Carolin Küppers, Eva Harasta: Familie von morgen
Rezensiert von Dr. Barbara Stiegler, 09.09.2019

Carolin Küppers, Eva Harasta: Familie von morgen. Neue Werte für die Familie(npolitik). Verlag Barbara Budrich GmbH (Opladen, Berlin, Toronto) 2019. 180 Seiten. ISBN 978-3-8474-2211-2. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR.
Thema
Es gibt eine Debatte um die Frage, ob die bürgerliche Kernfamilie mit Vater, Mutter und Kind immer mehr an Bedeutung verliert und deshalb wieder in den Fokus jedweder Förderung zu rücken ist. Besonders rechtspopulistische und religiös extremistische Stimmen sehen in der bürgerlichen Kleinfamilie die Keimzelle des Staates und eine von Gott gewollte Institution. Die Autor_innen dieses Bandes nehmen dazu ganz klar Stellung: gerade in Zeiten, in denen diese Stimmen immer lauter werden, geht es ihnen darum, der Vielfalt gelebten familiären Zusammenlebens Respekt zu zeugen und sie als das anzuerkennen, was sie sind: gleichberechtigte Familien. Dazu haben die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und die Evangelische Akademie zu Berlin zusammen mit der Diakonie – Evangelischer Bundesverband und der Kirchenkreis Berlin Stadtmitte einen vom Bundesfamilienministerium unterstützten Fachtag veranstaltet, dessen Dokumentation hier vorliegt.
Herausgeber_innen
Dr. Carolin Küppers ist wissenschaftliche Referentin im Referat Gesellschaft, Teilhabe und Antidiskriminierung der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, Berlin
PD Dr. Eva Harasta ist Studienleiterin für Theologie, Politik und Kultur an der Evangelischen Akademie Sachsen-Anhalt e.V. in Wittenberg und Pfarrerin der Evangelischen Kirche A.B. in Österreich
Aufbau und Inhalt
Dem gemeinsamen Grußwort des geschäftsführenden Vorstands der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und des Direktors der Evangelischen Akademie zu Berlin und einer Einleitung in das Thema durch die Herausgeber_innen folgen 19 verschiedene Beiträge aus historischer, soziologischer, politischer sowie normativer (ethischer, theologischer und rechtlicher) Perspektive zum Thema Familie. Darunter sind sowohl Artikel, die Sachverhalte ausführlicher darstellen und den wissenschaftlichen Kriterien ihrer jeweiligen Disziplinen entsprechen als auch Statements, in denen kurz und z.T. politisch argumentiert wird.
Teil I Familie im Wandel. Historische Perspektiven
PD Dr. Christopher Neumaier arbeitet am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Er zeigt in seinem Beitrag auf, wie sich die gesellschaftlich akzeptierten Vorstellungen von Familie in den letzten zwei Jahrhunderten im deutschen Sprachraum gewandelt und wie sich auch die rechtlichen Entwicklungen diesem Wandel angepasst haben. Er weist darauf hin, dass es immer auch kontrovers diskutierte Familiendefinitionen gegeben hat. Seit den 60er Jahren sieht er eine immer stärkere Verbreitung einer Definition von Familie, die primär die Intergenerationalität anstelle der ehelichen Paarbeziehung betont.
Dr. theol. Ute Gause, Professorin für Reformations- und Neuere Kirchengeschichte an der Ruhr Universität Bochum, zeichnet die Bedeutung der Reformation für den historischen Wandel von Familienbildern nach. Ehe und Familie in christlicher Lebensführung wurden einerseits aufgewertet, weil es keinen übergeordneten geistlichen Stand mehr gab, eine (heteronormative) Geschlechterordnung wurde zum integrierten Bestandteil der Gesellschaftsordnung. Allerdings führte die neue Standesethik der Hausväterliteratur auch zu einer „Domestizierung“ von Männlichkeit und Weiblichkeit bei der Gestaltung des Familienlebens.
Dr. theol. Aliyah El Mansy, wissenschaftliche Mitarbeiterin für Neues Testament an der Philipps-Universität Marburg, vergleicht anhand von Zeitdokumenten den Umgang mit interreligiösen Ehen in der Antike und der Gegenwart. Die Kritik an der Vermischung von Gruppenidentitäten, das Aufzeigen sozialer Konflikte, die zwischen unterschiedlichen Werten und Normen insbesondere zur Kindererziehung entstehen, sowie rechtliche und ökonomische Vorbehalte gegen interreligiöse und interkulturelle Ehen weisen große Ähnlichkeiten auf. Sie können aber auch Kriterien für heutige Diskurse liefern.
Teil II Die Vielfalt familiärer Beziehungen. Soziologische Perspektiven
Prof. Dr. Monika Götsch, Professorin für Soziologie/Sozialstrukturanalyse mit Schwerpunkt Familie und Gender an der Hochschule Esslingen, fragt sich in ihrem kurzen Beitrag, ob der aktuelle Bedeutungswandel von Erwerbs- und Fürsorgearbeit auch einen Einfluss auf die Sichtweise von diversen Familienarrangements hat und bleibt skeptisch: in der Benennungspraxis für „andere“ Familienformen( Regenbogenfamilien, multilokale Familien u.a). sieht sie zwar deren Sichtbarmachung aber auch eine Zementierung der Normalität der Mutter* Vater* Kind (er*) Familien.
Die Sichtweise von fünf- bis zehnjährigen Kindern auf ihre Erziehung in der Familie untersucht Dr. phil. Katharina Gerarts, Professorin für Kindheitspädagogik an der evangelischen Hochschule in Darmstadt. Sie ist auf zwei verschiedene Konstruktionen der Kinder gestoßen: die eine ist die „ideelle Erziehungskonzeption“. Darin sehen die Kinder die Erwachsenen als die vollständig entwickelten Gesellschaftsmitglieder, die ihre Kinder aus dem unentwickelten und unzivilisierten Wesen zu einem mündigen Erwachsenen machen. Die andere Konstruktion von Erziehung wird „erlebte Erziehungsrealität“ genannt. Hier sehen die Kinder die Eltern durchaus auch negativ und setzen sich mit den vorgegebenen Regeln auseinander. Mit dieser Konstruktion wird die These vom familiären Verhandlungshaushalt gestärkt.
Um Kinder in Mehrfachbeziehungen geht es in der Studie von Dr. Cornelia Schadler, Senior Lecturer am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien. An drei Beispielen verdeutlicht sie, wie Eltern in Mehrfachpartnerschaften leben: in egalitärer Elternschaft, in Co-Elternschaft und in simulierter Zweielternschaft. Da das Modell des einen, männlichen Breadwinners in diesen Mehrfachbeziehungen nicht passt, finden die Eltern ihre eigenen, neuen Formen. Dabei handelt es sich um flexible Modelle, zwischen denen die Eltern innerhalb ihrer Beziehungsbiographie auch wechseln können.
Anita Christians-Albrecht arbeitet im „Zentrum für Seelsorge“ in Hannover im Bereich Altenseelsorge. Sie beschreibt die reale Situation und die Probleme älterer Menschen: durch den demographischen Wandel entstehen viele verschiedenen Altersrollen, die verantwortlich zu gestalten sind. Aus theologisch-seelsorglicher Perspektive begrüßt sie den hohen Wert, der der intergenerationalen Solidarität beigemessen wird, sieht aber auch die Notwendigkeit der familienpolitischen Gestaltung von Hilfen bei der Pflege innerhalb und außerhalb der Familie.
Teil III Familie gestalten. Politische Perspektiven
Dr. phil. Erol Yildiz, Professor für den Bereich Migration und Bildung an der Universität Innsbruck, analysiert mehrheimische Familienpraxen. Er plädiert für ein kritisches Überdenken der Migrationsforschung durch eine postmigrantische Lesart. An einigen Fallbeispielen erläutert er die familialen Transtopien, in denen etablierte Vorstellungen von Familie, Raum, Zeit und Zugehörigkeit neu überdacht werden sollten. Migrationsbewegungen schaffen neue Formen der familiären Bindung, die Erfahrungsräume sichtbar macht, die bislang kaum zur Kenntnis genommen werden, die aber in ihrer transnationalen Verortung neue Chancen bieten. Er hofft, dass die Migrationsforschung endlich aus ihrer Sonderrolle befreit und zu einem Teil einer Gesellschaftsanalyse wird.
Gabriele Boos-Niazy ist Sozialwissenschaftlerin und Gründungsmitglied des Aktionsbündnisses muslimischer Frauen e.V. In ihrem Fokus stehen muslimische Familien und deren Wünsche und Bedürfnisse. In Schulbüchern und Informationsbroschüren wird der Eindruck erweckt, als ob die religiösen und kulturellen Prägungen einen hohen Einfluss auf das Familienleben der Muslime haben. Sie betont demgegenüber, dass gesellschaftspolitische, ökonomische und rechtliche Bedingungen weitaus mehr Einfluss auf die Lebensform der muslimischen Familien haben als deren eigene Bedürfnisse und kulturellen Vorstellungen.
Ein laufendes DFG Projekt zur Situation von LGBT*Q-Familien stellen die daran Mitarbeitenden Mona Motakef, Julia Teschlade, Almut Peukert und Christine Wimbauer in einer Kurzfassung vor. In Paar- und Familieninterviews gehen sie der Frage nach, welche praktischen und rechtlichen Hürden in diesen Familien zu überwinden sind, um eine Familie mit Kindern zu gründen.
Michael Plaß, Dr. phil., Zentrum für schwule Männer „Sub e.V.“ München, betrachtet in seinem Statement Regenbogenfamilien unter pädagogischen Aspekten. Zunächst verweist er auf Diskrepanzen zwischen der alltäglichen Rezeption dieser Familienform in der Gesellschaft und den wissenschaftlichen Erkenntnissen: Lesben und Schwule sind entgegen der landläufigen Meinung sehr wohl gute Eltern, leben in einer eher egalitären Paarbeziehung und Regenbogenkinder zeigen ausgesprochen wünschenswerte Eigenschaften ( z.B. Sensibilität und kritische Haltung gegenüber traditionellen Rollenvorstellungen). Damit liegt das eigentliche Problem in die Homophobie, mit der Regenbogenfamilien konfrontiert sind.
Susann Rüthrich, SPD Bundestagsabgeordnete, plädiert in ihrem Statement für einen weiten Familienbegriff sowie die Abschaffung der Kinderarmut durch eine Kindergrundsicherung und einen Abbau struktureller Hürden, damit alle Kinder das nutzen können, was sie zum Aufwachsen brauchen.
Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMJSFJ) formuliert in einem Kurzpapier die familienpolitischen Perspektiven und plädiert dafür, dass die familiäre Vielfalt in Zukunft diskriminierungsfrei und rechtlich gleichgestellt gelebt werden kann.
Teil IV Bedingungen für Familiengestaltung. Werte, Normen, Recht
Dorett Funcke Professorin für Soziologie familialer Lebensformen, Netzwerke und Gemeinschaften an der Fernuniversität Hagen, widmet sich dem Argument von dem „Zerfall der Familie“ und führt zahlreiche Fakten und Argumente dagegen an: Ehe und Familie hat ihrer Meinung nach nicht an Bedeutung verloren und sie meint, dass das auch in Zukunft so bleiben wird.
Gerhard Schreiber, Dr. theol., Akademischer Rat am Institut für Theologie und Sozialethik an der Universität Darmstadt, warnt davor, die Vielfalt heutiger Familienformen als Bedrohung zu sehen. Er plädiert dafür, die Vielfalt im Licht protestantischer Freiheit zu schätzen. Damit würde niemandem etwas genommen, aber vielen etwas gegeben.
Konrad Duden, Dr. iur., wissenschaftlicher Referent am Max- Planck- Institut für ausländisches und internationales Privatrecht, untersucht in einem ausführlichen Beitrag, wie im deutschen Recht die Vielfalt der Familien behandelt wird und stellt fest, dass bei Ehe und Adoption eine Gleichstellung erfolgt ist, im Gegensatz zu anderen Ländern aber bei Fragen der Familiengründung und der Abstammung weiterhin Hindernisse fortbestehen. Soziale Elternschaft wird noch nicht der leiblichen Abstammung gleichgestellt.
Ralf Charbonnier, Dr. theol., Oberkirchenrat und Leiter des Referates für Sozial- und gesellschaftspolitische Fragen im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) interpretiert die Orientierungshilfe der EKD „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ von 2013 und verweist auf die hier vollzogene Abwendung von der kirchlichen Leitbildethik. Es werden nun ethische Kriterien für die Gestaltung der Beziehungen in den verschiedenen Verwirklichungsformen von Familien formuliert wie Geschlechtergerechtigkeit, Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und Verantwortlichkeit.
Silke Radosh-Hinder, evangelische Pfarrerin und stellv. Superintendentin im Kirchenkreis Berlin Stadtmitte, schildert die seelsorgliche Praxis, die auf der Anerkennung verschiedener Familienformen basiert. Gerade in den besonders schutzbedürftigen Bereichen, bei Diskriminierung, Benachteiligung oder Überforderung aber auch bei der Familienbildung bietet die Gemeinde vielfältige Unterstützung.
Ralf Evers, Dr. theol., Dr. phil., Professor für praktische Theologie und Generationenbeziehungen an der Evangelischen Hochschule Dresden, plädiert ebenfalls dafür, dass Theologie und Ethik von der traditionellen normativen Idee einer Normalfamilie abrücken und stattdessen die intergenerativen Fürsorgebeziehungen und die Sozialisation zur Solidarität als konstitutive Elemente der Familie anerkennen sollten. In einer sexualethischen Analyse und theologischen Bewertung von Lebensformen muss es demnach um ein Mehr an Freiheit und Verwirklichungschancen gehen statt um das Leitbild der „Institution Ehe und Familie“.
Diskussion
Die Frage, was eine Familie ist, wird in diesem Band facettenreich bearbeitet und von sehr verschiedenen Perspektiven aus beleuchtet. Wer gedacht hat, dass die Bundesstiftung Magnus Hirschfeld und Vertreter_innen der evangelischen Kirche dazu nicht in einen fruchtbaren Dialog treten können, wird eines Besseren belehrt. Mit ihrer Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit: Familie als verlässliche Gemeinschaft stärken“ von 2013 hat die EKD eine Wende eingeleitet und theologische und ethische Überlegungen zur Neuinterpretation des traditionellen Denkens über Familie angeregt. Die Familie von morgen wird damit nicht mehr an einem Idealbild von der Familie gemessen, das auf Ehe, Zweigeschlechtlichkeit und biologisch verwandten Kindern orientiert ist. Vielmehr geht es um die Funktionen, die Familien im Zusammenleben erfüllen: sie sollen ein gutes Zusammenleben der Generationen und eine Entwicklung ihrer Mitglieder in Freiheit ermöglichen. Die Vielfalt der Familienformen wird in vielen Beiträgen nicht nur als gegeben hingenommen, sondern es werden die immer noch bestehenden rechtlichen und kulturellen Hemmnisse benannt, die diese neuen Familienformen zu bewältigen haben und es werden Unterstützungsmöglichkeiten aufgezeigt. Aber auch die Anregungen, die neue Familienformen für die gewohnten Formen bieten können, finden Beachtung: Migrantische Familien zeigen z.B. Mehrsprachigkeit, familiäre Kontaktfähigkeit über weite Entfernungen, die Fähigkeit zur mehrheimischen Zugehörigkeit auf. Regenbogenfamilien sind durch egalitäre Erwachsenenbeziehungen gekennzeichnet, Elternschaftsmodelle in Mehrfachpartnerschaften sind flexibel und werden verhandelt.
Fazit
Dieser Sammelband bietet interessante und anregende Sichtweisen auf die Vielfalt von Familienformen. In einem Kompendium aus historischer, soziologischer, politischer und theologischer sowie ethischer Sichtweise wird dargestellt, welche Chancen und Risiken mit diesen neuen Formen verbunden sind. Der Wandel, der die Familie immer schon kennzeichnet, wird bejaht und es wird versucht aufzuzeigen, wie er auf den verschiedenen Ebenen zu gestalten ist. Die Lektüre macht Mut, sich weiter für die Anerkennung der Vielfalt von Familienformen einzusetzen und regt an, auch über gewohnte Familienformen nachzudenken.
Rezension von
Dr. Barbara Stiegler
Bis zu ihrer Pensionierung Leiterin des Arbeitsbereiches Frauen- und Geschlechterforschung
Friedrich Ebert Stiftung, Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik
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