Erika Kazemi-Veisari: Kinder verstehen lernen. Wie beobachten zu Achtung führt
Rezensiert von Prof. Dr. paed. Michaela Rißmann, 12.07.2005

Erika Kazemi-Veisari: Kinder verstehen lernen. Wie beobachten zu Achtung führt.
Kallmeyer Verlag
(Seelze/Velber) 2004.
127 Seiten.
ISBN 978-3-7800-5721-1.
12,90 EUR.
CH: 22,60 sFr.
Reihe: TPS-Profil.
Einführung
Im Buch werden durch Erika Kazemi-Veisari keine neuen Beobachtungsbögen zum Erfassen und Analysieren der kindlichen Aktivitäten in Kindertagesstätten gegeben. Vielmehr geht es der Autorin darum, behutsam und mit Achtung den Kindern zu begegnen. Sie versteht die Beobachtung als einen Prozess, der einen dialogischen Charakter erhält, weil das Kind beteiligt wird. Ihr geht es darum, die Stärken der Kinder zu entdecken, sie besser zu verstehen und nicht über sie zu verfügen.
Zur Autorin
Erika Kazemi-Veisari, Dr. phil., Erzieherin und Diplompädagogin, ist als Dozentin an der Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik in Hamburg tätig. Sie ist Mitglied im Redaktionskreis der Fachzeitschrift "Theorie und Praxis der Sozialpädagogik" (TPS).
Hintergrund für die Entstehung des Buches
Mit dem Buch aus der Reihe "TPS profil", welche von der Evangelischen Bundesarbeitsgemeinschaft für Sozialpädagogik im Kindesalter e. V. herausgegeben wird, wird ein Beitrag zur Diskussion um Beobachtungen und Dokumentationen in Kindertagesstätten gegeben. Seit der Einführung von Bildungsplänen u. ä. ist dieses Thema verstärkt in den Mittelpunkt des Interesses gerückt.
Aufbau und Inhalte
Die Hauptaussagen des Buches sind: Beobachten hat viel mit Beachten und mit Achten zu tun. Die Würde und Autonomie des Kindes dürfen durch Beobachtungen nicht verletzt werden. Beobachtungen sind dann ein geeignetes pädagogisches Mittel, wenn sie als Gegenstand der Kommunikation und eines Verständigungsprozesses zwischen Kind und Erzieherin benutzt werden. Sie sind erforderlich, wenn man es ernst meint damit, dass die Selbstbildungsprozesse der Kinder unterstützt werden sollen. Das Ziel des Buches ist es, dass Kinder neu gesehen werden, um sie besser verstehen zu können und ihre Stärken entdecken zu können. Dabei orientiert sich die Autorin keinesfalls an Defiziten der Kinder und kämpft dagegen an, sie zu Mängelwesen abzustempeln. Das Buch ist in 3 Teile gegliedert:
- Verstehen durch Beobachten
- Durchführung von Beobachtungen
- Dokumentation von Beobachtungen.
Im ersten Teil des Buches setzt sich Frau Kazemi-Veisari mit Wahrnehmungen und den daraus folgenden Konstruktionen auseinander. Dabei geht sie der Frage nach, wie sich das Verstehen der Kinder entwickelt. Sie analysiert, wie die Beobachtungen auf das Kind zurückwirken, welche Probleme beim Beobachten, z. B. durch Unterstellungen und Beurteilungen auftreten können.
Der zweite Teil ist der konkreten Durchführung von Beobachtungen gewidmet, dabei geht die Autorin auf Beobachtungsbedingungen und auf Formen von Beobachtungen ein. Sie erläutert, warum keine Beobachtungsbögen vorgestellt werden: Beobachtungsbögen beengen durch ihre Rasterung und sind fast alle eigentlich Dokumentationsbögen, mit deren Hilfe Beurteilungen, Zusammenfassungen und Einschätzungen erfasst werden können. Anhand von einigen Beispielen macht die Autorin klar, wie sich Beobachtungen zum Dialog ausweiten sollten und wie Kinder ein Mitsprache- und Mitwisserrecht erhalten.
Im dritten Teil wird darauf eingegangen, wie Beobachtungen dokumentiert werden können: als Ereignisbericht, als Nacherzählung, als deutende Erzählung. Dabei beweist die Autorin, welche Bildungschancen Dokumentationen beinhalten. Sie erläutert, wie Dokumentationen für und mit Kindern angefertigt werden können und welche Aufgaben dabei die Erwachsenen haben. Hier wird besonders auf Erfahrungen aus der Reggio-Pädagogik zurückgegriffen. Einige Beispiele für Dokumentationen für Eltern sind ebenso erläutert.
Durch 33 Fallbeispiele und Dokumentationen werden die theoretischen Erläuterungen plastisch und nachvollziehbar.
Bewertung
Das gesamte Buch ist ein Aufruf zur Behutsamkeit und zum respektvollen Umgang mit Kinderbeobachtungen. Es regt den Leser/die Leserin an, über sich selbst und die eigenen Wahrnehmungen und Deutungen zu reflektieren. Sehr differenziert macht die Autorin klar, dass die Grenzen der Beobachtung und der Dokumentation sehr schnell überschritten werden können: Das Ausschlaggebende ist die Haltung, mit der die Ziele gesetzt und realisiert werden. Anhand der vielfältigen Fallbeispiele werden die Auffassungen und Haltungen der Autorin klar. Leider beinhaltet das Buch selbst keine Dokumentationen und Fotos von beschriebenen Situationen. Die lebendige Sprache hilft ein wenig über diesen Mangel hinweg.
Wer fertige Beobachtungsbögen als Kopiervorlagen erwartet, wird von dem Buch enttäuscht sein. Doch wer das Beobachten verstehen will und darüber nachdenken will, was durch Beobachtungen bewirkt wird, der findet reichhaltige Anregungen und viel Stoff zum Überlegen.
Zielgruppe
Erzieherinnen in Kindertagesstätten, Studierende in der Erzieherausbildung
Fazit
Ein sensibles, gelungenes Buch, welches die Augen dafür öffnet, mit Beobachtungen und Interpretationen sorgfältig und respektvoll umzugehen. Es ist ein Appell an die Achtung der Würde des Kindes. Die Leserin/der Leser wird dazu aufgefordert, sich selbst und seine Wahrnehmung über die Kinder zu betrachten und sich zu fragen: Warum ziehe ich diese und keine andere Schlussfolgerung aus dem, was ich gesehen habe?
Rezension von
Prof. Dr. paed. Michaela Rißmann
Fachhochschule Erfurt
Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften
Professur "Erziehungswissenschaften, Erziehung und Bildung von Kindern"
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Es gibt 67 Rezensionen von Michaela Rißmann.
Zitiervorschlag
Michaela Rißmann. Rezension vom 12.07.2005 zu:
Erika Kazemi-Veisari: Kinder verstehen lernen. Wie beobachten zu Achtung führt. Kallmeyer Verlag
(Seelze/Velber) 2004.
ISBN 978-3-7800-5721-1.
Reihe: TPS-Profil.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2574.php, Datum des Zugriffs 01.04.2023.
Urheberrecht
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