Martina Messan: Die Anwaltsfunktion der freien Wohlfahrtspflege
Rezensiert von Prof. Dr. Ruth Enggruber, 16.09.2019

Martina Messan: Die Anwaltsfunktion der freien Wohlfahrtspflege. über den Begriff und die empirische Tragweite im aktivierenden Sozialstaat. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 350 Seiten. ISBN 978-3-7799-6010-2. D: 34,95 EUR, A: 35,90 EUR, CH: 45,90 sFr.
Thema
Im Selbstverständnis der Wohlfahrtsverbände ist seit jeher deren Anwaltsfunktion für benachteiligte Bevölkerungsgruppen fest verankert. Die Publikation von Martina Messan greift drei (sozial)politische Entwicklungen auf, die meines Erachtens seit rund 25 Jahren diese advokatorische Interessenvertretung maßgeblich beeinflusst haben:
- Erstens ist dies die in den 1990er Jahren eingesetzte Ökonomisierung der Sozialen Arbeit, in deren Verlauf die Verbände ihre korporatistisch geregelte Position als Partner und Beteiligte an allen sozialpolitischen Entscheidungen verloren haben und auf die „Funktion reiner Kontraktnehmer öffentlicher Aufträge“ (Nährlich, zitiert S. 271) reduziert worden sind (S. 154 ff.). Diese grundlegend veränderte sozialpolitische Position ist nicht ohne Konsequenzen für die sozialanwaltschaftliche Vertretung geblieben.
- Zweitens hat der Diskurs zum „aktivierenden Sozialstaat“, der darauf abzielt, dass die Menschen für ihre Existenzsicherung mit Erwerbsarbeit selbst verantwortlich und so gesehen ‚ihres Glückes Schmied‘ sind, maßgeblich die öffentliche Meinung geprägt (S. 132 ff.). Seitdem werden Ursachen wie ungleiche Ressourcenausstattung, Marktbedingungen oder Machtverhältnisse weitgehend ausgeblendet. Stattdessen werden das Versagen und die Schuld vor allem bei den Betroffenen gesucht. Dass dies auf Kosten von Grundwerten wie Solidarität, sozialer Gerechtigkeit und Menschenrechten (S. 164 ff.) geht, könnten die Wohlfahrtsverbände im Interesse ihrer AdressatInnen im politischen und öffentlichen Diskurs diskutieren und sich dagegen aussprechen.
- Drittens wird in der Sozialen Arbeit zunehmend problematisiert, dass benachteiligte Bevölkerungsgruppen ihre politischen Einflussmöglichkeiten (z.B. Teilnahme an Bundestags- oder sonstigen Wahlen) und andere Angebote politischer Interessenvertretung nicht nutzen, weil sie nicht über die dazu notwendigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen verfügen und so gesehen strukturell ausgeschlossen werden. Auch Fragen der Vertretung so verstandener „schwacher Interessen“ (S. 159 ff.) werden zur Begründung und Legitimation der „Anwaltsfunktion der freien Wohlfahrtspflege“ herangezogen.
Angesichts der Bedeutung, die somit der advokatorischen Anwaltschaft der Wohlfahrtsverbände zukommt, überrascht, dass dazu bisher kaum systematische Forschungen vorliegen. Diese Lücke verkleinert Martina Messan mit ihrer literaturbasierten und empirischen Studie erheblich, in der sie dazu vorhandene Theoriebezüge und Forschungsergebnisse in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen systematisch gesichtet und zusammengestellt hat. Ferner hat sie sozialpolitisch relevante Verlautbarungen von zwei Spitzenverbänden der Wohlfahrtspflege und zwar vom Deutschen Caritasverband und Paritätischen Gesamtverband analysiert, die sie zu Änderungen des Sozialgesetzbuchs II, der Grundsicherung für Arbeitsuchende, umgangssprachlich auch als „Hartz IV“ bezeichnet, geäußert haben. 2010 ging es dabei um gravierende Kürzungen der Leistungen für Arbeitsuchende.
Autorin
Martina Messan hat Politikwissenschaft, Germanistische Linguistik und Pädagogik studiert und ist Stabsreferentin für Sozialpolitik sowie Referentin für Grundsatzfragen und Arbeitsmarkt im Caritasverband für die Diözese Trier e.V.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende Publikation ist die leicht überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift von Martina Messan. Dabei ist für mich bemerkenswert, dass sie ihre Änderungen in Fußnoten ausweist und sich bei ihren Gutachtern für deren Anregungen bedankt. Die von ihr bearbeitete Forschungsfrage ist nach ihrem eigenen Bekunden „im praktischen Zusammenhang der eigenen beruflichen Tätigkeit“ (S. 312) entstanden, was in ihren Ausführungen deutlich wird. Dabei werden das von ihr „eingebrachte persönliche Vorwissen und die Annahmen zum Forschungsgegenstand … immer wieder beschrieben und transparent dargelegt“ (ebd.).
Aufbau und Inhalt
Die insgesamt ‚netto‘ 344 Seiten (inklusive drei Seiten für Kurzfassung, Danksagung und drei einstimmende Zitate, knapp 30 Seiten Literaturverzeichnis, sieben Seiten Inhalts-, Abbildungs- und Tabellenverzeichnis) umfassende Publikation von Martina Messan gliedert sich in eine Einleitung und fünf Teile mit insgesamt 15 Kapiteln.
„Einleitung“
Mit dem bereits oben angesprochenen Bemühen, ihre Voraussetzungen und Vorannahmen präzise transparent und nachvollziehbar auszuweisen, führt Martina Messan in ihr Forschungsvorhaben ein, indem sie zwei Vorbemerkungen und vier Kernaussagen ihrer Skizze zu Aufbau und Vorgehensweise in ihrer Arbeit voranstellt. Dabei geht sie von zwei ‚Lobbyingdilemmata‘ (S. 27) aus, die ihren Untersuchungsgang leiten: Das erste Dilemma bezieht sich darauf, dass die Verbände im Zuge der Ökonomisierung der Sozialen Arbeit und der damit verbundenen geänderten Position als Auftragnehmer staatlicher Aufträge in der politischen Öffentlichkeit in den Verdacht geraten, mit ihrer Lobbyarbeit weniger die Interessen schwacher Bevölkerungsgruppen, sondern vielmehr ihre Eigeninteressen des ökonomischen Selbsterhalts ihrer Einrichtungen und Arbeitsplätze zu verfolgen. Zweitens vertritt Martina Messan die „Grundannahme eines ‚neuen Lobbyingdilemmas‘“ (S. 28), das sie zwischen dem öffentlichen Gemeinwohlverständnis und der wohlfahrtsverbandlichen Anwaltsfunktion verortet. In diesem Sinne stößt die Lobbyarbeit der Wohlfahrtsverbände z.B. für von Armut betroffene Menschen im gesellschaftlichen Diskurs zu Eigenverantwortung an deutliche Grenzen, denn schließlich sind diese selbst schuld.
„Grundlagen“
Dieser erste Teil beinhaltet fünf Kapitel, in denen Martina Messan zunächst im 2. Kapitel die von ihr verfolgte Forschungsfrage präzisiert. Anhand von Verlautbarungen der ihr ausgewählten beiden Spitzenverbände der Deutschen Wohlfahrtspflege, kurz: der Caritas und des Paritätischen, wird sie untersuchen, wie deren „Herstellung der advokatorischen Anwaltsfunktion für Personen im SGB II“ (S. 40) durch die veränderten sozialpolitischen Bedingungen beeinflusst wird. Im 3. Kapitel erläutert sie den aktuell in der Wohlfahrtsverbändeforschung vorhandenen Forschungsstand „zur advokatorischen Anwaltsfunktion“ (S. 66). Das 4. Kapitel gilt dem Forschungsbedarf und der „wissenschaftliche[n] Relevanz des Forschungsvorhabens“ (S. 81). Im 5. Kapitel konkretisiert Martina Messan ihre drei Zielsetzungen, die sie mit ihrer Studie verfolgt. Sie gelten (1) der Begriffsklärung der advokatorischen Anwaltsfunktion, (2) einer Bestandsaufnahme der Theorieansätze und empirischen Befunde in relevanten Wissenschaftsdisziplinen und (3) der angesprochenen qualitativen Dokumentenanalyse von Verlautbarungen der beiden Spitzenverbände Caritas und Paritätischer. Für die Bearbeitung ihrer drei Zielsetzungen entscheidet sie sich im 6. Kapitel als methodologischen Rahmen für die Grounded Theory und wählt die Qualitative Inhaltsanalyse von Philipp Mayring als forschungsmethodischen Zugang für ihre Dokumentenanalyse.
„Begriffsklärung – Zielsetzung 1“
Dieser zweite Teil enthält lediglich das 7. Kapitel, in dem sich Martina Messan mit verschiedenen Verständnissen von „advokatorischer Anwaltsfunktion“ beschäftigt und auf dieser Basis ihre Begriffsbestimmung vornimmt.
„Bestandsaufnahme – Zielsetzungen 2 (Teil 1)“
In den vier Kapiteln dieses dritten Teils erläutert Martina Messan zunächst im 8. Kapitel die Theoriezugänge, die sie für ihre Studie als relevant erachtet. Dies sind im Einzelnen jene (1) zum wohlfahrtsstaatlichen Wandel hin zum aktivierenden Sozialstaat, (2) aus der Wohlfahrtsverbändeforschung, (3) zur Repräsentations- und (4) sozialwissenschaftlichen Vorurteilsforschung sowie (5) der Politikfeldanalyse. Auf dieser breiten Theoriebasis stellt sie im 9. Kapitel eine Literaturanalyse dazu an, welche theoretischen und empirischen Befunde zur advokatorischen Anwaltsfunktion in der Sozialwirtschaft, der Sozialen Arbeit und in „Soziologie/Sozialwissenschaften“ (S. 210) vorhanden sind. Ihre Analyseergebnisse nutzt sie im 10. Kapitel, um im Sinne ihrer Forschungsfrage die Faktoren zu präzisieren, die die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege darin beeinflussen können, wie sie ihrer advokatorischen Anwaltsfunktion nachkommen. Des Weiteren stellt sie eine Forschungshypothese auf und entwickelt ihre Analysekriterien für ihre Dokumentenanalyse. Dieser dritte Teil endet mit einem „Zwischenfazit“ (S. 224) im 11. Kapitel.
„Bestandsaufnahme – Zielsetzung 2 (Teil 2)“
Dieser vierte Teil enthält lediglich das 12. Kapitel mit der Analyse der Verlautbarungen von Caritas und Paritätischem zum „Sparpaket“ (S. 228) zu den Leistungen nach SGB II bzw. Hartz IV. Das von Martina Messan für ihre so bezeichnete „Fallstudie“ (ebd.) ausgewählte „Sparpaket“ bot sich deshalb in besonderer Weise für ihre Untersuchung der Herstellung der advokatorischen Anwaltsfunktion durch die beiden Spitzenverbände an, weil es zwei verschiedenen Politikfeldern im SGB II galt (S. 35): Zum einen wurde im Rahmen der Arbeitsmarktpolitik der Eingliederungstitel um 50 Prozent gekürzt, wovon aktive Eingliederungsleistungen gemäß § 16 SGB II wie öffentlich geförderte Beschäftigung für Langzeitarbeitslose in erheblicher Weise betroffen waren (S. 35). Zum anderen wurde im Politikfeld Familie die Anrechnung des Elterngeldes auf die Höhe des Arbeitslosengeldes II beschlossen, sodass seit 2011 das Elterngeld bei Familien im Hartz IV Bezug mit voller Höhe auf das Arbeitslosengeld II angerechnet werden.
„Tragweite und Konsequenzen – Zielsetzung 3“
In diesem letzten Teil bewertet Martina Messan im 13. Kapitel vor dem Hintergrund ihrer literaturbasiert und empirisch gewonnenen Forschungsergebnisse die „Tragweite advokatorischer Anwaltschaft“ (S. 271). Im 14. Kapitel erläutert sie die Relevanz ihrer Ergebnisse und die damit verbundenen „Konsequenzen und Handlungsoptionen“ (S. 280), die diese nach ihrem Ermessen sowohl für die wohlfahrtsverbandliche Praxis als auch die wissenschaftliche Diskussion haben. Das 15. Kapitel beinhaltet zum Abschluss eine „Zusammenfassung und Ausblick“ (S. 310).
Diskussion und Fazit
Aus meinen Erläuterungen zu Aufbau und Inhalt der Publikation bzw. Dissertationsschrift mag deutlich geworden sein, dass sich Martina Messan in einer mich beeindruckenden, sehr umfassenden und differenzierten Weise mit den verschiedenen Theoriezugängen und Forschungsergebnissen auseinandergesetzt hat, die zur advokatorischen Anwaltschaft der freien Wohlfahrtspflege vorliegen und die sie zu einer aufschlussreichen Fundgrube für alle Interessierten zusammengeführt hat. Doch dabei belässt sie es nicht, sondern sie bereichert diesen Fundus mit weiterführenden Befunden aus ihrer exemplarisch zu zwei Spitzenverbänden angestellten „Einzelfallstudie“. Dort hat sie die Verlautbarungen zu dem 2010 erfolgten „Sparpaket“ in zwei das SGB II betreffenden Politikfeldern, d.h. der Arbeitsmarkt- und Familienpolitik analysiert und arbeitet heraus, wie sich Wohlfahrtsverbände in ihrem sozialverantwortlichen Lobbying einerseits von dem ökonomischen, auf Sozialinvestitionen abzielenden Argumentationsstrang des aktivierenden Sozialstaats sowie andererseits von gesellschaftlichen bzw. öffentlichen Gemeinwohlvorstellungen beeinflussen lassen. Deshalb empfehle ich diese Publikation allen Menschen, die sich in Wissenschaft und/oder Praxis mit Wohlfahrtsverbändeforschung und Sozialer Arbeit beschäftigen, ausdrücklich zur Lektüre!
Dennoch möchte ich nicht verhehlen, dass ich darüber gestolpert bin, dass Martina Messan ihre Studie methodologisch mit der Grounded Theory gerahmt hat. Dies ist meines Erachtens diskussionswürdig, besonders vor dem Hintergrund, dass sie nicht mit einer rekonstruktiven, sondern inhaltsanalytischen Methode geforscht hat. Des Weiteren sollten sich interessierte LeserInnen, um in einem Bild zu sprechen, darauf einstellen, dass sie bei ihrer Lektüre eine breit gefächerte und komplexe Galerie betreten, in der sie sich zuweilen in der vorhandenen Vielzahl unterschiedlicher Theoriezugänge und Argumentationsstränge zur advokatorischen Anwaltschaft der freien Wohlfahrtspflege verlaufen können. Dieses Risiko hat Martina Messan wohl selbst wahrgenommen, zumindest interpretiere ich so die von ihr zahlreich benutzten verschiedenen Hervorhebungen und Zwischenüberschriften, die zwar ihren Argumentationsgang leiten sollen, mich aber auch an einigen Stellen verwirrt haben. Des Weiteren musste ich mit Bedauern bei einzelnen, von mir angestellten Kostproben feststellen, dass mich interessierende Quellen nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt sind; insgesamt hätte ich mir ein sorgfältigeres Korrektorat gewünscht. Doch schmälern diese Stolpersteine keineswegs meine Einschätzung, dass ich diese meines Erachtens sehr gelungene, fundierte und umfassende Fundgrube verschiedener Theorieansätze und empirischer Befunden all denjenigen empfehle, die sich mit der Sozialanwaltschaft von Wohlfahrtsverbänden beschäftigen möchten!
Rezension von
Prof. Dr. Ruth Enggruber
Hochschule Düsseldorf, FB Sozial- und Kulturwissenschaften
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