Andreas Steiner: Die Kunst der Familienaufstellung
Rezensiert von Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann, 24.09.2020
Andreas Steiner: Die Kunst der Familienaufstellung. Ein Praxislehrbuch der Empirischen Psychotherapie. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 420 Seiten. ISBN 978-3-17-035821-8. 49,00 EUR.
Thema
Fachlich Bewanderte denken bei Familienaufstellung unweigerlich an den Namen Hellinger, sehen diesen als Schöpfer und vergöttern ihn oder betrachten die Art und Weise seiner Herangehensweisen kritisch. Zugleich fehlt bisher eine empirische Fundierung dieser Praxis. Es ist demnach wenig nachvollziehbar, was und wie etwas wirkt. Mitunter wirken Familienaufstellungen, für Beobachtende, sehr willkürlich, unerklärlich oder auch wie Zauberei, sodass ein spannendes Thema vom Autor, Andreas Steiner, aufgegriffen und hoffentlich zu den Hintergründen, etwas erhellt wird.
Autorin
Andreas Steiner ist Diplom-Psychologe, Magister Artium (Musikwissenschaft, Theater, Film- und Fernsehwissenschaft), Karikaturist, bildender Künstler, Schriftsteller und Musiker. Gleichzeitig arbeitet er als Psychotherapeut in einer eigenen Praxis mit den Schwerpunkten Verhaltenstherapie, Hypnotherapie, Systemische Therapie, Transaktionsanalyse und Primärtherapie. Am INeKo-Institut an der Universität zu Köln lehrt er als Dozent für systemisch orientierte Hypnotherapie.
Entstehungshintergrund
Basierend auf jahrelangen Erfahrungen hat der Autor einen eigenen Therapieansatz, die empirische Psychotherapie, entwickelt. Der Ursprung des Wortes ‚Empirie‘ geht auf die altgriechische Bedeutung ‚Erfahrung‘, ‚Erleben‘ zurück und ist, nach Auffassung des Autors, mit keinem psychotherapeutischen Verfahren so verbunden, wie mit der systemischen Aufstellungsarbeit, die auf Erleben und Erfahren beruht. Gleichzeitig sei das Verfahren wissenschaftlich aufschlüssel- und begründbar und mündet in die abschließende Intention, diese Möglichkeit, mit diesem Buch aufzuzeigen und sich gleichzeitig, kritisch würdigend von Hellinger abzugrenzen.
Aufbau
Die Publikation untergliedert sich in Vorwort, Vorbemerkung, eine Einleitung und elf Hauptkapitel. Jedes der elf Hauptkapitel ist dann noch einmal in zwei bis zehn Unterkapitel unterteilt.
Inhalte
Vorwort und Vorbemerkung
Das Vorwort beinhaltet die Würdigung der Publikation und des Autors durch Jeffrey K. Zeig. In der Vorbemerkung formuliert Steiner den Entstehungshintergrund, Anliegen und Intention für die Publikation. Auf keinen Fall möchte der Autor, mit dem Buch, die praktische Ausbildung ersetzen. Vielmehr ist es ihm wichtig eine Orientierung zu vermitteln, quasi wie ein ‚Reiseführer.‘
In der Einleitung geht es zunächst um die Entstehungsgeschichte des Familienstellens nach Hellinger. Dabei unterstützen Steiners Karikaturen bereits die anklingende Kritik an Hellingers Praxis. Anliegen und Soll fokussieren hier noch einmal auf die Nachvollziehbarkeit und Überprüfbarkeit des systemischen Familienstellens, wobei dieses Verfahren als anspruchsvolle und mächtige therapeutische Technik, erfahrener Therapeuten nahe gebracht werden soll.
Im Kapitel ‚Entstehungsgeschichte des Familienstellens', werden zunächst Begriff, Bedeutung und Vermögen der Familienaufstellung erörtert, bevor sich Steiner den verschiedenen, an der Entstehung beteiligten Schulen und Pionieren, chronologisch zuwendet. Dabei werden, beginnend von Freuds Psychoanalyse über die Vertreter der Verhaltenstherapie, die kognitive Therapie von Beck und Ellis, den humanistisch-psychologischen Ansatz nach Rogers, die Auffassungen nach Erickson und Haley, die Transaktionsanalyse von Bernes über die Primärtherapie Janovsbis zu den ersten Vertretern der System- bzw. Familientherapie, wie Minuchin u.a. geschlagen und kritisch auseinandergesetzt und nützliche sowie ständig weiter entwickelte Aspekte für das spätere Familienstellen erkundet. Das Kapitel schließt ab mit der Überleitung zu Hellingers Ansatz, der hier die Pionierleistungen aufgegriffen und zu den heute bekannten Familienaufstellungen weiter entwickelt hat. In einem Schaubild werden diese Einflüsse visualisiert.
Es geht in diesem Kapitel ‚Hintergrund' um die Einführung in jene psychodynamischen Aspekte, die in Familiensystemen grundlegend sind. Dabei wird gezeigt, welche Funktion Systeme und ihre Mitglieder für das Überleben haben. Anhand eines Beispiels werden dann die Bedeutung von ‚Sippe‘ und Familie hinsichtlich des Transfers von Geschichten, über Generationen hinweg, erläutert. Einflüsse von Kultur und Religion auf Erfahrungen und Werte werden am Beispiel, für dynamische Zusammenhänge, innerhalb eines Familiensystems dargestellt. Die daraus ableitbaren kindlichen Lebensmotive, wie Zugehörigkeit und Identität, Wiederholung und Reproduktion sowie der Ausgleich, mit Heilung, Sühne und Vollständigkeit werden am Beispiel der Familie der Kennedys nachvollzogen.
Anliegen des vierten Kapitels ist die Hinwendung zu Lösungen, zunächst in der Metaebene und bezogen auf die Frage, worauf Lösungen sich beziehen sollen und wer daran beteiligt sein soll. Dann werden die natürlichen Gegebenheiten bzw. Ordnungen und ‚Unordnungen‘ einer erfolgreichen Therapie, die der Wiederherstellung der Ordnung dient, gegenübergestellt. Bei diesem ‚Reset‘ werden anhand von Beispielen, die Bedeutung von Aussöhnung, Demut und Dankbarkeit diskutiert.
Im Kapitel ‚Die narrative Intervention', wird die Rolle und Bedeutung des Narrativen als therapeutische Intervention und in der Aufstellungsarbeit erörtert. Anhand von Beispielen stellt der Autor hierbei fünf Formen vor, den Bericht, Roman/Novelle/Erzählung, Drama und Film, das Gedicht/Gebet und systemische Geschichten.
Skript-Diagnostik wird im sechsten Kapitel als vom Klienten ausgehende und vor der Exploration der Lebens- und Familiengeschichte stattfindende ‚Erzählung’, zunächst in ihrer Bedeutung, ihren Vorteilen für Therapeut und Klient und in ihrer Zielstellung erläutert. Die in drei Phasen ablaufende Diagnostik – Instruktion, Auseinandersetzung und Auswertung – wird dabei auf drei Lebensphasen des Klienten bezogen, nämlich auf die Kindheit, die Pubertät und die letzten 5 Lebensjahre. Über Geschichten, Märchen etc. sollen mögliche problematische und bereits in der Kindheit angelegte Skripte erkennbar werden, Steiner beschreibt hierbei mögliche, durch den Klienten nutzbare Narrationsformen und bietet entsprechende Deutungen von Geschichten, Märchen etc. beispielhaft an.
Mit dem kreativen Interview wird im siebten Kapitel nun in die Exploration der Familiengeschichte eingeführt. Dazu werden die systematische Befragung und das Genogramm, als entsprechende Methoden vorgestellt und mithilfe eines Fallbeispiels vertieft. Zunächst werden dabei Indikation, Ausschlusskriterien und Grenzen dieser Vorgehensweisen beleuchtet, bevor inhaltliche Aspekte angesprochen und in ihren Grundprinzipien behandelt werden. Fokussiert wird demnach auf das aktuelle und das Ursprungssystem.
Für das Ursprungssystem sind dabei besonders zu beachtende Aspekte:
- die Geschwisterreihe,
- Vater und Mutter,
- Familiengeheimnisse,
- Schmerz und Trauer,
- Schuld und Scham im Zusammenhang mit Tätern und Selbstmördern,
- Verdrehungen,
- Helden,
- Kavalieren,
- Opfern,
- Sündenböcken,
- Schicksalsbindungen mit Rettern und
- Leidensgefährten und
- ausgeschlossenen Personen.
Mit dem achten Kapitel ‚Die Aufstellung' zeigt Steiner die Chronologie der Vorgehensweise. Er beginnt zunächst mit dem Setting und verweist damit auf für die Aufstellung günstigen Rahmenbedingungen wie; Raum und Umgebung, Teilnehmerzahl, Therapeutenteam und Assistenten und den zeitlichen Rahmen, bevor er sich ausführlich der Vorgehensweise widmet. Schritt für Schritt werden dann, anhand eines Fallbeispiels, die einzelnen Vorgehensweisen; Bereitschaftsabklärung, Auswahl der Stellvertreter, das Aufstellen, die Befragung, die Phänomenologie, die Erweiterung, Dramaturgie, das Einwechseln – mit seinen Unterschritten – und der Nacharbeit, nachvollzogen. Das Kapital schließt mit einem, auf einer Seite dargestellten Schaubild ab, wo diese Schritte kurz visualisiert werden.
Das neunte und umfangreichste Kapitel der Publikation ist mit Krankheitsbilder überschrieben. Steiner beginnt zunächst mit einer kritischen Replik auf die medizinische Deutung von ‚krank und gesund‘ und deren Konsequenzen und setzt sie in Bezug zu den Auffassungen der Psychotherapie, vor allem der systemischen. In den sich anschließenden Unterkapiteln werden verschiedene Krankheitsbilder, in etwa der gleichen Struktur folgend, vorgestellt und in Bezug zur Aufstellungsarbeit gebracht. So steht am Anfang eine Darstellung der Störung, ihre Symptome und wie sie auf die Person und ein System wirken. Anschließend folgt die Betrachtung dahinter liegender Familien-Dynamiken, woraus Kernpunkte einer therapeutischen Intervention abgeleitet werden. Anhand von jeweils 1 – 2 Fallbeispielen werden dann Möglichkeiten der Exploration, mittels Genogramm, Hypothesenbildung und Aufstellungsmöglichkeiten gezeigt. Es handelt sich dabei um die Auseinandersetzung mit folgenden Krankheitsbildern; Depression, Angststörung, Zwang, Schizophrenie, hier synonym mit Psychose, Persönlichkeitsstörungen mit histrionischen Persönlichkeiten und Borderline-Persönlichkeitsstörung, weitere Störungsbilder mit; Paranoia, körperlichen Erkrankungen, Essstörungen, Autismus, Süchten, sexuellen Störungen, Epilepsie, Psychosomatosen, Konversionsstörungen/dissoziativen Störungen, Paraphilien, gefolgt von schwierigen Fällen mit Gewalt, sexuellem Missbrauch in der Familie, Inzest, Leere, Überflutung, ‚schöner Schein‘ und mit Mördern. Gerade für die weiteren Störungsbilder und schwierigen Fälle, werden am Ende des Kapitels die Fälle nicht im Einzelnen ausführlich dargestellt, sondern in einem Überblick über mögliche Lösungsansätze tabellarisch zusammengefasst. In den ausführlichen Falldarstellungen veranschaulicht Steiner die Aufstellungen und die Exploration, mittels Genogramm, durch entsprechende Schaubilder.
Das vorletzte Kapitel widmet sich ganz dem Verlauf und der Konzeption von Workshops. Es enthält die Vorgehensweisen an den verschiedenen Tagen des Workshops und schließt mit Ergänzungen zu Trancen, Ritualen, gespeicherten Wünschen und Komplimenten ab.
Im elften Kapitel geht es um Fallstricke und Irrwege, also all jene Dinge, die während des Familienstellens gründlich schieflaufen können. Dazu gehören: das Erschaffen falscher Wirklichkeiten, epische Ausweitungen, eine fehlende Linie, Nebelhaftigkeit, apodiktisches Dirigieren, Dysfunktionale Bündnisse, egozentrisches Ausblenden und Mogelpackungen.
Das zwölfte und letzte Kapitel der Publikation stellt das Erlernen der Aufstellungsarbeit in den Mittelpunkt und knüpft dies an vier wichtige Bedingungen; Wissen, Beobachten, Einüben und Erfahrung.
Fazit
Die vorliegende Publikation verdeutlicht, gut strukturiert, die Intensivität und Effektivität der Therapiemethode; Familienaufstellung und gibt lebendige Einblicke in Familiendynamiken. Dabei wird ein Bogen von den Entstehungshintergründen bis zur Durchführung geschlagen, die auch für weniger bewanderte Interessent*innen gut nachvollziehbar und verständlich sind. Sowohl kritische Auseinandersetzungen als auch der praktische Bezug, anhand von Fallbeispielen, sind in der Publikation durchgängig. Ebenso durchgängig konsequent und kreativ sowie die Veranschaulichung unterstützend, setzt der Autor eigens erstellte Karikaturen ein. Das macht die Publikation besonders wertvoll und zeigt, dass ein hoch komplexes Thema, in seiner geschichtlichen Entwicklung und theoretischen Fundierung, alles andere als trocken, näher gebracht werden kann.
Mit dieser Publikation liegt somit eine gut les- und anschaubare Lektüre, für Interessierte und (werdendes) Fachpublikum vor.
Rezension von
Dr. phil. Oda Baldauf-Himmelmann
Ausgebildete systemische Therapeutin / Familientherapeutin, Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin und Kulturwissenschaftlerin. Arbeitet als Akademische MA an der Brandenburgisch-Technischen Universität Cottbus/Senftenberg (BTU CS)
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Zitiervorschlag
Oda Baldauf-Himmelmann. Rezension vom 24.09.2020 zu:
Andreas Steiner: Die Kunst der Familienaufstellung. Ein Praxislehrbuch der Empirischen Psychotherapie. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2019.
ISBN 978-3-17-035821-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25673.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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