Georg Cremer: Deutschland ist gerechter, als wir meinen
Rezensiert von Dr. phil. Andreas Meusch, 09.07.2019

Georg Cremer: Deutschland ist gerechter, als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme.
Verlag C.H. Beck
(München) 2018.
272 Seiten.
ISBN 978-3-406-72784-9.
14,95 EUR.
Reihe: C.H. Beck Paperback - 6313.
Thema
Es gibt keinen Sozialabbau, sondern einen Umbau des Sozialstaates.
Autor
Prof. Dr. Georg Cremer war von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritas-Verbandes. Der Diplompädagoge und habilitierte Volkswirt ist seit 1999 außerplanmäßiger Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.
Entstehungshintergrund
Das Buch kann als Fortsetzung von „Armut in Deutschland: Wer ist arm? Was läuft schief? Wie können wir handeln?“ des Autors aus dem Jahr 2016 angesehen werden. Darin hatte er die These aufgestellt, dass die Armutsdebatte in Deutschland den Armen nicht nütze. Sie befördere vielmehr die Angst in der Mitte der Gesellschaft, die sich ohnehin bereits im Abstieg wähne. Das schade den Armen, denn gegen den Widerstand der Mitte sei Menschen am Rande der Gesellschaft nicht wirksam zu helfen.
Aufbau
Das Buch besteht aus drei Abschnitten, die sich in fünf bis acht Kapitel unterteilen, sowie einen Ausblick. Der anschließende Apparat aus Anmerkungen, Literaturverzeichnis und Register entspricht in Umfang und Qualität dem wissenschaftlichen Anspruch des Buches.
Inhalt
Das Buch startet mit einer sechsseitigen Managementversion seiner Kernaussagen unter der Überschrift „Raus aus dem Niedergangsdiskurs“. In den Kapiteln des ersten Abschnitts geht es dem Autor dann um die Diskrepanz zwischen „Lage und Stimmungen“. Im ersten Kapitel dieses Abschnitts gibt er den Verfechtern des „Narrativs des Sozialabbaus“ (S. 17) Mitverantwortung für das Entstehen des Populismus und das Erstarken der Alternative für Deutschland (AfD). Unter der Überschrift „Alles schreiend ungerecht“ geht es dann um die Diskrepanz, dass einerseits die Lebenszufriedenheit der Menschen auf dem höchsten Wert seit Beginn der Erfassung ist, gleichzeitig aber zwei Drittel von ihnen die wirtschaftlichen Verhältnisse für ungerecht halten. „Mehr Ungleichheit, aber kein Zerfall der Mitte“ (S. 39) ist die Schlussfolgerung aus den empirischen Daten, die im Kapitel „Wie weit öffnet sich die Schere“ präsentiert werden. Im vierten Kapitel dieses Abschnitts geht es unter der Überschrift „Eine im internationalen Vergleich hohe Vermögensungleichheit“ auch um Fragen des Erbrechts. Trotz bestehender Ungerechtigkeit beantwortet der Autor im nächsten Kapitel seine rhetorische Frage nach der „Amerikanisierung des Arbeitsmarktes“ mit einem klaren Nein. „Das stimmt nicht“ (S. 83) ist auch im abschließenden Kapitel dieses Abschnitts zur Armut in einem reichen Land seine Antwort auf den Vorwurf, dass Politik und Gesellschaft nichts täten, um Armut zu bekämpfen.
In den acht Kapiteln des zweiten Abschnitts werden insbesondere empirische Befunde zu den einzelnen Sektoren des Sozialstaates aufbereitet. Im einführenden Kapitel dieses Abschnitts geht es um das Narrativ des neoliberalen Sozialabbaus und die Frage, inwieweit dies überhaupt zur Beschreibung des Status quo taugt. Anschließend werden die Situation im Gesundheitswesen, bei der Rente sowie der Pflege, der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Lage der Menschen mit Behinderung erörtert. In allen Bereichen werden „Reformbaustellen“ (S. 234) identifiziert. In den beiden abschließenden Kapiteln dieses Abschnitts geht der Autor der Frage nach, warum sich das seiner Meinung nach falsche Narrativ vom neoliberalen Sozialabbau so hartnäckig hält. Außerdem setzt sich Cremer kritisch mit Strategien, die mehr Mittel für den Sozialstaat mobilisieren wollen beschreibt diese als „Banalisierung der Finanzierungsfrage“.
Auf den knapp 60 Seiten des letzten Abschnitts wendet sich Cremer konkreten Reformoptionen zu. Zunächst setzt er sich mit dem Für und Wider eines bedingungslosen Grundeinkommens auseinander, um dabei zu dem Ergebnis zu kommen, dass man „die radikale Entkopplung von Existenz und Arbeit … kommenden Generationen überlassen“ kann (S. 200). Im nächsten Kapitel plädiert er für eine Reform von Hartz IV, aber gegen die Abschaffung. Ihm geht es dabei um bessere Zielgenauigkeit. Deshalb plädiert Cremer auch gegen einen bundesweiten Mindestlohn. Fehlanreize sieht er bei den Leistungen des Sozialstaats für Familien mit niedrigem Einkommen, insbesondere bei der Höchsteinkommensgrenze beim Kinderzuschlag für Hartz IV Empfänger. Cremer macht hier aber keinen Vorschlag, sondern lobt den Prüfauftrag, den die Große Koalition sich selbst gegeben hat.
Ja, es gibt Altersarmut: Dieser Befund ist der Ausgangspunkt von Cremers Überlegungen zur Rente als sichtbarer Ausdruck für Lebensleistung. Er plädiert deshalb für eine kluge Kombination von Rente und Grundsicherung. Der abschließende Ausblick liest sich als Plädoyer für Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik in der Form von social engineering und gegen einen populistischen „Niedergangsdiskurs“, der „lähmt und entmutigt“ (S. 237).
Diskussion
Der Autor plädiert mit Max Weber für ein „starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich“ und damit gegen Systemwechsel und die Versuchungen, die sich mit Begriffen wie Grundsicherung verbinden. Cremer setztauf den rationalen Diskurs und auf Fakten gegen den Populismus. Es ist Franz Müntefering zuzustimmen, der das Buch für einen lesenswerten, weil qualifizierten Beitrag zur Debatte um das Gelingen des gerechten Staates hält (FAZ vom 26. 11. 2018). Es muss aber bezweifelt werden, dass er damit einen wirksamen Damm gegen den Populismus errichtet, der sich auch über das Narrativ vom Sozialabbau speist.
Fazit
Der ehemalige Generalsekretär und Professor für Volkswirtschaft beschreibt den deutschen Sozialstaat als Erfolgsgeschichte und untermauert dieses Narrativ mit Fakten. Gleichzeitig identifiziert er zahlreiche Reformbaustellen, die er durch „zähe Reformarbeit“ (S. 14) angehen will.
Rezension von
Dr. phil. Andreas Meusch
Lehrbeauftragter an der Fakultät Wirtschaft und Soziales der Hochschule für Angewandte Wissenshaften (HAW), Hamburg,
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