Johanna Hefel: Verlust, Sterben und Tod über die Lebensspanne
Rezensiert von Prof. Johanna Kohn, 16.07.2020
Johanna Hefel: Verlust, Sterben und Tod über die Lebensspanne. Kernthemen Sozialer Arbeit am Beispiel österreichischer Fachhochschulen. Budrich Academic Press GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 206 Seiten. ISBN 978-3-86388-805-3. D: 33,00 EUR, A: 34,00 EUR.
Thema
Verlust, Sterben und Tod sind nicht nur Themen für das hohe Lebensalter, sondern begegnen über die ganze Lebensspanne. Beispielsweise bei Erfahrungen von Flucht, Krieg, Trennung der Eltern, Tod von Familienangehörigen, schwerer Krankheit, Unfall, Verlust von Arbeit oder Verlust von Selbstständigkeit durch Behinderung. Auch wenn das Thema Tod in den Medien fast allgegenwärtig ist und es einen ganzen Markt für Trauer- und Abschiedsrituale gibt, bedeutet das doch nicht, dass auch Wissen, Erfahrung und Traditionen zur Verfügung stünden, gut mit diesen existenziell erschütternden Erfahrungen umzugehen. Eine hohe Verunsicherung besteht selbst bei Berufstätigen aus den Gesundheits- und Sozialberufen. Dieses Defizit verlangt nach einer standardmäßigen Aufnahme des Themas und der Vermittlung der dazugehörenden fachlichen, persönlichen und methodischen Kompetenzen in die Ausbildungen für Soziale Arbeit und andere Berufe.
AutorIn oder HerausgeberIn
Prof. Dr. Johanna Hefel ist Hochschullehrerin an der FH Vorarlberg und Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Soziale Arbeit.
Entstehungshintergrund
Die Autorin hat für ihre Dissertation „Sterben und Tod im Kontext des Bachelorstudiums Soziale Arbeit an österreichischen Fachhochschulen“ den Österreichischen Wissenschaftspreis für Soziale Arbeit gewonnen. Das vorliegende Buch ist die Ausarbeitung dieser Dissertation. Ihr Ziel ist, dieses Thema stärker in die Ausbildung einzubringen. „Denn Sozialarbeiter sollen keine Scheu haben, mit ihren Klienten über das Sterben zu sprechen und sie bis ans Lebensende zu begleiten“ (Kuster 2019). Darüber hinaus sollen sie in der Lage sein, ihre Handlungen und ihre professionelle Haltung hinsichtlich der gesellschaftlichen Vorstellungen, der institutionellen Vorgaben und ihres sozialarbeiterischen Auftrags kritisch zu reflektieren.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch soll einen „fundierten Beitrag zur Bewältigung sozialer Probleme leisten, die mit dem Themenkomplex Verlust, Sterben und Tod einhergehen“ (S. 14). Diese Aussage wie auch der Buchtitel können jedoch falsche Erwartungen wecken. Tatsächlich geht es der Autorin um die engere Frage, wie Soziale Arbeit durch eine Reform des Bachelorstudiums einen solchen Beitrag leisten kann. Dazu legt die Autorin in vier Kapiteln die konzeptionellen Grundlagen für ein entsprechendes Studienangebot.
- Im ersten Kapitel spannt Johanna Hefel den sozialarbeitswissenschaftlichen Rahmen auf, in dem der Themenkomplex Verlust, Sterben und Tod verortet werden kann. Das Interdependenz-Modell von Ernst Engelke eignet sich ihrer Darstellung nach für die notwendige Relationierung von Praxis, Forschung, Theorie und Ausbildung. Die Lebensweltorientierte Soziale Arbeit nach Hans Thiersch sowie die Bedürfnisorientierte Soziale Arbeit nach Werner Obrecht und die Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession nach Silvia Staub-Bernasconi werden als geeignete Handlungstheorien dargestellt, die der Komplexität des Themas gerecht werden können. Einerseits nehmen sie die Perspektive der Betroffenen als Subjekte ihrer eigenen (Lebens- und Sterbens-)Geschichte ein, die berechtigten Bedürfnisse haben. Andererseits nehmen sie gesellschaftliche Wertediskussionen in den Blick und reflektieren die institutionellen Rahmenbedingungen sozialarbeiterischen Handelns selbstkritisch.
- Das zweite Kapitel bietet eine kulturanthropologische, zeitgeschichtliche Skizze, die die Veränderungen in Sichtweise und Umgang mit Sterben und Tod ausführlich erläutert. Mit Schnabel kritisiert sie das medizin-lastige Verständnis vom Tod als „nicht mehr zu reparierendem Maschinenschaden“ (102). Verlust, Sterben und Tod seien vielmehr Themen des menschlichen Alltags, die in der Sozialen Arbeit und ihren Methoden stets mitgedacht werden müssten und sie gelangt zu der Forderung, sie als „Gesundheitsthemen“ neu zu denken (122). Außerdem wird der Relevanz von Suizid und Sterbehilfe in der Gegenwart Raum gegeben.
- Das dritte Kapitel untersucht, wo im Kontext Sozialer Arbeit und ihrer Forschungen Verlust, Sterben und Tod ausdrücklich thematisiert werden. Dabei wird deutlich, dass der Fokus sozialarbeitswissenschaftlicher Studien auf dem Beitrag Sozialer Arbeit im Kontext von Hospizarbeit/​Palliative Care/Suizid/​Krise und Trauma liegt. Obwohl Soziale Arbeit den ausdrücklichen Auftrag und die Werkzeuge hat, Menschen in der Gestaltung ihres Alltags und ihrer Lebenswelt zu unterstützen, kommen Verlust, Sterben und Tod als Querschnittsthemen Sozialer Arbeit nicht vor, sondern werden in die Kontexte von „Krisenszenarien“ ausgelagert.
- Im vierten Kapitel analysiert Johanna Hefel, inwiefern die als wichtig herausgeschälten Themen in den Ausbildungskonzepten der Fachhochschulen für Soziale Arbeit in Österreich zu finden sind. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass sich die oben genannten Mankos und Einseitigkeiten in der sozialarbeiterischen Forschungsliteratur auch in der Gestaltung der Curricula widerspiegeln. Obwohl Soziale Arbeit in allen Handlungsfeldern mit den Themen Verlust, Trauer, Abschied, Tod und Sterben konfrontiert ist und obwohl nach Student & Mühlum (2007, S. 20) Soziale Arbeit aufgrund ihres Auftrags und Selbstverständnisses geradezu darauf zugeschnitten sei, mit trauernden, schwerkranken und sterbenden Menschen zu arbeiten (S. 137), kommen Verlust, Sterben und Tod selten als explizite Themen von Veranstaltungen vor, sondern vorwiegend eingebettet in die Kontexte von Hospizarbeit/​Palliative Care/Suizid/​Krise und Trauma.
- Im Kapitel 5 stellt die Autorin fest: „Diese Ergebnisse belegen in aller Deutlichkeit, dass eine Ergänzung und Vertiefung des Bachelorstudiums Soziale Arbeit zu den Themen Abschied, Verlust, Sterben und Tod hinsichtlich eines adäquaten professionellen Handelns als Sozialarbeiter*in und der Entwicklung einer genuinen Identität erforderlich ist“ (S. 178). Um eine professionelle Unterstützung leisten zu können, sind Kenntnisse, Handlungskompetenzen, kommunikative Fähigkeiten, Bereitschaft zu Introspektion und Reflexion erforderlich (S. 174). Die Autorin zeigt auf, dass die derzeitigen Lehrinhalte das zu wenig vermitteln und dass sie nicht genügend auf entsprechende sozialarbeitsspezifische Aufgaben vorbereiten. Sie fordert, dass der Themenkomplex auch in den österreichischen Bachelorcurricula stärker berücksichtigt werden soll. Wegweisend ist für sie die Death Education in den USA, die seit Jahrzehnten integraler Bestandteil des Grundstudiums der Sozialen Arbeit sei. Auch die Möglichkeiten interdisziplinärer Kooperation in Masterstudiengängen in End-of-Life-Care (EOL) wie in North Carolina werden behandelt.
Das Thema Sterben, Tod und Trauer müsste entsprechend der Kompetenzorientierung der österreichischen Curricula in den vier Kompetenz-Dimensionen Wissenserwerb, Kommunikation, Methodenkompetenz, Selbst- und Sozialkompetenz konkretisiert werden; zudem eigneten sich vor allem Methoden der „Selbstexploration“ wie Biographiearbeit, Autoethnographie, Exkursionen und Gespräche mit Sterbenden, um die bei Trauerbegleitung geforderten Fähigkeiten zu erwerben.
Johanna Hefel schließt ihr Buch mit dem Ausblick auf zwei noch zu bearbeitende Forschungsfragen auf der Grundlage des Interdependenzmodells: 1. Wie wird sozialarbeiterisches Handeln in Bezug auf Verlust, Sterben und Tod durch die institutionellen Rahmenbedingungen geformt? 2. Welchen Lernbedarf haben Studierende hinsichtlich dieses Themas, wenn sie aus der Praxisphase an die Hochschule zurückkehren?
Diskussion
Mit ihrer Forderung, Verlust Tod und Trauer als Querschnittthemen in der Sozialen Arbeit auch in der Aus- und Weiterbildung zu implementieren, steht Johanna Hefel nicht allein da. Ungefähr zeitgleich erarbeitete Tim Krüger für Deutschland ein Argumentarium dafür, dass der Umgang mit Verlust Tod und Trauer zum sozialpädagogischen Können gehöre. Interessanter Weise hält auch er das amerikanische Konzept der „Death Education“ dabei für eine wichtige Orientierungsleitlinie (Krüger 2017). Die Curriculare Entwicklung in den Hochschulen für Soziale Arbeit wird nicht darum herumkommen, diese Impulse aufzunehmen. Beide Autoren stellen die Geschichte der gesellschaftlichen Praktiken und Auffassungen von Tod und Sterben unter verschiedenen, kritischen und sich ergänzenden Blickwinkeln dar. Zu erwähnen ist auch der „Leidfaden“ von Eva Unterweger (2019), die den gleichen Themenkomplex für die Lehrerfortbildung ausgearbeitet hat. Diese drei AutorInnen bereiten den Weg vor, dass Verlust Tod und Trauer als Alltagsthemen der Sozialen Arbeit und der Bildungsarbeit diskutiert, erforscht und methodisch für die Grundausbildungen aufbereitet werden.
Johanna Hefel weist wiederholt darauf hin, dass Sterben und Tod Teil des Lebens sind (89 ff). Einer ihrer Kernsätze ist, dass „der Umgang mit Verlust, Sterben, Ängsten und Trauer […] Wege zu sich selbst [erschließt] und […] einen bewussten und differenzierten Blick auf die Einzigartigkeit und Kostbarkeit des Lebens [ermöglicht]“(12). In diesem Sinne zitiert sie Terziani: „Würde man als Kind lernen, dass er [der Tod] ein Teil des Lebend ist und ins Leben integriert werden kann, wäre das Leben viel schöner, denn es wäre um diesen Kontrast und diese Dimension reicher“ (175).
Einerseits decken sich diese Aussagen mit den Erfahrungen von Menschen, die lebensbedrohliche Krankheit, Krieg, Flucht und den nicht altersgerechten Tod nahestehender Menschen er- und überlebt haben. Internationale Studien belegen sie. Auch meine inzwischen zehnjährige Erfahrung aus dem Bachelorkurs „Abschied, Tod und Trauer“ an der HSA/FHNW, den ich gemeinsam mit Clara Burges veranstalte, geben diesen Aussagen recht. Es ist wichtig, dass Studierende der Sozialen Arbeit die Bedeutung dieser Aussagen erfassen und angemessen darauf reagieren können, was die in diesem Buch oft geforderte Auseinandersetzung mit der eigenen Haltung zu Verlust, Tod und Trauer voraussetzt.
Andererseits erscheinen diese Kernaussagen als gesetzte, nicht aus den Analysen und aus den konzeptionellen Überlegungen herleitbare Statements. Hier besteht ein gewisser, sich durch das ganze Buch hindurchziehender Bruch in der Argumentation, die ja hoch theoretisch angelegt ist und sich mit Konzepten auseinandersetzt. Diese persönlichen – mit fallanalytischen oder qualitativen, biographisch orientierten Methoden durchaus entschlüsselbaren – Aussagen haben eine andere Qualität und würden durchaus schon die Inhalte berühren, die in Angeboten einer Ausbildung für Soziale Arbeit vorkommen müssten. Ein weiters Kapitel, das diese Angebotsinhalte diskutieren würde, könnte sichtbar machen, wie denn Module aussehen könnten, die den geforderten Kriterien entsprechen.
Sowohl die selbstreflektierte persönlich-biographische professionelle Haltung als auch die professionstheoretische und konzeptuelle Argumentationslinie müssten aus curriculums-theoretischer Perspektive verknüpft werden. Die Beantwortung der beiden weiterführenden Schluss-Fragen von Hefel würden die Inhalte im Sinne einer gleichberechtigten und reziproken Beziehung von Praxis, Theorie und Ausbildung praxisnah und partizipativ gestalten lassen:
- Wie wird sozialarbeiterisches Handeln in Bezug auf Verlust, Sterben und Tod durch die institutionellen Rahmenbedingungen geformt?
- Welchen Lernbedarf haben Studierende hinsichtlich dieses Themas, wenn sie aus der Praxisphase an die Hochschule zurückkehren?
Johanna Hefel liefert profunde Argumente für Studiengangs-Verantwortliche zur Einbettung der Themen Verlust, Sterben und Tod in die Ausbildungen für Sozialarbeitende. Das Buch ist auch für Studierende als Einführung in Wissenschaftstheorie, Professionsgeschichte und Geschichte entlang des Themenkomplexes Verlust, Sterben und Tod interessant.
Aus der Perspektive der Leseführung stellt sich die Frage, ob die Argumentationen nicht fachlich zu weit ausholen, wo doch die grundlegenden und begründeten Erkenntnisse und Ergebnisse schon gleich zu Beginn des Buches klar und nachvollziehbar gemacht werden.
Fazit
Johanna Hefel erarbeitet eine vielschichtige und faktenreiche Argumentation zur Einführung der Kernthemen Verlust, Sterben und Tod in die Curricula für Soziale Arbeit an Fachhochschulen.
Eine wesentliche Erkenntnis ist, dass Sterben und Tod im österreichischen Ausbildungskontext primär in Verbindung mit Krise, Krisenintervention, Suizidalität, Suizid und Trauma thematisiert werden. Es wäre jedoch wünschenswert, das Thema in einen positiveren Kontext zu stellen. Hier plädiert die Verfasserin dafür, sich Anleihen aus dem angloamerikanischen Fachdiskurs zu holen, und macht im fünften Kapitel den interessanten Vorschlag, die langjährigen Erfahrungen mit dem Konzept von „Death Education“ und „end of life care“ in Bachelorstudium und Weiterbildung in den USA mit den Handlungstheorien von Thiersch, Obrecht, Staub Bernasconi und dem Interdependenz-Modell von Engelke in Beziehung zu setzen, um sie für die Fachhochschulausbildungen in Sozialer Arbeit im deutschsprachigen Raum nutzbar zu machen. Es wäre ein Gewinn für die Fachhochschul-Ausbildungen im Bereich Sozialer Arbeit, wenn diese Anregungen zur curricularen Weiterentwicklung aufgenommen und umgesetzt würden.
Literatur
Kuster, Martina (2019): Johanna Hefel: Erfolgreich dank unbändigem Wissensdurst. Vorarlberger Nachrichten/21.07.2019 • 13:00 Uhr
Krüger, Tim (2017): Sterben und Tod. Kernthemen Sozialer Arbeit. Ergon Verlag
Unterweger, Eva (2019):»… nie mehr wird es so sein, wie es war« Trauer, Trauerfälle und Trauerarbeit im Kontext der Lehrer/​-innen-Bildung.https://doi.org/10.13109/leid.2019.8.3.52
Trauer, Trauerfälle und Trauerarbeit im Kontext der Lehrer/​-innen-Bildung https://doi.org/10.13109/leid.2019.8.3.52
Für eine differenzierte Darstellung des Buch-Inhaltes sei auch auf die Rezension von Hermann Müller hingewiesen https://www.socialnet.de/rezensionen/​26601.php.
Rezension von
Prof. Johanna Kohn
Fachhochschule Nordwestschweiz
Hochschule für Soziale Arbeit
Institut Integration und Partizipation – Alter – Biographie – Ethik
Website
Mailformular
Es gibt 4 Rezensionen von Johanna Kohn.
Lesen Sie weitere Rezensionen zum gleichen Titel: Rezension 26601
Zitiervorschlag
Johanna Kohn. Rezension vom 16.07.2020 zu:
Johanna Hefel: Verlust, Sterben und Tod über die Lebensspanne. Kernthemen Sozialer Arbeit am Beispiel österreichischer Fachhochschulen. Budrich Academic Press GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2019.
ISBN 978-3-86388-805-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25741.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.
Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt.
Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns.
Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen
für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.