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Daniela Schlutz, Jo Becker: Experten für Eigensinn

Rezensiert von Prof. Dr. Michael Domes, 06.06.2019

Cover Daniela Schlutz, Jo Becker: Experten für Eigensinn ISBN 978-3-88414-922-5

Daniela Schlutz, Jo Becker: Experten für Eigensinn. Berichte gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2019. 240 Seiten. ISBN 978-3-88414-922-5. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.
Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783884149690; 9783884149706.

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Thema und Entstehungshintergrund

Der Band nimmt sogenannte „SystemsprengerInnen“, also Menschen mit „besonders herausforderndem (schwierigem)“ Verhalten, die häufig in den Einrichtungen der Gemeindepsychiatrie auf Ablehnung stoßen und institutionelle Regeln/Grenzen überschreiten, in den Blick. Hierbei werden diese Menschen aber als ExpertInnen für Eigensinn vorgestellt, an denen sich die Qualität der gemeindepsychiatrischen Versorgung zeigt. Oder, wie es Thomas Bock formuliert: „Der Eigensinn (…) ist in diesem Zusammenhang kein Makel oder keine Störgröße, sondern eine Fähigkeit, die der Lebensqualität dient“ (Bock 2004: 274).

Im ersten Teil beschreiben 20 ehemalige KlientInnen ihren Recovery-Weg, der trialogisch durch die Sicht der jeweiligen Fachkräfte und Angehörigen ergänzt wird. Im zweiten Teil werden exemplarisch verschiedene „Methoden“ vorgestellt, die sich in der Zusammenarbeit mit den ExpertInnen für Eigensinn bewährt haben.

Der Band versteht sich als „Ratgeber“ für Fachkräfte, wie Rehabilitation und Recovery bei Menschen mit „herausforderndem“ Verhalten gelingen kann. Er reiht sich thematisch ein in diverse in letzter Zeit veröffentliche Publikationen, die (erfreulicherweise) zunehmend die Perspektiven und Expertise der Adressat*innen in den Blick nehmen, so zum Beispiel Weiß & Sauerer 2018, Staemmler 2017, Redmann & Gintzel 2017 oder Schulz & Zuaboni 2014.

Autor*innen

  • Jo Becker ist Psychiater und Psychotherapeut. Nach einer langjährigen Kliniktätigkeit ist er seit 2009 Geschäftsführer von Spix e.V., einem Träger der Gemeindepsychiatrie. Sein fachlicher Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung von inklusiven Lebens- und Arbeitsräumen.
  • Daniela Schlutz ist freie Fotografin, Journalistin und Sozialpädagogin. Sie verantwortet die Fotos des Bandes sowie die Angehörigeninterviews.

Aufbau

Der Band ist in 2 Teile gegliedert. Eine kurze Einleitung führt in den Band ein.

  • Teil 1: Experten aus Erfahrung, Fachkräfte und Angehörige berichten
  • Teil 2: Methoden der Zusammenarbeit mit Experten für Eigensinn

Inhalt

Teil 1 „Experten aus Erfahrung, Fachkräfte und Angehörige berichten“ ist der zentrale und auch vom Umfang her größte Teil des Bandes. Er enthält 20 „Fallgeschichten“, in denen die ExpertInnen für Eigensinn sowie die beteiligten Fachkräfte und Angehörigen den Verlauf der Erkrankung bzw. den (gemeinsamen) Entwicklungsweg aus ihrer besonderen Perspektive schildern.

Jede Geschichte beginnt (in den meisten Fällen) mit einem Bild der KlientIn und einer steckbriefartigen Kurzinfo, die auch die jeweilige Diagnose beinhaltet. Daran schließen sich die Schilderungen der KlientInnen, Fachkräfte (MitarbeiterInnen der beteiligten Institutionen, BezugsbetreuerInnen, Leitungen) und Angehörigen (Eltern, Vater, Mutter, Geschwister, PartnerInnen, Freunde) an.

Teil 2 skizziert abschließend auf 30 Seiten verschiedene „Methoden der Zusammenarbeit mit Experten für Eigensinn“.

Unter Funktionsebenen und Störungen des Ich werden die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung (in der Sprache des Bandes „seelische Störung“) auf das Ich-Erleben beschrieben. Daran schließen sich Ausführungen zu Fragen der Haltung und des professionellen Selbstverständnisses, die Recovery und Rehabilitation ermöglichen sollen, an: Eine empathische und wertschätzende Beziehung entwickeln, Selbstachtsamkeit, Geduld und Zuversicht, die Basis der Rehabilitation. Erläuterungen zu konkreteren Formen der Zusammenarbeit, hier als Methoden bezeichnet, schließen den Band ab: Biografiearbeit, Der Runde Tisch: Hilfeplanung und Clearingverfahren, Gründung eines Konsultationsverbunds.

Diskussion

Der Titel und der Klappentext und folgend auch die Einleitung des Bandes hatten mich sehr neugierig auf den weiteren Inhalt gemacht. Damit einher ging eine (im Nachhinein vielleicht zu hohe) Erwartungshaltung, gerade auch, da ich die Schilderungen von Expert*innen durch Erfahrung und für Eigensinn sehr schätze. Sie werden aus meiner Sicht immer noch zu wenig in der professionellen Praxis gehört und wahrgenommen, obwohl sie abstrakte Theorie spür- und erlebbar machen und auch als kritische Reflexion des eigenen professionellen Handelns fungieren können. Oder, wie es Becker in der Einleitung formuliert: „An diesen Klienten zeigt sich die Qualität der gemeindepsychiatrischen Versorgung“ (S. 9).

Diese Erwartungshaltung wurde nicht ganz erfüllt.

Beginnen möchte ich mit dem zweiten Teil des Bandes, der dem Hauptteil, den geschilderten Erfahrungen, folgt. Dieser beinhaltet verschiedene Formen (Methoden) der Zusammenarbeit, quasi als Kondensat, die zu einer gelingenden Unterstützung beitragen.

Leider sind die Ausführungen vom Umfang her sehr knapp, sodass viele Inhalte, wie zum Beispiel Biografiearbeit oder auch Aspekte der Beziehungsgestaltung nur schlagwortartig abgehandelt werden und damit sehr an der Oberfläche bleiben, inhaltlich-theoretisch reduziert oder simplifiziert dargestellt werden. Zudem fehlen entsprechende Quellenangaben oder ein (weiterführendes) Literaturverzeichnis, das eine tiefergehende Beschäftigung mit den Inhalten ermöglichen würde. Auch wenn der Band eben gerade nicht ein klassisches Theoriebuch ist, hätte dies eine bessere Verknüpfung von Theorie und Praxis bzw. Theorie und Erfahrung zur Folge, zumal der Band auch als Unterstützung für Fachkräfte konzipiert wurde.

Vielleicht hätte dieser Teil zugunsten einer ausführlicheren Einleitung und Hinführung sowie einem abrundenden Schlusswort gestrichen werden können. Auch an diesen Stellen hätten die entsprechenden Aspekte Erwähnung finden können, dann aber mit einer anderen Intention, als der einer methodischen Darstellung.

Der eigentliche Hauptteil des Bandes beeindruckt durch die Vielfalt der Geschichten und Erfahrungen. Die unterschiedlichen Perspektiven fügen sich zu einem je individuellen Mosaik zusammen, das zugleich wiederum für die Blickwinkel (Bedürfnisse, Nöte, Gefühle, Herausforderungen, Grenzen etc.) der einzelnen beteiligten Akteure und in der Praxis auch nicht aufzulösende Widersprüche sensibilisiert. So wurde beim Lesen der Schilderungen der Fachkräfte immer wieder deutlich, wie diese versuchten, eigensinniges Handeln und Verhalten der KlientInnen zu ermöglichen oder auch zu fördern. Zugleich hatte ich bei den gewählten Formulierungen auch oft den Eindruck, dass (gesellschaftliche und institutionelle) Normierungs- und Anpassungserwartungen/-forderungen sehr präsent und wirkmächtig sind.

Trotzdem oder gerade deshalb ermöglicht diese Form der Darstellung, Sichtweisen zusammenzubringen und zu denken, die in anderen Publikationen nur isoliert voneinander betrachtet werden. Das macht den besonderen Verdienst dieser Publikation aus.

Oft entstand beim Lesen der kurzen Geschichten so etwas wie ein Kurzfilm im Kopf, der die Lebensgeschichten „lebendig“ werden ließ. Das, was in der Theorie oft selbstverständlich und scheinbar einfach klingt, wird immer wieder durch einzelne Sätze greifbar, aber auch in Frage gestellt und regt zum weiteren Nachdenken und Nachspüren an.

So resümiert Elke Kühling: „Ich habe wundervolle Freunde, auf die ich zählen kann und die mich mit all meinen »special effects» lieben“ (S. 34).

Oder die Schwester eines Klienten: „Mir war es von Anfang an wichtig, meinem Kind zu vermitteln, dass sein Onkel genauso viel wert ist wie jeder andere Mensch auch. Unabhängig davon, wie er lebt und was er sagt“ (S. 45).

Und David Goldschmidt schreibt: „Andere freuen sich über Sonne. Ich gehe am liebsten raus, wenn es dunkel ist“ (S. 96).

Auf einen aus meiner Sicht diskussionswürdigen Aspekt möchte ich noch aufmerksam machen: Die Kurzinfo zu Beginn jeder trialogischen Geschichte enthält am Ende auch immer die Diagnose(n) der KlientIn nach ICD. Dies wird vom Autor selbst in der Einleitung kritisch im Hinblick auf Vereinfachung und Stigmatisierung diskutiert. Letztlich wurden sie als Voraussetzung, um Hilfen in Anspruch nehmen zu können, in die jeweilige Kurzinfo aufgenommen. Becker schreibt hierzu: „Sie wegzulassen hieße, einen wichtigen Teil der psychiatrischen Realität auszublenden“ (S. 10).

Grundsätzlich stimme ich dieser Schlussfolgerung zu. Vielleicht wäre es trotzdem besser oder hilfreicher gewesen, die Diagnosen jeweils an das Ende der Geschichte zu setzen, da diese ja auch sowieso immer wieder in den einzelnen Schilderungen auftauchen. Ich habe mich nach dem Lesen der Diagnose ertappt, wie diese beim weiteren Lesen – mal mehr, mal weniger – präsent war und zum Teil auch meine Erwartungen und Wahrnehmung in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Zugleich kann diese Erkenntnis natürlich auch nützlich sein, um sich für die Wirkmächtigkeit von Diagnosen zu sensibilisieren und sich immer wieder zu hinterfragen, inwieweit man sich selbst in den Fallstricken von Diagnosen verfängt und entsprechende Schubladen zieht.

Fazit

Insgesamt zeigen die Geschichten immer wieder aufs Neue auf, wie Lebensperspektiven trotz widriger Umstände entstehen, Gesundung auch mit Erkrankung möglich ist und „was in der Zusammenarbeit mit Experten für Eigensinn das Wichtigste ist: eine empathische und wertschätzende Beziehung zu entwickeln sowie Geduld und Zuversicht“ (Becker 2019, 11).

Trotz der aufgeführten Kritikpunkte: Eine klare Leseempfehlung im Sinne eines Plädoyers für mehr Eigensinn und Eigensinniges, nicht nur für Fachkräfte, Angehörige und Klient*innen, sondern auch für Studierende und Lehrende der entsprechenden Fachrichtungen.

Literatur

  • Bock, T. (2004): Eigensinn und Psychose. Unkooperative Patienten als Gradmesser der
  • therapeutischen Qualität. In: Bock, T. & Dörner, K. & Naber, D. (Hrsg.): Anstöße. Zu
  • einer anthropologischen Psychiatrie, Bonn: Psychiatrie-Verlag, S. 274–281.
  • Redmann, B. & Gintzel, U. (Hrsg.) (2017): Von Löweneltern und Heimkindern. Lebensgeschichten von Jugendlichen und Eltern mit Erfahrungen in der Erziehungshilfe, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.
  • Schulz, M. & Zuaboni, G. (Hrsg.) (2014): Die Hoffnung trägt. Psychisch erkrankte Menschen und ihre Recoverygeschichten, Köln: BALANCE buch + medien.
  • Staemmler, M. (2017): Das erzähl ich nur Ihnen! Die Kunst der Beziehungsarbeit in 15 Geschichten, Köln: BALANCE buch + medien.
  • Weiß, W. & Sauerer, A. (Hrsg.) (2018): „Hey, ich bin normal!“. Herausfordernde Lebensumstände im Jugendalter bewältigen: Perspektiven von Expertinnen und Profis, Weinheim und Basel: Beltz Juventa.

Rezension von
Prof. Dr. Michael Domes
Diplom-Sozialpädagoge, Professor für Theorien und Handlungslehre in der Sozialen Arbeit, TH Nürnberg Georg Simon Ohm
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Es gibt 19 Rezensionen von Michael Domes.

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Zitiervorschlag
Michael Domes. Rezension vom 06.06.2019 zu: Daniela Schlutz, Jo Becker: Experten für Eigensinn. Berichte gelungener Zusammenarbeit bei herausforderndem Verhalten, erzählt von Klienten, Angehörigen und Fachkräften. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2019. ISBN 978-3-88414-922-5. Reihe: In Beziehung stehende Ressource: ISBN: 9783884149690; 9783884149706. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25710.php, Datum des Zugriffs 29.03.2023.


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