Heidi Keller: Mythos Bindungstheorie
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 03.09.2019
Heidi Keller: Mythos Bindungstheorie. Konzept · Methode · Bilanz. verlag das netz GmbH (Kiliansroda) 2019. 176 Seiten. ISBN 978-3-86892-159-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Autorin
Heidi Keller ist emeritierte Professorin für Entwicklungspsychologie der Universität Osnabrück. Als Co-Direktorin leitet sie aktuell das Nevet Institut an der Hebrew Universität in Jerusalem. Ihr großes Forschungsthema ist die kulturvergleichede Entwicklungspsychologie. Dazu hat sie Felduntersuchungen in mehreren Ländern unternommen und zahlreiche Beiträge veröffentlicht. Sie ist unter anderem Mitherausgeberin von ‚Different Faces of Attachment: Cultural Variations on a Universal Human Need‘ (2014), ‚The Cultural Nature of Attachment‘ (2017) und des ‚Handbuch der Kleinkindforschung‘ (4. Aufl. 2011).
Inhalt
In der Vorbemerkung berichtet Keller von ihrer frühen Beschäftigung mit der Bindungstheorie. Schon damals habe die Theorie mit ihren unklaren Konzepten sie nur wenig überzeugen können und die berühmte Fremde Situation habe sie schon immer als unethisch empfunden. Ihre Laufbahn führte sie dann in die kulturvergleichende Entwicklungspsychologie mit vielen Feldstudien jenseits von Europa. Mit dem Buch möchte sie ein Gegengewicht zu der Fülle an zu unkritischen Veröffentlichungen zur Bindungstheorie setzen. Ihr Credo ist: Die „Herausforderungen einer multikulturellen Gesellschaft können schlichtweg nicht mit einer einzigen Doktrin gemeistert werden“ (p.10). Dem entspricht sie auch mit einem pluralistischen Methodenansatz.
Kapitel 1 - Einführung reflektiert die Verbreitung der Bindungstheorie. Von den Arbeiten von Bowlby in den 1950er Jahren an verlief die Rezeption der Theorie zunächst eher schleppend und durchaus kritisch. Erst um 2000 herum setzte eine starke Rezeptionswelle ein, die vielleicht eher wissenssoziologisch zu erklären ist. Sie führte auch dazu, dass die Theorie in der frühpädagogischen Praxis eine geradezu universale Gültigkeit erlangt hat. Ziel des Buches sei es vor allem, die engagierte Praxis von den Anforderungen einer „unkritischen Reflexion der Bindungstheorie“ (19) zu entlasten.
Kapitel 2 - Die Anfänge der Bindungstheorie referiert die Standardtheorie von Bowlby und geht auch kurz auf die persönlichen Hintergründe Bowlbys ein. Der innovative Charakter dieser interpersonalen Theorie in einer Zeit der Dominanz von intrapersonalen Theorien und die originelle Rezeption der Ethologie werden gewürdigt.
Die Fortführung der Theorie durch Ainsworth erfolgte dann mit der Ausarbeitung des Sensitivitätskonzeptes und der Bindungs-Explorations-Balance. Das Verdienst von Ainsworth sieht Keller in der Methodik der Feldforschung mit der Kombination von Beobachtung und Interview (25), die sie in ihrer ersten Untersuchung in Uganda und dann in ihrer berühmten Baltimore-Studie angewandt hat. Der Zusammenhang von mütterlicher Sensitivität und den in der Fremden Situation diagnostizierten Bindungsmustern ist seither ein Kernbestandteil der Bindungstheorie. An fundamentalen Einwänden zur Baltimore-Studie nennt Keller die geringe Zahl der 26 untersuchten, überwiegend europastämmigen Familien; die schwachen Zusammenhänge zwischen Sensitivität und Bindungsmuster; auch das ideologische Interesse, das ein traditionelles Rollenbild für die Mutter festigt. Hinzu kommen kritische Befunde zur methodischen Arbeit von Ainsworth und die Ergebnisse von nachfolgenden Untersuchungen in einzelnen Ländern, die andere Verteilungen von sicher und unsicher gebundenen Kindern erbrachten, die aber nicht als Ausgang für eine kulturvergleichende Bindungsforschung dienten. Das empirische Fundament der Bindungstheorie ist eher fragil.
Kapitel 3 - Die Bindungstheorie des 21. Jahrhunderts ist für Keller bisher nicht existent. Sie gibt die zentralen Kritikpunkte, die Ross Thompson an prominenter Stelle an der Bindungstheorie geäußert hat, wieder, kann sich aber seiner Einschätzung, dass die Theorie sich inzwischen stark verändert habe, nicht anschließen. Eine Bindungstheorie jenseits der Grundannahmen Bowlbys fehlt, die Bindungsforschung ist in einer Phase der Orthodoxie mit Kritikverweigerung eingetreten.
Kapitel 4 - Ungelöste Probleme beschäftigt sich im Detail mit den kritisierten zentralen Annahmen. So ist selbst der zentrale Begriff der Bindung unklar: Meint er etwas anderes als Beziehung und was genau? Ist er für die ganze Lebensspanne anwendbar oder nur für die frühe Kindheit? Dasselbe gilt für das innere Arbeitsmodell, das Bolwby als System von Gedanken, Überzeugungen, Erwartungen, Emotionen und Verhaltensweisen über Sich und Andere viel zu weit gefasst hat. Weiter wird bei der Exploration in der Fremden Situation systematisch außer Acht gelassen, dass Exploration auch von Neuheit abhängt. In der Fremden Situation erfolgt eine Konfundierung der Bedingungen Neuheit, Fremdenfurcht und Trennungsangst. Zudem ist der ethische Charakter dieser Verhaltensbeobachtung fragwürdig. Ein weitere Punkt ist der evolutionäre Sinn der Bindung, da Bindung zu einer Person – der Mutter – niemals evolutionär ausreichend gewesen wäre, es bedarf eines sozialen Systems zum Schutz der Kleinkinder. Das widerspricht aber der sogenannten Monotropieannahme, dass Kinder vor allem eine Bezugsperson haben. Faktisch, d.h. mit Blick auf die einschlägigen Veröffentlichungen, gilt diese Annahme immer noch, während Untersuchungen zu anderen Bindungspersonen wie Geschwistern weit seltener durchgeführt werden. Neben der evolutionären Irrelevanz von sicherer Bindung bestehen auch weitere Probleme mit der evolutionären Fundierung der Bindungstheorie.
Kapitel 5 - Die kulturelle Blindheit der Bindungstheorie wird schon früh erkennbar an der unglücklichen Diskussion zwischen Bowlby und Margret Mead. Keller listet ganze Literaturbestände zur Kulturabhängigkeit der kindlichen Beziehungen auf, die von der Bindungstheorie nicht rezipiert werden. Eine Ausnahme bildet die Bindungsforscherin Judi Mesman, deren „löbliche“ Absicht es zwar ist, eine Brücke zwischen den Kultur- und den Bindungsforschern zu bauen, Keller kann aber zeigen, wie sie gegenüber dem Phänomen der polyadischen Kommunikation blind ist und ihr Bemühen um das Verständnis von Kultur dem Interesse an der Universalität der Bindungstheorie unterordnet.
Während Mesman beansprucht, die Kernbestandteile, vor allem die Universalität im Spiegel der kulturvergleichenden Literatur bestätigen zu können, zieht Keller aus derselben Literatur den entgegengesetzten Schluss. Sie erläutert die besondere Ausprägung des westlichen Menschenbildes in der Ausrichtung auf „psychologische Autonomie“ (64 f.), die eine sehr stark kultivierte und betonte Autonomie darstellt, und konstatiert eine durchgängige Abhängigkeit der Bindungstheorie von diesem Menschenbild. Dazu formuliert sie die impliziten Annahmen der Bindungstheorie und zeigt dann deren kulturelle Begrenztheit konkret auf. Diese Annahmen sind: Bindungspersonen sind Erwachsene, ein Kind kann nur wenige Bindungen eingehen, Interaktionen sind exklusiv dyadisch und dialogisch, die Perspektive des Säuglings hat Priorität (letzteres zeigt sie an den diagnostischen Sensitivitätsskalen sehr ausführlich) und das Verhalten wird durch Emotionen reguliert. Im Folgenden wird dann konkret gezeigt, wie diese Annahmen für die Mittelschichtkultur im Westen gelten und wie in ‚hierarchisch-relationalen‘ Familienmodellen die Kinder betreut werden. Alle Bestandteile der Bindungstheorie, vom sensitiven Augenkontakt zwischen Mutter und Kind über das Explorationsverhalten bis hin zum Emotionsausdruck werden durch Beispiele aus anderen Kulturen relativiert. Die Beispiele stammen dabei aus anthropologischen Forschungen zu Japan, Indien, China, der Elfenbeinküste, Kamerun, Guatemala, einer indianischen Kultur in Paraguay und vietnamesischen Einwandererfamilien in Berlin. Sie zeigen die Existenz polyadischer Kommunikation mit Kindern, das Betonen von Körperkontakt anstelle von Augenkontakt, die Initiativrolle von Müttern, die nach den Begriffen der Bindungstheorie intrusiv-übergriffig erscheint, eine Exploration, die sich eher auf andere Menschen als andere Dinge konzentriert, sowie einen neutralen Emotionsausdruck anstelle des in der westlichen Cheese-Kultur üblichen.
Kapitel 6 - Fazit: Was kann die Bindungstheorie wirklich? Hier wird nun das Ergebnis der vorherigen Ausführungen zusammengefasst. Es lautet: Die Bindungstheorie ist ein „Konglomerat an Versatzstücken, zusammengehalten durch eine bestimmte Erziehungsideologie, deren historische und kulturelle Verankerung westlich geprägten Kontexten entspringt.“ Ihre Grundannahmen sind entweder „diffus und unklar“, „falsch“ oder „ideologisch einseitig“ (89).
Jenseits der Bindungstheorie wird eine Theorie der frühen Beziehungsgestaltung benötigt, die pluralistisch angelegt ist und zeigt, wie Beziehungsmuster den Kindern Halt geben und einen Zugang zur Welt ermöglichen. Bolwbys Verdienst bleibt es, die Bedeutung der kindlichen Beziehungsgestaltung erkannt zu haben, seine Theorie behält eine gewisse Berechtigung in ihrem kulturellen Rahmen.
Kapitel 7 - Die Bindungstheorie in der Kita zeigt wie sich die Bindungstheorie praktisch im Kindergartenalltag auswirkt. Dies geschieht zum einen über das freie Spiel, dessen große Bedeutung von dem Konzept der Exploration auf der Basis einer sicheren Bindung herrührt; und zum anderen über die leitende Vorstellung der Sensitivität, d.h. der Rolle der Erzieherin als Bindungsperson und die Konzentration der Erziehungsarbeit auf „dyadische exklusive Dialoge“ (98) zwischen Kind und ErzieherIn.
An den beiden Eingewöhnungskonzepten, dem Berliner und dem Münchner Modell wird das weiter dargelegt. Dabei ist vor allem das Berliner Modell sehr eng und strikt an die Fremde Situation angelehnt. Problematischerweise soll nach ihm von den Erfahrungen bei der Eingewöhnung auch ein Licht auf die Bindungsqualität zwischen Eltern und Kind fallen.
Kapitel 8 - Impulse für eine kultursensitive Eingewöhnung gibt eine Reihe von Anregungen für einen mehr adressatenorientierten Dialog mit den Eltern – unter anderem mit dem schönen Vorschlag zu einem „Dialogspaziergang“ (111) –, für die Arbeit mit der Kindergruppe, zur Ortsidentität und zu einer etwas veränderten sozialräumlichen Gestaltung. Dabei werden jeweils auch originelle Praxisbeispiele aus dem In- und Ausland angeführt.
Kapitel 9 - Ethische Fragen. Hier geht es um hochproblematische Anwendungen der Bindungstheorie, zunächst in der Diagnostik. Keller zeigt die beiden Verfahren der Auswertung von Kinderzeichnungen und der kriterienorientierten Einschätzung, um zu einer Bindungsdiagnose zu gelangen, und belegt dann, welch krasse Fehleinschätzungen sich durch eine schematische Anwendung dieser Verfahren auf andere Kulturen ergeben. Etwas Vergleichbares wird zusätzlich auch von der Anwendung der Fremden Situation berichtet. Die besonders problematischen Konsequenzen aus solchen kulturinsensitiven Vorgehensweisen ergeben sich aus der moralischen Abwertung der Mütter bei ungünstigen Bindungsmustern (147).
In interventioneller Hinsicht wird beispielhaft ein Förderprogramm mit bindungstheoretischen Annahmen im Senegal besprochen. Das Beispiel zeigt, wie mit qualitativ mäßiger Wissenschaft westlicher Kulturimperialismus verbreitet wird. Das besprochene Programm zielt auf eine Förderung des sprachlichen Inputs für Kleinkinder durch deren Mütter. Die durchaus wissenschaftlich bekannte Rolle von älteren Geschwistern in senegalesischen Familien, gerade für die sprachliche Förderung der Kinder, wird bei dem von einer NGO geförderten Programm ignoriert. Nach Einschätzung von Keller existieren viele Programme der WHO, der Weltbank oder von UNICEF, die ähnlich kritisiert werden müssen, sie weist aber auch auf ein langsames Umdenken der UN in Richtung einer gesteigerten Sensibilität für lokale kulturelle Zusammenhänge hin.
Auf einer individuellen Ebene werden schließlich Sorgerechtsentscheidungen angesprochen, bei denen nichteuropäische kulturelle Verhaltensmuster wie ein geringer Augenkontakt zu den Kindern im Sinne der Bindungstheorie den Eltern zur Last gelegt werden, was tatsächlich zu Sorgerechtsentzügen führen kann.
Kapitel 10 - Abschließender Kommentar bietet eine kurze Zusammenfassung und lässt als Zeichen einer großen Wertschätzung noch einmal die ErzieherInnen aus einer Fragebogenuntersuchung der Autorin zu Wort kommen.
Im Anhang findet sich ein kommentiertes Literaturverzeichnis.
Diskussion
Das Buch hat zwei Themen und tendenziell auch zwei Adressatenkreise. Zum einen bietet es eine kritische Darstellung der Bindungstheorie und ihrer Entwicklung. Das dürfte jene ansprechen, die sich allgemein für entwicklungspsychologische Themen interessieren. Zum anderen zeigt es die Kita als Anwendungsbereich der Bindungstheorie und macht Vorschläge, wie die Kita-Praxis kulturell diversifiziert werden kann – das wird die LeserInnen aus dem frühpädagogischen Bereich spezieller interessieren.
Für die kritische Darstellung fasst Keller erstmals die große Zahl der Forschungsergebnisse der letzten Jahre in einer deutschsprachigen Publikation zusammen, die die Bindungstheorie aus einer grundlagen- und methodenkritischen oder kulturvergleichenden Sicht relativieren. Auch wissenssoziologische Untersuchungen, die sie als konservative westliche Ideologie zeigen, werden dabei berücksichtigt. Zudem werden auch die Vorgehensweisen der bindungstheoretischen Diagnostik recht ausführlich dargestellt. Die spannendsten Kapitel sind in diesem Zusammenhang die Kapitel vier und fünf. Sie bieten eine kompakte Zusammenstellung der systematischen Defizite dieser Theorietradition und konfrontieren sie mit anderen kulturellen Modellen von Familie und Beziehung. Vor allem das fünfte Kapitel ist das Zentrum des ganzen Buches und kann mit der erstaunlichen Fülle konkreter kulturellen Familien- und Sozialmodelle punkten.
Wie stark die normale Kita bei uns auf bindungstheoretischen Konzepten beruht, ist dann der Clou des Buches im Blick auf die Frühpädagogik. Dass die Grenzen einer Theorie auch praktisch höchst folgenreich sein können, ist eine eindrucksvolle Lektion, die hier vermittelt wird. Der kritische Blick wird dann aber auch durch konstruktive Vorschläge ergänzt. Hier finden sich zahlreiche Anregungen zur Reflexion der konzeptuellen Grundlage der Kita-Praxis, aber auch der alltäglichen Abläufe in den Kitas.
In didaktischer Hinsicht ist das Buch gut durchdacht. Mit Erklärkästen zu den spezielleren Fachbegriffen wie ‚Q-Sort‘ oder ‚Mentalisierung‘, mit Reflexionsfragen und einem kommentierten Literaturverzeichnis gibt eine Reihe von Anregungen für eine vertiefte Erarbeitung.
Schließlich verdienen die Autorin und der Verlag für die Gestaltung des Buches ein großes Lob. Mit der wunderschönen Bebilderung – es sind zahlreiche und oft ganzseitige Bilder von Kleinkindern verschiedener Kulturen – und dem hochwertigen Papier ist das Buch so schön, dass man gar keine Anstreichungen darin vornehmen mag.
Fazit
Sehr gute kritische Darstellung der Bindungstheorie mit einem Schwerpunkt auf ihrer kulturellen Einseitigkeit. Die problematischen Konsequenzen dieser Begrenztheit werden vor allem für die Kita-Arbeit aufgezeigt. Wege zu einem Kita-Konzept, das kultureller Vielfalt besser gerecht werden könnte, werden skizziert.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 03.09.2019 zu:
Heidi Keller: Mythos Bindungstheorie. Konzept · Methode · Bilanz. verlag das netz GmbH
(Kiliansroda) 2019.
ISBN 978-3-86892-159-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25697.php, Datum des Zugriffs 03.10.2024.
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