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Nicole Strüber: Risiko Kindheit

Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 05.12.2019

Cover Nicole Strüber: Risiko Kindheit ISBN 978-3-608-96287-1

Nicole Strüber: Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2019. 304 Seiten. ISBN 978-3-608-96287-1. D: 22,00 EUR, A: 22,70 EUR.

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Thema

„Warum sind die ersten Lebensjahre so entscheidend für die Entwicklung unseres Gehirns? Warum fällt es manchen Menschen im späteren Leben schwer, Stress zu bewältigen und die Impulse im Griff zu halten? Dieses Buch erklärt, wie Risikokindheiten unsere Persönlichkeit und Psyche beeinflussen, wie man diese Risiken vermeiden und die entstandenen Defizite im Erwachsenenleben beheben kann.“ (Text auf dem Einband).

Autorin

Dr. Nicole Strüber ist Entwicklungsneurobiologin und -psychologin. Sie ist als Wissenschaftsautorin und als Referentin im Rahmen von Vorträgen und Seminaren tätig.

Aufbau und Inhalt

Im ersten Kapitel führt die Autorin in das Thema ein.

Im zweiten, sehr umfangreichen, Kapitel geht es um die Entwicklung des Gehirns und der für die Persönlichkeit, die soziale und emotionale Kompetenz bedeutsamen Strukturen und Netzwerke. Es werden bei den Hirnstrukturen, die unser Fühlen, Denken und motiviertes Handeln steuern vier Ebenen unterschieden: untere, mittlere und obere limbische Ebene und kognitiv-sprachliche Ebene.

Detailliert arbeitet die Autorin dann heraus, wie früher Stress wirkt. Sie beschreibt, wie durch epigenetische Mechanismen die Aktivität von Genen, so von Genen des Stresssystems, langfristig verändert wird. Die langfristige Überfunktion oder Unterfunktion des Cortisolsystems mit ihren Auswirkungen auf die Hirnstrukturen werden am Beispiel Depression und postnatale Depression dargestellt, ähnlich die Systeme von Cortisol, Noradrenalin, Serotonin, Dopamin, Opioiden, Oxytocin, Acetylcholin an den psychischen Funktionen Selbstberuhigung, Umgang mit Belohnungen, Impulshemmung, Bindungsfähigkeit und Risikobewertung.

Wir lernen in der frühen Kindheit, unsere eigenen Gefühle zu erkennen und sie flexibel der Situation anzupassen, die Gefühle anderer und deren Perspektive zu erkennen und Empathie zu entwickeln. Auch hier stellt die Autorin die neuesten Erkenntnisse der Forschung dar. So scheint es beispielsweise so zu sein, dass die Spiegelneurone eventuell für das Empfinden von empathischem Leid, aber nicht aber für Empfinden von Mitgefühl eine Rolle spielen.

Es werden auch die Gen-Umwelt-Wechselwirkungen deutlich: Gene beeinflussen, wie wichtig die Umwelt ist. Die Umwelt legt fest, wie wichtig die Gene sind. Die Umwelt beeinflusst, wie aktiv Gene sind. Es wird sehr deutlich, dass frühe Stresserfahrungen die Hirnentwicklung und damit die Psyche und die Persönlichkeit beeinflussen und prägen: sie erhöhen das Risiko psychischer Erkrankungen und sozialer und emotionaler Fehlanpassungen, können aber auch als mögliche Anpassungen an eine besonders stressreiche Umwelt gesehen werden.

Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit Risikofaktoren. Zuerst werden die Risiken um Schwangerschaft und Geburt (Stress in der Schwangerschaft, Frühgeburtlichkeit, Geburt im Allgemeinen) und die Bedeutung der Zusammensetzung der Darmflora und der Übertragung der mütterlichen Darmflora während der Geburt besprochen.

Ausführlich wird der „Risikofaktor Eltern“ besprochen: Eltern sollen das Kind vor Stress schützen und Beruhigung und Trost spenden, wenn das Kind ängstlich, enttäuscht, frustriert oder wütend ist. Aus unterschiedlichen Gründen können dies manche Eltern nicht. Die Themen peripartale Depression, traumatisierte Eltern, chronisch gestresste Eltern, psychische Misshandlung und Vernachlässigung, körperliche Misshandlung, Drogensucht und Scheidung werden besprochen, wobei deutlich wird, dass häufig mehrere Risikofaktoren zusammenkommen. Ursachen und Folgen werden besprochen.

Im Folgenden werden sexueller Missbrauch und Auswirkungen von Armut, Krieg und Flucht thematisiert. Strüber fragt auch nach dem Risiko früher Krippenbetreuung und arbeitet die herausragende Bedeutung der Qualität der Betreuung heraus; nur mit einem guten Personalschlüssel, d.h. hohen Personalaufwand ist es möglich, feinfühlige Bezugspersonen bereit zu stellen, zu denen die Kinder eine sichere Bindung aufbauen können. Abschließend wird ein heutzutage wichtiger Risikofaktor angesprochen, der Umgang mit der digitalen Welt vom Säuglings- bis zum Erwachsenenalter und die große Verantwortung der Erwachsenen.

Das vierte Kapitel befasst sich mit Genetik und Vererbung. Es werden die epigenetische Programmierung, die Mechanismen der generationsübergreifenden Weitergabe besprochen: Prägende Erfahrungen wiederholen sich und werden epigenetische vererbt, wobei transgenerationale und intergenerationale Transmission unterschieden werden und generationsübergreifende Traumatisierung besprochen wird. Aber es macht Mut; es gibt auch eine generationenübergreifende Weitergabe fürsorglichen elterlichen Verhaltens, wobei das Oxytocinsystem eine wichtige Rolle spielt.

Doch was schützt uns? Das fünfte Kapitel beschäftigt sich mit dem Thema Resilienz. Was kennzeichnet Kinder, die Stress gut überstehen, also von Natur aus resilient sind? Es wird thematisiert, welche Rolle die Gene spielen oder etwa die Schwangerschaft. Es werden Genvarianten vorgestellt, die Auswirkungen auf die Vulnerabilität bzw. die Resilienz haben, u.a. auch weil diese Kinder mehr oder weniger durch Umwelterfahrungen beeinflusst werden. Es werden „Orchideenkinder“ und „Löwenzahnkinder“ unterschieden, die entweder nur in sehr guten Verhältnissen oder auch unter eher schwierigen Verhältnissen sich gut entwickeln. Der beste Schutz ist eine sichere Bindung, aber auch positive Körpererfahrungen (z.B. Babymassage) unterstützen die Förderung von Resilienz.

Trotz dieser frühen Prägung gibt es Auswege in der weiteren Kindheit und im Erwachsenenleben (Kapitel 6). Strüber unterscheidet kritische und sensible Perioden, wobei letztere in der menschlichen Entwicklung eher zutreffen. Die Autorin erläutert dies an Erkenntnissen zur Entwicklung von Waisenkindern und an Untersuchungen zur Entwicklung für die Psyche relevanter neuronaler Netzwerke und zeigt, wie die Netzwerke in sensiblen Perioden stabilisiert werden. Als „Auswege“ im Kindesalter werden Programme zur Erhöhung der Feinfühligkeit der Eltern (SAFE, STEEP) benannt sowie die Unterstützung von Pflege- und Adoptivfamilien, damit die Kinder wichtige Erfahrungen nachholen können. Wichtig ist dabei, dass das Umfeld stabil und vorhersehbar sein muss. Als „Ausweg“ im Erwachsenenalter wird Psychotherapie benannt und die Wirkung von Psychotherapie auf die neuronalen Netzwerke erläutert.

Diskussion

Schwangerschaft und frühe Kindheit sind entscheidende Phasen in der Entwicklung des Gehirns. Vielfältige Risiken gefährden eine positive Entwicklung. Sehr gut nachvollziehbar werden die Auswirkungen der Anregung (oder mangelnden Anregung) unterschiedlicher „Stoffsysteme“ auf die Gehirnentwicklung und auf die Entwicklung psychischer Funktionen bzw. Fehlanpassungen dargestellt. Armut, traumatisierte oder depressive Eltern, Scheidung, Flucht, emotionale Vernachlässigung, überfüllte Kitas und viele weitere in der frühen Kindheit auftretende Risiken können negative Auswirkungen haben. Und wie die epigenetische Forschung zeigt, können die Auswirkungen auch bei den nachfolgenden Generationen beobachtet und erklärt werden. Strüber diskutiert auch heikle Sachverhalte wie Auswirkungen von Krippe oder digitale Welt sachkompetent und differenziert.

Die Autorin stellt nicht nur Risiken dar, sie benennt auch Schutzfaktoren und wie man einer negativen Entwicklung vorbeugen kann, und worauf es ankommt, wenn man sich später, als Erwachsener, noch ändern möchte. Strüber wiederholt immer wieder (und das kann man nicht oft genug wiederholen) die Bedeutung des feinfühligen Umgangs mit den Säuglingen und Kleinkindern als Schutzfaktor.

Das Lesen erleichtert, dass verschiedene Rubriken in anderer Schrift abgesetzt sind (was Expert*innen beschäftigt, im Detail, aus der Forschung, aus dem Alltag, und besonders wichtig am Schluss jedes Unterkapitels die Zusammenfassung im Take home).

Ich finde dieses Buch als faszinierendes Buch, das sehr zu empfehlen ist. Ich hoffe, dass es ein breites Publikum findet.

Zielgruppen

Alle Personen, die mit Kindern und Eltern in unterschiedlichen Kontexten arbeiten, aber auch interessierte Eltern

Fazit

Das Buch zeigt auf, wie frühe Risiken unser Gehirn und unsere Psyche langfristig beeinflussen. Die Mechanismen der Entwicklung, das Zusammenwirken von Genetik und Stresserfahrungen wird herausgearbeitet. Auf die Risikofaktoren folgen werden auch Schutzfaktoren und Auswege aufgezeigt. Das Buch ist für ein breites Publikum sehr empfehlenswert.

Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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Es gibt 185 Rezensionen von Lothar Unzner.

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Zitiervorschlag
Lothar Unzner. Rezension vom 05.12.2019 zu: Nicole Strüber: Risiko Kindheit. Die Entwicklung des Gehirns verstehen und Resilienz fördern. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2019. ISBN 978-3-608-96287-1. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25700.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.


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