Liane Simon, Jürgen Kühl: Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung
Rezensiert von Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner, 12.06.2023

Liane Simon, Jürgen Kühl: Interdisziplinäre Zusammenarbeit und inklusive Frühförderung.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
164 Seiten.
ISBN 978-3-17-034430-3.
32,00 EUR.
Reihe: Interdisziplinäre Frühförderung, Band 10.
Die Autor*innen
Prof. Dr. Liane Simon ist Professorin für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg.
Prof. Dr. med. Jürgen Kühl, ehem. Vorsitzender und stellvertr. Vorsitzender Vereinigung für Interdisziplinäre Frühförderung, VIFF e.V., ehem. Vorstandsmitglied European Association on Early Intervention, EURLYAID
Thema
Das Buch widmet sich zwei zentralen Querschnittsthemen in der Frühförderung: der Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen und den Herausforderungen, die sich durch das Inklusionsparadigma ergeben.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst 2 Teile: Interdisziplinäre Zusammenarbeit (Liane Simon) und Inklusion – Konzeptuelle Öffnung der Interdisziplinären Frühförderung? (Jürgen Kühl).
In der Einführung zum ersten Teil (Interdisziplinäre Zusammenarbeit) kennzeichnet Liane Simon die Interdisziplinarität als Grundprinzip der Frühförderung und beklagt aber zugleich fehlende Standards der interdisziplinären Zusammenarbeit. Im Weiteren führt sie Probleme der Zusammenarbeit auf (u.a. dass die Leistung trotz gesetzlicher Vorschrift von den Kostenträgern nur unzureichend finanziert wird) und sammelt Argumente für eine interdisziplinäre Zusammenarbeit (z.B. die Multiperspektivität). Nach einigen grundlegenden Gedanken zur interdisziplinären Zusammenarbeit werden Einflussfaktoren (z.B. persönliche und kommunikative Kompetenzen) erörtert. Frühförderung ist als gemeinsame Aufgabe zu sehen, bei der die Beteiligten die Kinder in der Möglichkeit der gesellschaftlichen Teilhabe unterstützen, wobei der Einbezug der Eltern und Erziehungsberechtigten nicht vergessen werden darf.
Liane Simon unterscheidet institutionsbezogene (Team der Frühförderstelle) und institutsübergreifende Zusammenarbeit. Letztere führt Fachpersonen aus mehreren Bereichen, bestehend aus dem „Wunschteam“ der Eltern zusammen. Nach der Besprechung der notwendigen Voraussetzungen für eine gute Zusammenarbeit wird das methodische Vorgehen von der Auftragsklärung über die Gestaltung von Fallbesprechungen bis zur gemeinsamen Auswertung ausführlich besprochen. Als gemeinsame Sprache wird die ICF eingeführt, die am bio-psycho-soziales Modell orientiert ist und die Bedeutung von Wechselwirkungen erfasst.
Wegweisend und Grundlage in der Inklusionsdiskussion ist die UN-BRK. In der Einführung zum zweiten Teil (Inklusion) beklagt Jürgen Kühl, dass trotz UN-BRK in der öffentlichen und politischen Diskussion zu Inklusion der Vorschulaltersbereich und damit auch die Interdisziplinäre Frühförderung überhaupt nicht thematisiert wird. Bei einer Zusammenführung von Frühpädagogik und Frühförderung im SGB VIII gilt die Sorge dem Erhalt der hohen Qualitätsstandards der Interdisziplinären Frühförderung; diese muss als „Kompetenzzentrum“ weiterbestehen. Frühförderung ist kein nachrangiges System für einen geringen Prozentsatz an kleinen Kindern.
Jürgen Kühl weist darauf hin, dass Integration und Inklusion oft gleichgesetzt werden, aber Inklusion bedeute einen konzeptionellen und strukturellen Systemwechsel. Frühförderung beginnt mit einem Widerspruch. Eine Defizitdiagnose, die wichtig ist für die Gewährung von Leistungen, einem systemimmanenten Verwaltungsakt, bedeutet als Kategorisierung gesellschaftliche Exklusion. Dann soll im Geiste der Inklusion mit der Familie ein positives Arbeitsverhältnis entwickelt werden. Die Interdisziplinäre Frühförderung muss sich den konzeptionellen Herausforderungen stellen, dann hat sie große Chancen, inklusiv im Sinne der UN-BRK zu arbeiten.
Das Kind und seine Entwicklungsbedürfnisse, der aktiver Beitrag des agierenden Kindes, ist eine der Säulen gelingender Inklusion. Gelingende Dialoge mit Bezugspersonen können als inklusiver Akt interpretiert werden. Diese müssen (im Sinne einer Familienorientierung) in die Familie und die weitere Umwelt konzeptuell eingebettet sein. In der Familie ist die Unterstützung der Feinfühligkeit für die kindlichen Signale, die Responsivität der Bezugspersonen bedeutsam. Dies kann aber nur gelingen, wenn auch das weitere soziale Umfeld (z.B. Armutslage, kulturelle Unterschiede) berücksichtigt wird.
Jürgen Kühl geht auf die Auswirkungen von inklusivem Arbeiten auf die Institution Frühförderung ein; im Sinne der Inklusion sei Partizipation wichtiger als der Focus auf Funktionen. Er stellt die Bedeutung von Netzwerkarbeit heraus, besonders das Zusammenwirken von Frühförderung und Kita. Eine wichtige Forderung ist die bessere Berücksichtigung von fachübergreifendem Wissen und Inklusion in den Ausbildungs- und Studiengängen der für die Arbeit in der Interdisziplinären Frühförderung tätigen Berufsgruppen.
Diskussion
Liane Simon und Jürgen Kühl greifen als wichtige und bekannte Persönlichkeiten der Interdisziplinären Frühförderung in beiden Teilen aktuelle Diskussionsthemen auf.
Im ersten Teil wird die Bedeutung der Interdisziplinarität in der Frühförderung eindrucksvoll beschrieben und belegt. Sie hat ausgehend von den Begründerinnen und Begründern, den Müttern und Väter der Frühförderung (im Besonderen Prof. Otto Speck) seit mittlerweile 50 Jahren eine zentrale Rolle.
In der Frage der Inklusion bzw. Partizipation behinderter oder von Behinderung bedrohter kleiner Kinder wird die Bedeutung der UN-BRK deutlich herausgestellt. Es darf kein Zurückfallen hinter diese Norm geben, denn sonst bleibt Inklusion nur ein Lippenbekenntnis und wird als Etikett missbraucht. Wichtig ist, dass in der (fach-)politischen Diskussion die kleinen Kinder und die zentrale Rolle der Interdisziplinären Frühförderung gesehen werden. Die Frühförderung muss die Veränderungen aufgreifen und so ihre Aufgabe erfüllen. Gelebte Inklusion braucht Offenheit und Wissen, aber auch finanzielle Ressourcen.
Es zeigt sich aber auch, wie schwierig es für Autorinnen und Autoren ist, die trotz Bundesgesetzgebung heterogene und komplexe Frühförderung vollständig im Blick zu haben. Da einige relevante Ansätze und Studien zitiert werden, möchte ich auf die (leider zu wenigen) heilpädagogischen Fachdienste der Frühförderstellen in Bayern sowie auf eine Studie des bayerischen Instituts für Frühpädagogik (IFP) zur Inklusion vor Ort (IVO), einer Studie zur Umsetzung von Inklusion als gemeinsame Aufgabe von Kindertageseinrichtungen und Frühförderung (https://www.ifp.bayern.de/projekte/a-z/inklusion_ivo.php), insbesonders auf den Vernetzungsbericht, hinweisen
Zielgruppen
Alle in der Interdisziplinären Frühförderung zugelassenen Berufsgruppen in Praxis und Ausbildung, pädagogische Fachkräfte, alle an der Interdisziplinären Frühförderung interessierten Personen (auch in Politik und Verwaltung)
Fazit
In dem Buch werden zwei zentrale Querschnittsthemen in der Frühförderung: der Zusammenarbeit der beteiligten Berufsgruppen und den Herausforderungen, die sich durch das Inklusionsparadigma ergeben, ausführlich besprochen, kritisch diskutiert und Konsequenzen aufgezeigt. Zusätzlich zur konkreten Bedeutung für die Praxis der Interdisziplinären Frühförderung gibt es Impulse für die gesellschaftliche Diskussion.
Rezension von
Dr. Dipl.-Psych. Lothar Unzner
ehem. Leiter der Interdisziplinären Frühförderstellen in Dorfen, Erding und Markt Schwaben im Einrichtungsverbund Steinhöring
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