Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig et al. (Hrsg.): Praxis der Sinus-Milieus
Rezensiert von Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt, 08.04.2020

Bertram Barth, Berthold Bodo Flaig, Norbert Schäuble, Manfred Tautscher (Hrsg.): Praxis der Sinus-Milieus. Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells. Springer VS (Wiesbaden) 2018. 237 Seiten. ISBN 978-3-658-19334-8. D: 29,99 EUR, A: 30,83 EUR, CH: 31,00 sFr.
Thematischer Rahmen
Wer zum Beispiel in der Kinder- und Jugendhilfe „unterwegs“ ist, der/die kennt die Sinus-(Jugend-)Milieus als aufschlussreiches Instrument zur Beschreibung der (subjektiv erlebten) Bedingungen des Aufwachsens von Jugendlichen und jungen Erwachsenen und zur Erklärung jugendkultureller Entwicklungen und Trends (vgl. Thomas, Peter Martin, und Marc Calmbach [Hrsg.]: Jugendliche Lebenswelten. Perspektiven für Politik, Pädagogik und Gesellschaft, Heidelberg 2013; vgl. die Rezension https://www.socialnet.de/rezensionen/15585.php). Seit der ersten Herausbildung der Sinus-Milieus Ende der 1970er Jahre (insbesondere der 1981 publizierten Studie über rechtsextremistische Einstellungen der [west-] deutschen Bevölkerung [5 Millionen Deutsche: „Wir sollten wieder einen Führer haben“, Reinbek]) wurden freilich viele (insbesondere empirische) Projekte mit den Milieus in anderen Feldern außerhalb des Kerns Sozialer Arbeit (überwiegend unveröffentlicht) durchgeführt (z.B. zu Themen wie der Alltagsästhetik, der Gleichstellungspolitik, zu politischen Strategien, zu religiösen und kirchlichen Orientierungen oder zum Geldanlageverhalten). Dass die Sinus-Milieus also mehr zu erklären in der Lage sind, das ist auch der vorliegende Sammelband bemüht.
Herausgeber
Das Buch wird herausgegeben von den vier Gesellschaftern der Milieuinstitute SINUS (mit Sitz in Heidelberg, Berlin und Singapur) und INTEGRAL (Wien). Dr. Bertram Barth ist Geschäftsführer der INTEGRAL-Marktforschung, Norbert Schäuble ist Gesellschafter und Berthold Bodo Flaig und Manfred Tautscher sind Geschäftsführer des SINUS-Instituts.
Aufbau und Inhalt
Bislang, so die Herausgeber, fehlte ein „Grundlagenwerk“, also „eine autoritative Darstellung des Milieuansatzes“ und dessen Anwendungsmöglichkeiten, mithin eine – möglichst breit zugängliche – Veröffentlichung, „die die Gültigkeit der Sinus-Milieus im Kontext der soziokulturellen Dynamik begründet, ihre Aktualität in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung untermauert und ihren Nutzwert für Wissenschaft und Wirtschaft wie für den institutionellen Bereich deutlich macht“ (S. V). Das vorliegende Buch (verfasst durch die wissenschaftlichen Beiräte, Gesellschafter, Mitarbeiter, Kunden und Partner von SINUS und INTEGRAL) soll diese Lücke „aus Sicht der Erfinder, Entwickler und Anwender des Ansatzes“ schließen helfen und vermitteln. wie es um die „Gegenwart und Zukunft eines modernen Gesellschafts- und Zielgruppenmodells“ (Untertitel) bestellt ist.
Der Band gliedert sich in drei Teile:
- Im ersten Teil („Grundlegung und Relevanz der Sinus-Milieus in Europa und weltweit“) geht es um die Grundlegung und Relevanz der Sinus-Milieus, um Logik des Ansatzes und dessen wissenschaftliche Einordnung im Kontext der sozialen Ungleichheitsforschung sowie um die Leistungsfähigkeit der Milieu-Segmentation und die Zukunftsrelevanz der Milieu-Zielgruppen. Dazu geht es Berthold Bodo Flaig und Bertram Barth zunächst darum Entstehung und Entfaltung des Informationssystems Sinus-Milieus darzustellen (S. 3–21) und anschließend deren Relevanz einzuordnen (S. 23–43). Norbert Schäuble, Manfred Tautscher, Matthias Arnold und Nico Hribernik erläutern die Sinus-Meta-Milieus als Beitrag zur Internationalisierung der Milieuforschung – von den nationalen Milieumodellen für die europäischen Nachbarländer bis zum länderübergreifenden Ansatz der Sinus-Meta-Milieus für entwickelte Industrieländer und Schwellenländer (S. 45–63).
- Im zweiten Teil („line extensions“) werden d.h. die Erweiterungen des klassischen Milieumodells für spezielle Bevölkerungsgruppen und Anwendungen betrachtet. Marc Calmbach präsentiert hier zunächst („Alles schön bunt hier“) die weithin bekannteste Lesart des Sinus-Modells für jugendliche Lebenswelten in Deutschland (S. 67–80), ergänzt durch den Beitrag von Bertram Barth, der das Modell für Jugendliche und junge Erwachsene in Österreich anwendet (S. 81–94). Weitere Beiträge liefern Rolf Küppers („Übertragung in den Raum: Die Sinus-Geo-Milieus“, S. 95–102) sowie Jan Hecht und Nico Hribemik („Der Mensch hinter dem User: Die Digitalen Sinus-Milieus“, S. 103–111). Einen Werkstatt-Bericht aus aktueller Forschung („Migrantische Lebenswelten in Deutschland: Update des Modells der Sinus-Migrantenmilieus“) steuern Berthold Bodo Flaig und Christoph Schleer bei (S. 113–123), während Silke Borgstedt und Frauke Stockmann („Segmentierungen für zukunftsorientiertes Marketing“) die breite Anwendungspalette der („maßgeschneiderten“) Sinus-Milieus darstellen (S. 125–135).
- Im dritten Teil(„Anwendungen“) befassen sich die Beiträge mit ausgewählten Nutzungsmöglichkeiten der Sinus-Milieuforschung in verschiedenen Märkten, wodurch beispielhaft die Bandbreite möglicher Anwendungen der Sinus-Milieus präsentiert wird, und zwar sowohl in der Mobilitätsforschung (Jens S. Dangschat, S. 139–153), der „Bildungsforschung mit den Sinus-Milieus“ (Heiner Barz, S. 155–169), im Nachwuchs- und Personalmarketing (Peter Martin Thomas, S. 171–180), in der Mediaplanung (Florian Mahrl und Martin Mayr, S. 181–192) als auch im Kirchenmarketing (Michael N. Ebertz, S. 209–225). Sven Reinecke und Christoph Wortmann fragen außerdem: „Google Knows it Better? Ein Plädoyer für integrierte und wider ausschließlich verhaltensorientierte Ansätze zur strategischen Kundensegmentierung“ (S. 193–207). Die hier zusammengetragenen Standpunkte und Überlegungen entstammen unmittelbar den Erfahrungen aus der Praxis und verweisen auch auf Grenzen des Ansatzes.
Diskussion
Zwei Beispiele sollen etwas deutlicher machen, wie im Sammelband argumentiert wird:
- In ihrem Beitrag „Aktuell und zukunftssicher: Die Relevanz der Sinus-Milieus“ verweisen Bertram Barth und Berthold Bodo Flaig auf eine politikberatende Perspektive der Sinus-Milieus, wenn sie auf die Entfremdung zwischen Politiker*innen einerseits und Wähler*innen anderseits zu sprechen kommen. Sie verweisen auf die Herausbildung zweier zentraler Milieus (die zugleich die bislang dominierender Sinus-Milieus der bürgerlichen Mitte und der Performer abzulösen beginnen): die Adaptiv-Pragmatischen (als neuer Mitte) und die Digitalen Individualisten (als neuer Elite). Adaptiv-Pragmatische werden (ihren Nützlichkeitserwägungen folgend) als flexibel, fleißig und angepasst charakterisiert, deren vorrangiges Ziel Sicherheit und Wohlgefühl im privaten Bereich sind und die (im Unterschied zur alten bürgerlichen Mitte) einen höheren Pragmatismus und unter anderem einen effizienten und selbstverständlichen Umgang mit den digitalen Entwicklungen ins Arbeitsleben ein bringen. Die Welt erleben als gefährlich und chaotisch, fühlen sich von den Eliten und Politiker*innen nicht wahrgenommen. Im Lichte ihres Nutzenabwägungen werden sie Rechtspopulisten wählen, wenn diesen ihnen glaubhaft machen können, dass sie ihre Lebenssituation verbessern. Als Lifestyle-Avantgarde sind die Digitalen Individualisten mental und geographisch mobil, online wie offline gut vernetzt und spielen mit Identitäten und Rollen; die Welt erleben sie als spannend und durch sie gestaltbar. Intensives Erleben und Selbstoptimierung bilden ihr Lebensziel, eine strikte Karriereorientierung ist ihnen fremd. Sehr gut ausgebildet und als Nachwuchskräfte begehrt werden sie das Arbeitsleben nachhaltig verändern, obgleich ihr Job für sie oft nur ein Projekt unter vielen ist. Darin konsequent „lehnen (sie) Hierarchien ab und fordern Netzstrukturen; sie lassen sich schwerer durch die klassischen Anreize wie Geld, Dienstwagen und Aufstieg motivieren und fordern stattdessen flexible Arbeitszeiten und Auszeiten“ (S. 37 f.). Ihre Distanz zu den Eliten gründet auf einem soliden Selbstbewusstsein, sie wünschen sich interessante und unterhaltsame (!) Politiker*innen. Rechtspopulistische Ideologien sind ihnen fremd, Abschottung und Nationalismus mit ihrer Grundorientierung nur schwer vereinbar. Was bedeuten diese im Sinus-Sprachgebrauch bezeichneten „Zukunftsmilieus“ für die gesellschaftliche Zukunft, fragen die Verfasser weiter, zum Beispiel hinsichtlich der Erwartungen an das politische System? Gerade hier wird der auch politikberatende Duktus des Sinus-Ansatzes deutlich. So schreiben Barth und Flaig zum Beispiel: „Von vorneherein scheinen die politischen Erwartungen inkompatibel. Die Adaptiv-Pragmatischen erwarten von der Politik Sicherheit und Schutz vor Veränderungen. Die Digitalen Individualisten dagegen wollen, dass ihnen die Politik Möglichkeitsräume öffnet. Aber es gibt eine große Gemeinsamkeit zwischen beiden Milieus. Beide sind auf konkrete Vorteile aus und relativ schwer erreichbar für Ideologien. Beide wissen, dass die Welt so ist, wie sie ist, und dass sie nicht verbissen die Rückkehr in die vorgeblich heile Welt früherer Zeiten fordern können. Die aktuellen Erfolge der rechtspopulistischen Parteien haben viel mit Ressentiments und nostalgischen Verblendungen zu tun und werden nicht von den Zukunftsmilieus getragen.“ Die politische Zukunft werde, so beide Autoren, wohl „nüchterner und rationaler“ sein (S. 38 f.). Dabei stelle sich auch die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn unterschiedliche (Zukunfts-) Milieus kein gemeinsames, verbindendes Ziel mehr haben (wie das in den Gesellschaften der 1950er bis 1990er Jahre der Fall war): Digitale Individualisten und Adaptiv-Pragmatische werden sehr unterschiedliche Lebensperspektiven entwickeln. Doch zugleich kennzeichne sie gemeinsam (bei den Adaptiv-Pragmatischen jedenfalls noch mehrheitlich, bei den Digitalen Individualisten ganz überwiegend) auch eine positive Zukunftsorientierung: Dieser Optimismus stehe „für unterschiedliche akzentuierte Offenheit und Kompetenzen im Umgang mit den gegenwärtigen gesellschaftlichen Möglichkeiten und Herausforderungen“ (S. 39 f.). Barth und Flaig schlussfolgern deshalb: „Eine politische Notwendigkeit der Zukunft wird es sein, einen stabilen gemeinsamen Nenner zwischen der skeptisch vorsichtigen neuen Mitte und der überschwänglich offenen neuen Elite zu definieren, aus der Basis von überzeugenden Vorteilen für beide“ (S. 40).
- Eine auf den ersten Blick etwas andere Perspektive macht der zweite hier beispielhaft gewählte Beitrag auf: Jens S. Dangschat weist in seinem Text („Soziale Milieus in er Mobilitätsforschung“) darauf hin, dass (soziologisch betrachtet) man davon ausgeht, „dass mittels der Merk male sozialer Ungleichheit unterschiedliche Einstellungen und Verhaltensweisen erklärt werden können. Aufgrund der gesellschaftlichen Ausdifferenzierungen haben jedoch die klassischen soziodemografischen Merkmale an Erklärungskraft verloren. Im Gegensatz dazu gewinnen soziokulturelle Merk male wie Lebensstil und soziales Milieu/Habitus an Bedeutung. Im folgenden Beitrag wird geprüft, inwieweit der Ansatz der Sinus-Milieus zu besseren Erklärungen unterschiedlichen Mobilitätsverhaltens führt, als dies mit traditionellen Merkmalen möglich ist“ (S. 139). Dies sei im Projekt „mobility2know“ (m2k) auch in Bezug auf Mobilitätsstile und soziale Milieus nachweisbar geworden. Hier wurde erstmalig das Modell der Sinus-Milieus im Rahmen einer Mobilitätsstudie angewandt. Gefördert vom Österreichischen Bundesministerium für Verkehr, Innovation und Technologie wurde eine siedlungsstrukturelle, zentralörtliche und ökonomische Typologie über alle Politischen Bezirke (Kreise) Österreichs gebildet, aus jedem der so ermittelten Typen je zwei Vertreter als Grundgesamtheit ausgewählt und je eine Zufallsstichprobe gezogen. Die gesamte Stichprobe wurde nach den aus der Statistik bekannten Parametern, aber auch nach der quantitativen Stärke der Sinus-Milieus gewichtet. Dangschat kann im Ergebnis der Studie zum Beispiel zeigen, dass, je größer die Freiheitsgrade bei der Entscheidung bzw. je stärker zeitliche, ökonomische Einschränkungen und Verpflichtungen sind, desto besser/schlechter können Verhaltensunterschiede mittels sozialer Milieus erklärt werden (S. 143 f.). Möglich sei es, mit Hilfe der Sinus-Milieus die Unterschiede im Mobilitätsverhalten insbesondere dort besser zu erklären, wo die Freiheitsgrade der Entscheidungen groß und die materiellen Einschränkungen von Zeit und Geld gering sind (S. 148). Auch hier ergeben sich unmittelbar politikberatende Aspekte, hier jedoch fokussiert auf den politischen Teilbereich der Mobilitätsförderung. Deutlich werden auch hier Bezüge zu den von Bertram Barth und Berthold Bodo Flaig in den Blick genommenen Zukunftsmilieus.
Fazit
Ob mit dem vorliegenden Sammelband die von den Herausgebern gewünschte Lückenschließung erfolgen kann und das gesuchte Grundlagenwerk vorliegt, das mag offen bleiben. Jedenfalls werden die Sinus-Milieus anschaulich vermittelt und das sie charakterisierende „Kartoffelbild“, von dem in öffentlichen Präsentationen im Blick auf die Milieustudien zu Kindheit, Jugend und jungen Erwachsenen immer wieder gesprochen wird (vgl. S. 69), erhält vielfältige, weit über Kindheit und Jugend hinausgehende Übersetzungen.
Die Breite der Anwendungen wird illustrativ, verständlich und zugänglich für die um Rezeption bemühte Praxis zugänglich gemacht. Dabei erhält das Werk phasenweise freilich auch den Charakter einer „Werbeveranstaltung“ für die Arbeit der Institute SINUS und INTEGRAL, zumal kritische Sichtweisen von außen kaum eingebracht sind (die der Gesamtschau und dem Band sicher dienlich gewesen wären).
Dessen ungeachtet: Wer den Blick über das bisherige Sichtfeld auf die für die Soziale Arbeit vordergründig zentraleren Themen erweitern möchte, der/die ist mit der „Praxis der Sinus-Milieus“ sehr gut bedient.
Rezension von
Prof. Dr. Peter-Ulrich Wendt
Professur für Grundlagen und Methoden der Sozialen Arbeit an der Hochschule Magdeburg
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