Spiels oder behinderte Geographien. Dieser Teil endet mit Überlegungen zu äußeren LebensRäumen und Innerem Raum. Besonders gewinnbringend wird hier die Überlegung zu den Räumen der allerkleinsten gesehen - dieser Zweig wird meistens getrennt von der räumlichen Entwicklung von Kindern ab 2 Jahren diskutiert.
- Vierter Kristallisationspunkt "d. real-konkrete Räume: Familie, Schule, Freizeit" gibt entsprechend des Querschnitts der kindlichen Wahrnehmungsräume Einblicke in familiale Räume, Kinderzimmer, (Vor-)Schulräume, öffentliche Räume, FreiZeitRäume, pädagogisierte Räume und vieles mehr.
- Virtueller Raum wird als Quasi-Ersatz für den verloren gehenden realen Raum gesehen: Diese Hauptthese bildet den Ausgangspunkt des fünften Kristallisationspunktens. Virtuelle Räume sind ohne real-konkrete Räume nicht denkbar. "Ihre Ähnlichkeit liegt darin, dass beide zunächst den kindlichen Handlungskontexten über die 'spielerische' Ebene dienen. Erst mit zunehmendem Alter wird die virtuelle Realität zur Kommunikation bzw. Interaktion genützt" (S. 318). Im Zentrum virtueller Räume stehen hauptsächlich Überlegungen zum Cyberspace, zum Internet sowie neuer Medien (wie Handy).
- Um den sechsten Kristallisationspunkt herum liegen irreal-fiktive Räume, die Ängsten oder Wünschen entspringen. Diese bilden stets den Hintergrund von Wahrnehmungen und Handlungen. Deshalb sind diese inneren Räume für die Heranwachsenden eine große Wichtigkeit und erhalten im vorliegenden Buch einen Sonderraum. "Im Gegensatz zu den bislang beschriebenen Raumtypen, welche beide aus der Perspektive des Subjekts real-konkrete Außenräume sind, ist der irreal-fiktive Raum nicht physisch begreifbar, wenngleich er wie der virtuelle Raum auch Physisches nachgerade voraussetzt. Er symbolisiert - und das ist kein Paradox - obwohl er keines Platzes bedarf, als Staathalter der Psyche quasi den Innenraum des Kindes" (S. 375).
- Zum Schluss werden im eigens entworfenen 'G/K-Modell' die Folgen der postmodernen zeit-räumlichen Komprimierung dargestellt: eine Störung der Ich-Struktur als Ausdruck von Beziehungslosigkeit gegenüber dem Selbst bzw. der sozialräumlichen Umgebung aufgrund abnehmender Primärerfahrungen (postmoderne Räume kontra Naturräume).
Abgerundet wird das Buch durch Schlussformulierungen und Gedanken, damit Kinder nach dem Prinzip der Selbstbestimmung 'ihren Raum' und 'ihre Zeit' auch wirklich leben könne(t)n: Dazu werden die Gedanken der Postmoderne mit den Botschaften der Reformpädagogen verbunden: "Beiden ist schlussendlich über unterschiedliche Ansäte inhärent, jene Kompetenten im Denken (z.B. Empathie) und Handeln (z.B. Toleranz) der Kinder zu fördern, die sie benötigen, um selbstbestimmt sozial-räumliche Beziehungen gestalten zu können (S. 403).
Zielgruppen
Neben sozialgeographisch interessierten Leser/innen richtet sich das Buch auch an Studierende und Sozial Arbeitende, die vermehrt mit dem Thema Sozialraumorientierung konfrontiert werden. Das Buch ist nicht nur auf theoretischer Ebene eine Erweiterung der Gedanken, sondern auch für die Praxis eine Fundgrube für manche wichtige Anregungen für den Arbeitsalltag.
Fazit
Die Geographie der Kinder bildet bislang in der deutschsprachigen geographischen Forschung einen blinden Flecken. Während die anglo-amerikanische Diskussion zur 'childrens geography' und den Geographien der Kinder seit Jahren boomt, gibt es hierzulande aus (sozial)geographischer Perspektive praktisch keine empirische Forschung, noch eine darauf bezogenen Theoriebildung. Dies wird einem auch im vorliegenden Band bewusst, indem es Karlheinz Benke gelingt, den aktuellen interdisziplinären Forschungsstand aus sozialgeographischer Perspektive aufzuarbeiten. Damit ist eine wichtige Basis für eine Sozialgeographie der Kinder gelegt, auf die weiterführende Projekte und Forschungen anknüpfen können. Das Buch ist in diesem Sinn für die Geographie wichtig.
Insbesondere die hier aufgemachte Vielfalt an Räumen und Räumlichkeiten zeigen auf, dass die Geographien der Kinder komplex und vielschichtig sind. Die Darstellung dieser Vielfalt wird gerade durch den postmodernen Zugang sehr eindrücklich. Ob jedoch das Resultat, dass Kinder "zu früh sozialisationsbedingt zu viele Erfahrungen machen, ohne dass sie den notwendigen Raum und Zeit für ihre individuellen Entfaltungen haben" (S. 400) gerade mit dem gewählten Zugang zu tun haben, wäre die Basis einer weiterführenden Diskussion. In diesem Zusammenhang könnten vertiefte Auseinandersetzungen mit Raumkonzepten der Reformpädagogik, aber auch andere (d.h. nicht postmoderne) Zugänge zum Thema durchaus andere z.T. gegenteilige Schlüsse zu lassen. In vielen Punkten kann man auch auf andere Folgerungen wie der Autor kommen - Ein Buch das viel Stoff beinhaltet und zum Denken und Diskutieren anregt!
Rezension von
Prof. Dr. Christian Reutlinger
Professor für Stadt und Gesundheit am Institut für Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung (ISOS) und am Institut für Soziale Arbeit und Gesundheit (ISAGE) an der Fachhochschule Nordwestschweiz.
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Es gibt 24 Rezensionen von Christian Reutlinger.
Zitiervorschlag
Christian Reutlinger. Rezension vom 28.06.2005 zu:
Karlheinz Benke: Geographie(n) der Kinder. Von Räumen und Grenzen (in) der Postmoderne. Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung
(München) 2005.
ISBN 978-3-89975-506-0.
Reihe: Forum Sozialwissenschaften - 2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2566.php, Datum des Zugriffs 09.12.2024.
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