Timo Storck: Das dynamisch Unbewusste
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 07.02.2020
Timo Storck: Das dynamisch Unbewusste. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2019. 188 Seiten. ISBN 978-3-17-036000-6. 29,00 EUR.
Auf der Suche nach dem Bauchgefühl?
Es ist das Intuitive, das vielfach als Unbewusstes unser Denken und Handeln bestimmt, auf Risiken reagiert (vgl. z.B. dazu: Gerd Gigerenzer, Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15271.php), oder Meinungen schafft und bestimmt (Tali Sharot, Die Meinung der Anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php). Es sind lebensbestimmende, -rettende, -helfende Lebenskräfte, aber auch lebenszerstörende, -behindernde, -irritierende Situationen, die das Denken der Menschen herausfordern (vgl. auch: Hans-Peter Waldhoff, Eros und Thanatos. Psychoanalytische und erkenntniskritische Perspektiven, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23350.php).
Entstehungshintergrund und Autor
In diesem existentiellen Prozess der Lebensfindung und -bewältigung haben die psychologischen, philosophischen und anthropologischen Vorgänge des verstandesbewussten, analytischen, humanen Denkens und Handelns ihren Stellenwert. Kognition und Emotion sind dabei die Anker des bewussten und unbewussten Seins der Menschen. Während sich das kognitiv Bewusste gewissermaßen auf den Präsentierteller der Conditio Humana zeigt und das individuelle und kollektive Denken der Menschen abbildet, repräsentiert das dynamisch Unbewusste die intuitive Kraft des Unbestimmten, nicht direkt wahrgenommenen, emotionalen und nicht selten zufälligen Soseins (vgl. in diesem Zusammenhang auch: Christian Bachhiesl, u.a., Hg., Zufall und Wissenschaft. Interdisziplinäre Perspektiven, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26177.php). Auf dieses Feld des Unbestimmten hat Sigmund Freud mit seinen Warnungen vor negativer, bedrohlicher Kraft hingewiesen. In der reflexiven, praxisbezogenen Psychoanalyse gewinnt das dynamisch Unbewusste an Bedeutung dadurch, dass das sich in Störungs- und Krankheitsbildern darstellende Unbewusste nicht durch Abwehr erkannt und bearbeitet, sondern als Chance der Auseinandersetzung mit dem Ich verstanden werden kann.
Der klinische Psychologe und Psychotherapeut von der Psychologischen Hochschule in Berlin, Timo Storck, legt mit der Publikationsreihe „Grundelemente psychodynamischen Denkens“ Mitschriften aus seinen wissenschaftlichen Vorlesungen im Wintersemester 2017/18 vor. Dabei geht es ihm nicht darum, den Freud-Rezeptionen weitere hinzuzufügen, sondern „mit Freud gegen Freud“ zu denken. Er thematisiert die traditionellen und aktuellen psychodynamischen Konzepte, unterzieht ihnen eine konzeptionelle Kritik, bezieht ihre Wirkungen in die klinische Praxis ein und vermittelt einen wissenschaftlichen Transfer. Es ist die Erkenntnis, dass das Denken selbstreflexiv ist: „Das Denken über Psychodynamik ist unweigerlich selbst psychodynamisch“. Die in der Publikationsreihe platzierten Texte werden (vorerst) in fünf Themenbereichen vorgelegt: Bd. 1, Trieb (2018); Bd. 2, Sexualität und Konflikt (2018); Bd. 4, Objekte, und Bd. 5, Übertragung (in Vorbereitung).
Inhalt
Das Buch wird, neben der Einleitung und dem Ausblick, in weitere fünf Kapitel gegliedert: „Freuds Ausgangspunkt auf dem Weg zum psychoanalytischen Unbewussten“ – „Das Unbewusste in Freuds Modellen der Seele“ – „Entwicklungspsychologie und Variationen des dynamisch Unbewussten“ – „Das Unbewusste in psychoanalytischen Behandlungen und in der Gesellschaft“ – „Das Unbewusste interdisziplinär“. Die Essenz dieser Rundschau fasst der Autor in neun Thesen zusammen, die gewissermaßen Standort und Perspektive des an Freud orientiertem dynamisch unbewusstem Denkens und Wirkens charakterisieren:
- Das Freudsche Unbewusste, als Teil des Psychischen, wirkte zu seiner Zeit radikaler als im heutigen Bewusstsein.
- In seiner Psychoanalyse stellt das dynamisch Unbewusste als psychisches Konfliktpotenzial dar und zeigt sich in den topischen Modellen.
- Entwicklungspsychologisch wirken Bewusstes und Unbewusstes „gleichursprünglich“.
- Im Verhältnis des Unbewussten zur psychischen Formgebung kommt es darauf an, „erlebbare Formen für etwas zu finden, was dem (bewussten) Erleben bislang (so) nicht zugänglich gewesen ist“.
- Die psychoanalytische Theorie des Unbewussten stellt sich als Theorie des Denkens und Bewusstseins dar.
- Es gilt, das „kranke Unbewusste“ freizulegen.
- In der psychoanalytischen Behandlung kommt es darauf an, über die analytische Beziehung Zugang zum Unbewussten zu finden.
- Wenn „gesellschaftlich Unbewusstes“ thematisiert wird, muss der Blick auf die individuellen Befindlichkeiten und Zustände gerichtet werden.
- Öffentlich gemachte außerklinische analytische Analysen bedürfen der (interdisziplinären) Validitätsprüfung.
Fazit
Der Versuch, mit Freud über Freud hinaus und weiter zu denken, wirkt in dem Bewusstsein, dass Bewusstes und Unbewusstes keine Gegensätze sondern Komplementäre sind, selbstverständlich; weil Denken immer Bewegung und Veränderung ist. Deshalb sind Fragen wie – „Warum gibt es Unbewusstes?“ – legitim und herausfordernd. Ebenso die Frage: „Wie soll Unbewusstes erkannt werden?“. Eine Antwort lautet: „Unbewusst ist etwas an einer Vorstellung, etwas am Bewussten… (und muss) in Relation zu einer individuellen Entwicklungsgeschichte betrachtet werden und in Relation zur Sprache“ stehen. In Fallbeispielen werden die klinischen Behandlungen mit dem Unbewussten erkennbar.
Die Umschau über die historischen und aktuellen, psychoanalytischen Konzepte, Denk- und Handlungsprozesse zu Fragen des dynamisch Unbewussten vermittelt einen breiten Überblick über die disziplinären und interdisziplinären, wissenschaftlichen Arbeiten. Es sind Reflexionen über gelingendes und misslingendes psychoanalytisches, professionelles Denken und Handeln, und es sind Ausblicke über notwendige, kooperative und integrative Entwicklungen, nicht zuletzt aufgrund von anthropologischen, neurobiologischen…, individuellen und lokal- und globalgesellschaftlichen Verläufen.
Der Band „Das dynamisch Unbewusste“, wie auch die in der Publikationsreihe „Grundelemente psychodynamischen Denkens“ präsentierten Themen, bieten für Studierende der Psychologie, der Sozial- und Kulturwissenschaften und der Pädagogik grundlegende und weiterführende Einblicke. Die Bände können sowohl als Lehr-, als auch Fortbildungsbücher benutzt werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 07.02.2020 zu:
Timo Storck: Das dynamisch Unbewusste. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2019.
ISBN 978-3-17-036000-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25677.php, Datum des Zugriffs 07.10.2024.
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