Silke Meyer: Das verschuldete Selbst
Rezensiert von Prof. Dr. Kerstin Herzog, 25.09.2019

Silke Meyer: Das verschuldete Selbst. Narrativer Umgang mit Privatinsolvenz.
Campus Verlag
(Frankfurt) 2017.
447 Seiten.
ISBN 978-3-593-50688-3.
D: 39,95 EUR,
A: 41,10 EUR,
CH: 48,70 sFr.
Reihe: Arbeit und Alltag - Band 12.
Thema
Wie verbinden sich ökonomische Schuldverhältnisse mit Fragen von Schuld? Dieser Frage geht die Autorin in ihrer empirischen Studie aus kulturwissenschaftlicher Perspektive nach. Ihr narrationsanalytischer Fokus dient dazu, die 45 geführten Interviews als Praxen der Aushandlung von Subjektpositionen in Relation zu aktuellen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und hegemonialen Diskursen zu begreifen. Sichtbar wird so die historisch spezifische Verknüpfung der Schuldfrage mit den „Anrufungen des neoliberalen Tugendkatalogs in der Gegenwartsgesellschaft“ (S. 379).
Autorin und Entstehungshintergrund
Silke Meyer ist Professorin für Europäische Ethnologie an der Universität Innsbruck. Mit diesem Werk legt sie ihre Habilitationsschrift vor und verortet sich hiermit einerseits im Kontext der empirischen Subjektivierungsforschung, andererseits innerhalb der Ver- und Überschuldungsforschung.
Aufbau und Inhalt
Das Werk besteht im Wesentlichen aus sieben zentralen Kapiteln, wovon die Analyse und Darstellung der Schuldengeschichten den stärksten Teil des Buches ausmacht.
Im ersten Kapitel („Einleitung“) findet die Verortung des Forschungsanliegens statt. Wird dieses einleitend als „Frage nach Ökonomie, Bedeutung und Praxis von Verschuldung“ (S. 7) eingeführt, folgt direkt die Präzisierung: Gegenstand der empirischen Studie sind narrative Praktiken, die als diskursive Praktiken begriffen werden. Narratives Handeln bzw. „Erzählen“ diene so der sozialen Positionierung und Aushandlung von Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe. Ein kurzer historischer Blick (S. 12 ff.) führt in die Frage ein, wie sich ökonomische Schulden mit der Frage von Schuld verbinden ließen und lassen. Damit ist der Bogen von den narrativen Praktiken zu Subjektivierungsprozessen geschlagen, die im Unterkapitel zur „Empirischen Subjektivierungsforschung“ methodologisch ausdifferenziert werden. Hierbei erfolgt u.a. die Bezugnahme auf Edward P. Thompsons Konzept der moralischen Ökonomie, welches für „ein Geflecht von kollektiv begründeten und individuell gelebten Praktiken und Vorstellungen von Fairness bei Distributions- und Tauschbeziehungen“ (S. 23) sensibilisiert. Am Ende des einleitenden Kapitels findet sich ein Überblick zur historischen Entwicklung des Konsumentenkreditwesens in Deutschland sowie zum Stand der Überschuldungsforschung.
Unter der Überschrift „Soziale und kulturelle Aspekte des Kredit- und Schuldenwesens“ (zweites Kapitel) werden Kredite und konkrete Schuldverständnisse als Repräsentation von historisch spezifischen Vergesellschaftungsformen begriffen. Damit verweist die Autorin auf eine Transformation der „Schnittstelle zwischen ökonomischen Transaktionen, sozialer Praxis und ihrer moralischen Bewertung“ (S. 49). Dieses Verhältnis wird konsequent in ihrer Darstellung des historischen Wandels verfolgt, sodass sichtbar wird, welche Effekte gesellschaftlicher Wandel auf Schuldenpraktiken hat. Herausgearbeitet wird dabei, wie sich im Kontext neoliberaler Entwicklungen die soziale Dimension von Schuldverhältnissen verschärft.
Im dritten Kapitel („Verschuldung erforschen: Methodik der Datenerhebung“) wird die Autorin als kritisch-reflektierte Forscherin sichtbar. So dient dieser Teil zwar der Darstellung des methodischen Vorgehens, formuliert jedoch ebenso Angebote im Sinne einer kritischen Methodenentwicklung. Konsequent werden die Position der Forscherin aber auch Schwierigkeiten im Forschungsprozess so reflektiert, dass die Darstellung der Grenzen bereits an dieser Stelle zur Schärfung der im weiteren Verlauf präsentierten Ergebnisse beiträgt. Darüber hinaus wird auch in dieser Forschung sichtbar: Der Zugang zu Menschen, die sich in finanziell schwierigen Situationen befinden, lässt sich nicht einfach finden (vgl. auch Herzog 2015; Müller et. al. 2018); in der konkreten Studie gelang dies v.a. vermittelt durch Schuldenberatungsstellen, was in diesem Kapitel ebenfalls reflektiert wird.
Die „Narrationsanalyse als kulturwissenschaftliche Methode: Datenauswertung“ wird im vierten Kapitel ausführlicher dargestellt und mit dem Potenzial eingeführt, Nachvollziehbarkeit und Transparenz in der Datenauswertung zu ermöglichen. Unter der Annahme, dass Sprechen soziales Handeln bedeutet und damit die „Funktionen der Individualisierung und Kollektivierung zugleich“ (S. 90) innehat, fokussiert die Narrationsanalyse Strategien der Sinnstiftung zwischen individuellen Bedeutungszuschreibungen und sozialer Struktur. Grundlegend führt die Autorin in diesem Kapitel in die kulturwissenschaftliche Analyse des Erzählens ein: Als kulturelle Praktik und Konstruktionsleistung, die auf ihre Funktionen und Formen hin zu befragen ist, wird die narrative Kompetenz des Erzählens als soziokulturelle Fertigkeit verstehbar. Da sich im Erzählen jedoch stets die Funktionen der Individualisierung und Kollektivierung zugleich zeigen, ist narrative Kompetenz als situativ und kontextabhängig zu beschreiben. Hierbei ist der Einzelne in seine Geschichten „verstrickt“ (S. 127) und formt seine narrative Identität unter Rückgriff auf diskursive Rahmenbedingungen.
Herzstück des Buches sind die im fünften Kapitel vorgestellten „Schuldengeschichten und der narrative Habitus der Rechtfertigung“. Dabei gilt die Suchbewegung der „argumentative[n;KH] Haltung (…), die Rationalität erzeugen soll“ (S. 132). Die Ergebnisse werden differenziert nach Erzählmustern (Erfolgsgeschichten, Vergleichsgeschichten als soziale Positionierung, Versachlichen als Bewältigungsstrategie, Beziehungsgeschichten, Sprechen über Scheitern, Schweigemuster, Wünsche und Hoffnungen: „ein ganz normales Leben“, die ethische Narrativitätsthese: die Moral der Geschichte), welche wiederum nach den Inhalten konkretisierend strukturiert werden. So tauchen beispielsweise die Erzählfiguren der „Trickster“ (S. 174 ff.) und „Underdogs“ (S. 149 ff.) auf oder es werden Bezüge zu Alltagstopoi wie „Beim Geld hört die Liebe auf“ (S. 253 ff.) hergestellt. Die Interviewpassagen werden mit Biogrammen zu den Interviewten eingeleitet und verbinden sich gelungen mit den Theoretisierungen.
Hervorzuheben ist auch der Abschnitt zu den Schweigemustern: Hier steht neben dem Unsagbaren in den Schuldengeschichten, die Forscherin selbst besonders im Fokus, indem sie reflektiert, wie auch der Forschungsprozess, Interviewkontext und sie selbst als Interaktionspartnerin zum Schweigen beigetragen haben.
Im Abschnitt „Subjektivierungsformate in Schuldendiskursen“ (sechstes Kapitel) werden als Ergebnis des Interviewmaterials zwei zentrale Subjektformationen aufgegriffen und näher betrachtet: die Insolvenzordnung als Ausdruck staatlicher Regierungspraxis sowie die medialen Denk- und Argumentationsmuster („Gouvernemedialisierung“, S. 329, H.i.O. unter Verweis auf Engemann 2013; Traue 2009). Ziel ist es, Diskursstrukuren der Ver- und Entschuldung sowie deren Wissensproduktion herauszuarbeiten, um die Subjektivierungsweisen in den Schuldengeschichten gesellschaftlich und historisch zu kontextualisieren. Sorgfältig arbeitet die Autorin anhand der Verfahrenslogik des Insolvenzverfahrens und seiner moralischen Figur der Redlichkeit die pädagogische Zielsetzung des Verfahrens heraus und verweist auf die darin eingelagerten Ansprüche der Selbstaktivierung und Fremddisziplinierung. Transformationsanalytisch wird damit die Insolvenzordnung zwischen aufklärerisch-modernen und neoliberal-postmodernen Regierungsweisen verortet; die aktuellen Reformen des Insolvenzrechts zeigen jedoch bereits Verschiebungen hin zur Selbstaktivierung. Auch der mediale Schuldendiskurs – zentral argumentiert an der Unterhaltungsshow „Raus aus den Schulden“ – repräsentiert neoliberale Anrufungen der Eigenaktivität und Eigenverantwortung. Eine besondere Bedeutung erhalten in diesem Kontext die partizipativen Techniken, die in den neuen Medienangeboten eingelagert sind, indem sie Selbstentwürfe technisch vorstrukturieren: Die digitalen Ermächtigungsangebote wirken normalisierend, bieten jedoch je nach Ausgestaltung ebenso Räume der Selbstbestimmung. Diese sollten jedoch in Situationen der Verschuldung nicht ausschließlich als Handlungsfreiheit missverstanden werden, sondern in erster Linie als Umgang mit ökonomischer Knappheit und Ausschließungserfahrungen, und damit als Bearbeitung von „Not“.
Gebündelt vorgestellt werden die Ergebnisse im siebten und letzten Kapitel mit dem Titel „Der Ich-Effekt der Schuldenerzählungen: Zusammenfassung und Ergebnisse“. Mit Blick auf die Frage, wie bei juristischer Entschuldung die moralische Schuld bearbeitet wird, stellt die Autorin vier zentrale Ergebnisse heraus (S. 379ff), die die „hier beschriebenen Schulden- und Schuldverhältnisse als Ausdruck einer neoliberal verfassten Gesellschaft“ (S. 381) ausweisen: Narrative Praktiken der Eigenaktivität, Eigenverantwortlichkeit und Selbstauskunft bieten diskursive Anschlussfähigkeit, wenn auch um den Preis der „Selbstmoralisierung“. Als Effekt der narrativen Verantwortungsübernahme werden jedoch die strukturellen Ursachen der Ver- und Überschuldung tendenziell unsichtbar. Bemerkenswert ist, dass sich daneben in den Selbstdarstellungen starke Bezugnahmen auf (vermeintlich überholte) Normalitätskonzepte wie den Normallebenslauf finden, die sich jedoch vor dem Hintergrund von Stigmatisierungs- und Ausschließungserfahrungen als Strategien der Normalisierung und Zugehörigkeitserklärung lesen lassen. Geschärft wird die Analyse mit Blick auf historische Schulden- und Schuldverhältnisse. So liege in der „Verschränkung von Ökonomisierung und Moralisierung (…) das neoliberale Wesen der gegenwärtigen Schuldverhältnisse“ (S. 393): Entschuldung erfordert nicht nur die Übernahme der moralischen Verantwortung, sondern zugleich die Verinnerlichung und Demonstration neoliberaler Tugenden, um so die moralische Schuld zumindest zu mildern.
Diskussion
Wie bereits angedeutet, leistet dieses Werk einen substantiellen Beitrag für die empirische Subjektivierungsforschung und ist hierdurch ebenfalls für die Sozialwissenschaften und deren akteurszentrierte Forschung relevant. Die subjektivierenden Erzählpraktiken werden in ihrer Komplexität in Suchbewegungen zwischen bestehenden theoretischen Bezügen und dem empirischen Material zirkulär entfaltet. Damit ist diese Arbeit nicht nur ein empirisches, sondern auch ein methodologisches Werkstück.
Inspirierend ist die konsequente methodenkritische und selbstreflexive Haltung der Forscherin, die transparent und nachvollziehbar präsentiert wird. Damit wird u.a. sichtbar, dass die Interaktionssituationen der Interviews eine Nähe zu Beratungssituationen, die den Interviewten vertraut waren, aufweisen. Hier hat das Sample eine kleinere „Schlagseite“, indem vorrangig Interviewpartner*innen über die Schuldenberatungsstellen rekrutiert werden konnten. Dies wird von der Autorin jedoch nicht als Hindernis begriffen, sondern konsequent in die Analyse mit einbezogen. Letztendlich finden sich so auch an einigen Stellen Verweise auf die Rolle der Schuldnerberatung im Rahmen der Subjektivierungsprozesse.
Für die Ver- und Überschuldungsforschung lassen sich aus dieser Arbeit ebenfalls bedeutsame Ergebnisse mitnehmen. So ist beispielsweise die Darstellung der Diskursstrukturen im Kontext der Medien wie der Insolvenzordnung prägnant in Hinblick auf deren neoliberales Fundament. Je nach eigener fachlicher Verortung bieten sich hierdurch zumindest politische Anknüpfungspunkte – sei es im Kontext der Verbraucherforschung, die das Leitbild des „mündigen Verbrauchers“ auch kritisch diskutiert, oder der (kritischen) Sozialen Arbeit, die die Gebrauchswerthaltigkeit ihrer Angebote aus Sicht der Nutzer*innen reflektieren möchte.
Fazit
Die Studie von Silke Meyer lässt sich mit unterschiedlichen Blickwinkeln lesen und ist somit für unterschiedliche Zielgruppen interessant. Der Schreibstil ist klar, wenn auch gerade die Methodologie in ihrer Dichte und Konsequenz anspruchsvoll zu lesen ist. Demgegenüber sind gerade die methodischen Reflexionen sowie die Darstellung der Schuldengeschichten sehr eingängig und bieten damit auch „Forschungsneulingen“ Anregungen. Für die Schuldenberatung, die in ihrer Beratungspraxis ebenfalls mit „Erzählungen“ arbeitet, finden sich gerade in den Schuldengeschichten inspirierende Ansatzpunkte.
Literatur
Engemann, Christoph (2013): Write me down, make me real – zur Gouvernemedialität digitaler Identität. In: Passotz, Jan-Hendrik/Wehner, Josef (Hg.): Quoten, Kurven und Profile. Zur Vermessung der sozialen Welt. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 205–227.
Herzog, Kerstin (2015): Schulden und Alltag. Arbeit mit schwierigen finanziellen Situationen und die (Nicht-) Nutzung von Schuldnerberatung. Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot.
Müller, Marion; Pfeil, Patricia; Dengel, Udo; Donath, Lisa (2018): Identität unter Druck. Überschuldung in der Mittelschicht. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
Traue, Boris (2009): Gouvernemedialität der digitalen Partizipation. Überlegungen zu medialen und gesellschaftlichen Voraussetzungen der Schriftkundigkeit. In: Sozialwissenschaften und Berufspraxis (SuB), 32, 2, S. 169–183.
Rezension von
Prof. Dr. Kerstin Herzog
Diplom-Sozialpädagogin, Schulden- und Insolvenzberaterin
Seit 01.07.2022 Professorin für Soziale Arbeit und prekäre Lebensverhältnisse an der Hochschule RheinMain.
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Zitiervorschlag
Kerstin Herzog. Rezension vom 25.09.2019 zu:
Silke Meyer: Das verschuldete Selbst. Narrativer Umgang mit Privatinsolvenz. Campus Verlag
(Frankfurt) 2017.
ISBN 978-3-593-50688-3.
Reihe: Arbeit und Alltag - Band 12.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25725.php, Datum des Zugriffs 02.12.2023.
Urheberrecht
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