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Ute Kahle: Inklusion, Teilhabe und Behinderung

Rezensiert von Prof. Dr. Albrecht Rohrmann, 19.12.2019

Cover Ute Kahle: Inklusion, Teilhabe und Behinderung ISBN 978-3-88617-223-8

Ute Kahle: Inklusion, Teilhabe und Behinderung. Herausforderungen und Perspektiven der Transformationsprozesse von Organisationen der Behindertenhilfe aus institutioneller Sicht. Lebenshilfe-Verlag (Marburg) 2019. 560 Seiten. ISBN 978-3-88617-223-8. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

Die Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderungen befinden sich im Umbruch. Die Forderung von Menschen mit Behinderungen nach Selbstbestimmung und die Kritik an Sondereinrichtungen, die Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) und die weitreichende Reform der Rehabilitation und Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz (BTHG) erfordern Transformationsprozesse in Diensten und Einrichtungen. Die Veröffentlichung reiht sich ein, in Arbeiten, die das Theorieangebot des Neo-Institutionalismus für eine Analyse dieser Veränderungen erschließen. Empirisch will die Arbeit herausfinden: „In welcher Art und Weise setzen Einrichtungen der Behindertenhilfe Inklusion um?“ (S. 29).

Autorin und Entstehungshintergrund

Es handelt sich um die Dissertationsschrift von Ute Kahle, die 2017 von der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel am Institut für Diakoniewissenschaft und Diakonie Management angenommen wurde.

Inhalt

Im ersten Teil der Arbeit (A, S. 15 - 406) ordnet die Autorin die Arbeit in den Kontext der sich entwickelnden inter-, trans- und multidisziplinären Teilhabeforschung sowie den Kontext der Diakoniewissenschaft ein. Den Ausgangspunkt der theoretischen Rahmung der Arbeit wählt die Autorin in einer breit angelegten Auseinandersetzung mit dem Behinderungsbegriff. Sie zeigt, dass Leitkonzeptionen der Behindertenhilfe davon entscheidend geprägt werden. Die Konzeptionen reagieren zugleich auf gesellschaftliche Entwicklungstrends. Ebenfalls sehr umfassend wird in die rechtlichen und sozialpolitischen Rahmenbedingungen der Entwicklung der Behindertenhilfe eingeführt. Dabei stellt Kahle die Herausforderungen, die mit der UN-BRK einhergehen, in den Mittelpunkt. Sie führt auf dieser Grundlage in das Rehabilitations- und Teilhaberecht sowie die Gesetzgebung zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen ein. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Diskussionen zur Entwicklung des Bundesteilhabegesetzes.

Zum Kern der Arbeit kommt die Autorin im vierten Kapitel, dass sich den fachlichen Perspektiven und Herausforderungen der Behindertenhilfe widmet. Die Entwicklung des Feldes wird seit der Entstehung von Anstalten im 19. Jahrhundert nachgezeichnet. Sehr überzeugend wird dabei die Problematik des Begriffes der Behindertenhilfe herausgestellt, der einerseits die Herausforderungen für Unterstützungsdienste in diesem Feld nur unzureichend abbildet und andererseits suggeriert, Hilfe zu leisten, „wo Segregation stattfindet“ (365). Die Organisationen in diesem Feld „befinden sich bezüglich des Ziels der Selbsterhaltung und der Ermöglichung der selbstbestimmten Teilhabe in einem Spannungsverhältnis zwischen Institutionenbezug und offenem, flexiblem Hilfearrangement“ (S. 366). Im letzten Kapitel des Abschnittes A wird die theoretische Grundlage zur Untersuchung von Transformationsprozessen in Organisationen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen dargelegt. Die Arbeit folgt einem neoinstitutionalistischen Ansatz, da so „die strukturelle Einbettung von Organisationen in übergreifende gesellschaftliche Kontexte und die wechselseitigen Beeinflussungsmöglichkeiten … thematisiert werden können“ (S. 401).

Der zweite Teil der Arbeit (B, S. 407- 490) stellt die empirische Untersuchung der Autorin dar. Mitte 2015 wurden neun Experteninterviews mit Vorstandsmitgliedern und Verbandsvertreter*innen aus dem Bereich der Diakonie geführt. Die Einrichtungsvertreter*innen repräsentieren dabei sehr große Träger. Die Interviews wurden in Anlehnung an die Grounded Theory ausgewertet. Als Kernkategorie werden die Dimensionen der Veränderungen, die Reinstituionalisierung und die Inklusionspraxis herausgestellt. Als ursächlich wird von den Interviewpartner*innen die Veränderung der rechtlichen Rahmenbedingung herausgestellt, die Konsequenzen bestehen in veränderten Kompetenzen der Mitarbeiter*innen und der Leitung, erweiterten Formen der Partizipation seitens der Nutzer*innen und Ungewissheiten hinsichtlich der Zukunft der Behindertenhilfe. Es hätte überrascht, wenn die Interviewpartner*innen in der obersten Leitungsebene, die vermutlich stark in die politischen Aushandlungsprozesse und den fachlichen Diskurs eingebunden sind, sich in den Interviews anders positioniert hätten, als dies die Rekonstruktion der Entwicklung der Behindertenhilfe und ihrer Herausforderung nahegelegt hätten. So kann man den empirischen Teil eher als Bestätigung der zuvor geleisteten theoretischen Erarbeitung der Entwicklung des Feldes und seiner Herausforderung lesen.

Der abschließende Teil der Arbeit (C, S. 491 – 525) ist der Diskussion der Ergebnisse und Empfehlungen für die Weiterentwicklung gewidmet. Als hauptsächliche Ursache für die Transformationsprozesse im Feld der Behindertenhilfe werden nochmal die rechtlichen Rahmenbedingungen und die politische Meinungsbildung herausgestellt, wenngleich der durch das Bundesteilhabegesetz angestoßene Veränderungsprozess zum Zeitpunkt der Befragung gut ein Jahr vor Verabschiedung des Gesetzes, als enttäuschend angesehen wird. Den Impulsen auf Makroebene muss auf der Mesoebene durch Fachkonzepte der Gemeinwesen- und Sozialraumarbeit und auf der Mikroebene durch Haltungsänderung entsprochen werden. Auf der Grundlage der Interviews mit Leitungskräften wird herausgearbeitet, dass die Auffassung darüber, inwieweit der Veränderungsprozess mit Änderung im Management einhergehen müssen, strittig ist. Als besondere Herausforderung stellen sich die wirtschaftlichen Folgen des Wandels dar. Schwierig gestaltet sich für die Organisationen der Behindertenhilfe die Vereinbarung der Ziele der Personenzentrierung und der Sozialraumorientierung. Für den weiteren Prozess gibt die Autorin Handlungsempfehlungen, die sich wiederum auf die Mikro-, Meso und Makroebene beziehen. Im Fazit kommt Ute Kahle zu folgendem Schluss: „Die Zukunft der Behindertenhilfe ist also nicht infrage zu stellen, wie die Deinstiutionalisierungsdiskussion glauben machen möchte. Vielmehr führen die aktuellen Transformationsprozesse, gerade damit personale soziale Dienstleistungen weiter in erforderlichem Umfang und Qualität und mit anderer Professionalität erbracht werden können, zu organisationalen Anpassungsleistungen und einer neuen Institutionalisierung, die durch die gleichzeitige Auflösung einer Institution und dem Herausbilden einer anderen Institution entsteht und als Reinstituionalisierung bezeichnet wird“ (525).

Diskussion und Fazit

Den Lesenden stellt sich die Dissertationsschrift von Ute Kahle hinsichtlich des Umfangs und der thematischen Breite als ein monumentales Werk dar. Die Arbeit kann beanspruchen, die Hintergründe des aktuellen Transformationsprozesses in den Organisationen der Behindertenhilfe umfassend auszuleuchten. Durch die Vielzahl der Bezüge, die grundlegend und nicht immer mit einem leicht erkennbaren roten Faden hergestellt werden, ist die Lektüre eine Herausforderung. Die Lektüre ist jedoch absolut gewinnbringend für alle diejenigen, die den häufig schwierigen und zähen Wandel der Organisationen zur Unterstützung von Menschen mit Behinderungen verfolgen. Die Autorin greift Untersuchungsansätze auf, die auf der Grundlage des neoinstitutionalistischen Theorieangebotes die Beharrlichkeit der Organisationen (Schädler), Prozesse der Re-Instituionalisierung (Brachmann) und Herausforderungen der De-Insitutionalisierung (Falk) untersuchen und führt diese vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung überzeugend weiter. Die Ausführungen überzeugen vor allem im theoretischen Teil und in den praktischen Schlussfolgerungen, während die Auswertung der Interviews mit Leitungskräften aus dem Feld der evangelischen Behindertenhilfe wenig neue Erkenntnisse bieten. Das Buch ist zu einem Zeitpunkt entstanden, als sich die umfassende Reform der Eingliederungshilfe durch das Bundesteilhabegesetz im Gesetzgebungsprozess bestand. Es wird spannend sein, den Transformationsprozess aus der theoretischen Perspektive des Neoinstituionalismus weiter zu beobachten.

Rezension von
Prof. Dr. Albrecht Rohrmann
Professor für Sozialpädagogik mit dem Schwerpunkt soziale Rehabilitation und Inklusion an der Uni Siegen, Zentrum für Planung und Entwicklung Sozialer Dienste (ZPE)
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Es gibt 25 Rezensionen von Albrecht Rohrmann.

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ISSN 2190-9245