Almuth Bruder-Bezzel: Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse
Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 29.10.2019

Almuth Bruder-Bezzel: Alfred Adlers Wiener Kreise in Politik, Literatur und Psychoanalyse. Beiträge zur Geschichte der Individualpsychologie. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2019. 268 Seiten. ISBN 978-3-525-40635-9. D: 30,00 EUR, A: 31,00 EUR.
Thema
Das Buch versammelt eine Reihe von – sonst nur verstreut publizierten – Beiträgen über den psychoanalytischen Dissidenten Alfred Adler, dessen avantgardistische und gesellschaftspolitische „Wiener Kreise“ Anfang des 19. Jahrhunderts bislang nur wenig bekannt waren. Die Forschungsergebnisse betreffen insb. Einflüsse und Personen der literarischen, künstlerischen, pazifistischen und dissident-psychoanalytischen Szene, namentlich Elisabeth Bergner, Albert Ehrenstein, Otto Gross, Gina & Otto Kaus, Arthur Kronfeld, Ludwig Rubiner, Manès Sperber, Wilhelm Stekel, Charlot Strasser & Vera Eppelbaum-Strasser, Erwin Wexberg.
AutorIn oder HerausgeberIn
Die Diplom-Psychologin Dr. phil. Almuth Bruder-Bezzel ist Psychoanalytikerin (DGIP, DGPT). Sie arbeitet in eigener Praxis, ist als Lehranalytikerin und Supervisorin tätig und Mitbegründerin des Berliner Alfred-Adler-Instituts (AAI).
Entstehungshintergrund
Mit diesem Band zur Geschichte der Individualpsychologie vertieft die Herausgeberin ihre vorhergehenden Arbeiten historischer Spurensuche zur Individualpsychologie fort. Der Klappentext fasst zusammen: „Ihre Forschungen zur Geschichte der Individualpsychologie über Jahrzehnte haben das Wissen und Bild über Adler maßgeblich geprägt.“
Aufbau und Inhalt
Der Reader kompiliert neun sehr unterschiedliche Beiträge
- über Beziehungen Adlers zu Albert Ehrenstein und zum Wiener literarischen Expressionismus,
- zu „Adlers Aufstand“ auf dem Internationalen Kongress der Psychoanalyse in Nürnberg 1910 und Gründung des Zentralblatts für Psychoanalyse,
- mit Fokussierung des „Strebens nach Macht“ in Beziehung zur narzisstischen Charakterstruktur,
- zu Adlers politischen und individualpsychologischen Konsequenzen aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs,
- über Grenzgänge der Individualpsychologie, repräsentiert durch deren „Anhänger und Aktivisten“ Otto Kaus, in Literatur und Politik der 1920er und 1930er Jahre,
- mit „Verbindungslinien“ zwischen den „ungleichen Dissidenten“ der Psychoanalyse Otto Gross und Alfred Adler,
- zur erkenntnistheoretischen Debatte der 1920er/1930er Jahre, ob bzw. inwiefern die Individualpsychologie eine Wissenschaft sein kann (und will),
- hinsichtlich einer marxistischen Individualpsychologie des Adler-Schülers Manès Sperber,
- zu Konvergenzen wie Divergenzen in Konzepten einer „Lebenskunst“ bei Adler und Friedrich Nietzsche.
Die Herausgeberin fasst in der Einleitung programmatisch zusammen: „Das vorliegende Buch versammelt Aufsätze, die sich – so die Herausgeberin – mit Adlers sozialem und persönlichem Umfeld, seinen Kreisen, seinen Bezugspersonen oder Anhängern beschäftigen. In diesem Umeld ist die Entwicklung seiner Theorien […] zu begreifen, die selbstverständlich auch immer wieder Gegenstand der Darstellung und Auseinandersetzung ist. Es geht um seine letzten direkten Kontakte mit der Psychoanalyse (Kongress 2010) und das psychoanalytische Umfeld […], um Literaturinterpretation und die literarische Szene […], um die expressionistische, rebellische und pazifistische Künstlerszene, die er begleitet und gefördert hat […], um Adlers Stellung zum Ersten Weltkrieg und um die wissenschaftlichen Debatten um die Individualpsychologie. Einen besonderen Platz nehmen Adlers Schüler ein – mehr oder weniger abtrünnige – wie Otto Kaus und Manès Sperber. Kaus ist eine Neuentdeckung und wird hier erstmals und möglichst umfassend vorgestellt“ (S. 9–10).
Entsprechend enthalten die einzelnen Beiträge gesonderte und umfangreiche Zusammenstellungen der jeweils zitierten, die Thematik dokumentierenden Originalquellen und weiterführenden Fachliteratur.
Diskussion
Almuth Bruder-Bezzel leistet – sich – eine breit gefächerte, gut recherchierte und fachkundig aufbereitete Lektüre der einschlägigen Literatur und entwickelt hierüber ein plastisches, vielseitiges und informiertes Panorama der psychosozialen wie gesellschaftspolitischen (Um-)Felder der psychoanalytischen Bewegung(en) zu Anfang des letzten Jahrhunderts. Was ihr – an Alfred Adler anknüpfend und ihn zugleich vertiefend – gelingt, ist die Verdeutlichung einer Interdependenz wissenschaftlicher Theorie und Praxis in ihrer Abhängigkeit von und Wirkung auf soziale/n Bedingungen. Insofern erfahren LeserInnen nicht nur mehr und detaillierter über sonst allenfalls kursorisch bekannte Entwicklungen der 'frühen' psychoanalytischen und individualpsychologischen Entwicklung, sondern sind zugleich sowohl angeregt als auch gefordert, aktuelle Konzepte und Modelle psychotherapeutischen Be-/Handelns auf deren sozialpsychologische/-politische Begründung und Wirksamkeit hin zu untersuchen. Parallel wird nachvollziehbar, dass psychoanalytisches Arbeiten jene Kunst darstellt, von der Caruso (1972, S. 142) angab, bei/in ihr gehe es als „mühsame Praxis mit einem alltäglichen konkreten Menschen“ darum, „nach dem Maß der Möglichkeit das zerrissene Gewebe der individuell gelebten Geschichte zu flicken“.
Fast subtil thematisiert die Herausgeberin die Not – und Notwendigkeit – jeder psychologischen Erkenntnis- und Anwendungswissenschaft, vom konkreten gesellschaftlichen Subjekt auszugehen und sich hinterfragen lassen zu müssen, „ob ihr homo psychologicus lebensfähig wäre, ob er Gesellschaft entwickeln könnte, ob er Psychologie hervorzubringen und anzuwenden imstande wäre“ (Kaminski, 1970, S. 5). Wie sehr dies bereits ein adlerianischer Anspruch ist, wird in der Adlerbiografie Sperbers in dessen Kritik verdeutlicht, „dass die wissenschaftliche Isolierung von Verhaltensweisen, obschon mit ausgezeichneten Forschungsmitteln erreicht, dazu dient, den Menschen so gründlich zu verkennen, dass er unter der Hand verschwindet“ (Sperber, 1971, S. 129). Für Bruder-Bezzel gelingt dies u.a. in jenen „Grenzgängen“, wie sie in den politischen, literarischen und 'dissidenten' Exkursen Adlers nachvollzogen und anhand der differenziert – und mit Portraitphoto – vorgestellten Interaktionspartner herausgearbeitet werden. Insofern vollzieht sie eine Art doppelten Diskurs. Einerseits nimmt sie eine Dokumentation der ## Alfred Adlers vor, stellt parallel die jeweiligen (mehr als nur flüchtig porträtierten) Zeitgenossen der psychoanalytischen, künstlerischen und politischen Szene(n) vor. Andererseits aber expliziert, sprich, veranschaulicht sie in konkreten Lebensbezügen auch Fundamente jener selbstreflexiven Haltung und „Lebenskunst“, wie sie „für Adler nur als soziales Ereignis und Ergebnis denkbar“ war (Bruder-Bezzel, 2019, S. 256). Mit diesen Vignetten wird nicht nur deutlich, dass Psychologie/Psychoanalyse sich nicht nur als „tief in die gesellschaftliche Realität verstrickt“ erweist, sondern auch als ahistorische „Verschiebung der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit“ auf die individuelle Psyche, als „Verschiebung in der Struktur der Gesellschaft selber“ mitgedacht werden muss (Jacoby, 1978, 16).
Fazit
Anhand der Person Alfred Adlers und seiner InteraktionspartnerInnen erhellt der Reader in neun verschiedenen Beiträgen schlaglichtartig psychoanalytisch-individualpsychologische, literarische, gesellschaftspolitische und avantgardistische Szenen aus dem ersten Viertel des letzten Jahrhunderts. Der Sammelband trägt – gerade mit gut recherchierten und belegten – Querverweisen auf Personen der Zeitgeschichte dazu bei, ein in den Details eindrückliches kulturelles Gedächtnis (wieder) herzustellen, die Entwicklung psychodynamischer Theorie und Praxis im Kontext eines (heute abermals modernen) bio-psycho-sozialen Selbstverständnisses nachvollziehbar zu machen. Adler geht es – damals wie derzeit – darum, dass es nicht genügt, als Mensch geboren zu sein, sondern dass man lernen müsse, als solidarischer Nächster, als „Mitmensch“, zu leben. Entlang dieser impliziten Prämisse fragen, ja, tasten die Texte psychodynamische Modelle in diversen Er-/Lebensbereiche ab, testen deren Tragfähigkeit im Diskurs mit Repräsentanten dissident-psychoanalytischer und künstlerischer Milieus, offerieren Ein- und Rückblicke auf die Ideengeschichte aktueller individual- und sozialpsychologischer Konzepte.
Literatur
Caruso, I.A. 1972. Soziale Aspekte der Psychoanalyse. Reinbek: Rowohlt.
Jacoby,R. 1978. Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing. Frankfurt a.m.: Suhrkamp.
Kaminski, G. 1970. Verhaltenstherapie und Verhaltensmodifikation. Entwurf einer integrativen Theorie psychologischer Praxis. Stuugart: Klett.
Sperber, M. 1971. Alfred Adler oder Das Elend der Psychologie. Frankfurt a.M.: Fischer.
Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und
Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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