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Volkmar Sigusch: Kritische Sexualwissenschaft

Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 23.08.2019

Cover Volkmar Sigusch: Kritische Sexualwissenschaft ISBN 978-3-593-51057-6

Volkmar Sigusch: Kritische Sexualwissenschaft. Ein Fazit. Campus Verlag (Frankfurt) 2019. 312 Seiten. ISBN 978-3-593-51057-6. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 36,80 sFr.

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Thema

Volkmar Sigusch, eine*r der bedeutendsten Sexualwissenschaftler*innen in Deutschland und auch weltweit, leitete von 1973 bis 2006 das Institut für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/Main. Er hat Medizin, Psychologie und Philosophie – letztere unter anderem bei Max Horkheimer and Theodor W. Adorno – studiert und gilt, so die Brockhaus Enzyklopädie, als Begründer der „Kritischen Sexualwissenschaft“. Aus seinen mehreren Dutzend Büchern und hunderten Aufsätzen hat er für den Band „Kritische Sexualwissenschaft: Ein Fazit“ eine Auswahl getroffen, die schon aufgrund ihrer Spannbreite entsprechend interessant ist. Zugleich ist der Band – und das darf vorweggenommen werden – auch für ein breites Publikum gut lesbar. Denn nicht zuletzt gilt Sigusch als „brillanter Essayist“, wie der Verlag nicht unzutreffend schreibt.

Autor

Mittlerweile ist Volkmar Sigusch emeritiert, trägt aber weiterhin anregend zur sexualwissenschaftlichen Debatte bei.

Aufbau 

Im Band folgen, ohne weitere Unterteilung, 17 Aufsätze unterschiedlicher Länge aufeinander. Vorangestellt findet sich ein knappes Vorwort, am Ende des Buches die Drucknachweise und ein für den gesamten Band geltendes Literaturverzeichnis.

Eine Aufteilung des Bandes ergibt sich bei der Lektüre: Etwa die erste Hälfte des Buches widmet sich „dem großen Ganzen“, der Sexualität und ihrer gesellschaftlichen Einbindung. Die zweite Hälfte wendet sich darauf aufbauend Detailfragen zu.

Inhalt

Die Betrachtung der Sexualität und ihrer gesellschaftlichen Einbindung ist dann auch der Inhalt, den Sigusch mit „Kritische Sexualwissenschaft“ meint. „Gattungsgeschichtlich gesehen, ist unsere Sexualität blutjung“, schreibt Sigusch und weiter, sie „existiert erst seit wenigen Generationen, und zwar nur in Europa und Nordamerika als ein allgemein Durchgesetztes. Politökonomisch gesehen, ist sie eine Frucht des Kapitalismus, die nur heranreifen konnte, weil die Not der Menschen nicht mehr überwiegend Hungersnot war und gleichzeitig alle menschlichen Vermögen und Kräfte isoliert und als solche fetischisierend vergesellschaftet wurden. Im Sinne der ‚Dialektik der Aufklärung‘ […] gesprochen, liegen dabei Befreien und Unterdrücken, Befriedigen und Versagen ineinander“ (S. 69; Hervorhebung im Original). Im Vergleich mit „unsere[r] Sexualität“ sei das Mittelalter durch eine „extreme Uneinheitlichkeit des Verhaltens“ gekennzeichnet gewesen, „[u]nvorstellbar für einen mittelalterlichen Menschen, was für uns einheitlich heute selbstverständlich ist: in einem dunklen Kino sitzen, einen exzitierenden Film sehen, die ‚Sexualobjekte‘ in Greifnähe haben und trieb- und affektgedrosselt bleiben“ (S. 70). Im Aufsatz „Was heißt kritische Sexualwissenschaft?“, der erstmals 1988 erschien, umreißt Sigusch damit „Kritische Sexualwissenschaft“ als ein Programm, Sexualität nicht nur einfach als in Gesellschaft eingebunden zu begreifen und zu analysieren, sondern sie im Kontext bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaftsordnung zu sehen.

Was das bedeuten kann, wird schon in den Aufsätzen deutlich, die diesem vorangehen – und die das vorliegende Buch eröffnen. Im Beitrag „Natur und Sexualität“ (zuerst 1979) schließt Sigusch an marxistische und materialistische Ansätze an und betrachtet „Natur“ und „Kultur“ in ihrem Zusammenhang, in ihrer dialektischen Verwiesenheit aufeinander. Er bezieht sich dabei auf Alfred Schmidts Buch „Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx“, das erfreulicherweise 2016 neu aufgelegt wurde und für ein „materialistisches“ Verständnis sehr zu empfehlen ist. Sigusch bringt diese Einsichten nun mit Sexualität zusammen: „1. Der Mensch ist von Natur aus gesellschaftlich und seine Sexualität ist es auch. Sexualität ist eine gesellschaftliche Kategorie. Menschensexualität schlechthin, ‚reine‘ Sexualität ist reine Gedankenschöpfung. Das natürliche Moment am Sexuellen lässt sich vom gesellschaftlichen prinzipiell nicht abscheiden – im Sinne von primär und sekundär, von vorausgegeben und gemacht, von richtig und falsch. […] 2. Zu interessieren hat uns der geschichtlich-gesellschaftliche Charakter des Sexuellen. Das ist philosophisch ebenso wie politisch geboten. Nur so erkennen wir, was für die Menschen konkret und bedeutsam ist. Nur bei dieser Blickrichtung können wir Pornografie, Partnertausch und Gruppensexualität als das begreifen, was sie sind: Ausfluss hingerichteter Begierde“ (S. 32 f.).

In den weiteren Ausführungen differenziert Sigusch das geschichtlich-gesellschaftliche Wesen des Sexuellen weiter aus, kommt dabei auch auf Begrenzungen („Die anatomisch physiologische Ausstattung des Menschen bleibt der geschichtlich-gesellschaftlichen Bildung seiner Sexualität nicht ganz und gar äußerlich, sie setzt Richtungen und Begrenzungen, wenn auch noch so randständige und kraftlose, wie die klinische Pathologie uns oft lehrt.“ [S. 34]), um dann auf die präzise Ableitung für die Sexualwissenschaft zu kommen: „6. Eine von Geschichts- und Gesellschaftstheorie getrennte Theorie der Sexualität des Menschen ist keine. Wer über Sexualität ernsthaft nachdenkt, hat die ganze Gattungsgeschichte des Menschen und mehr am Hals“ (S. 35).

Eine solche marxistisch-materialistische Perspektive, hin und wieder mit einer Prise „Pessismismus“ im Anschluss an die von Horkheimer und Adorno geprägte Kritische Theorie versehen, prägt die Perspektive, die Sigusch in der Auswahl der Beiträge und in seinem Werk insgesamt einnimmt. Mitunter tritt diese Sicht deutlicher hervor – wie auch in seinen Ausarbeitungen zu „Neosexualitäten“ –, an anderen Stellen tritt sie etwas zurück, wenn es etwa darum geht, Detailfragen zu Trans*, zu Asexualität, zu HIV/Aids oder auch zu sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Einrichtungen (wie Internaten) zu thematisieren (siehe die entsprechenden Beiträge im vorliegenden Band). Aber auch in diesen Betrachtungen schimmert die gesellschaftliche Einordnung stets durch.

Und Sigusch lässt uns an einigen kritischen Diskussionen in der Sexualwissenschaft teilhaben. Etwa zur Definition und Bedeutung des „Triebs“, ob er als „natürlich“ vorgängig zu betrachten ist und ob Sigmund Freud ihn in einer so „profanen“ Weise gesehen habe. Hier setzt sich Sigusch mit der Kritik des – ebenfalls renommierten und verdienstvollen – Sexualwissenschaftlers Gunter Schmidt auseinander, der das „Triebmodell“ und den darin beschriebenen „Sexualtrieb“ als naturalisierend und essenzialistisch kritisiert und als „nicht haltbar“ (S. 38) beschrieben hat.

Diskussion und Fazit

Der vorliegende Band ist ein Glücksfall! Ein engagierter Wissenschaftler hilft uns, sich einen Weg durch das „Dickicht“ seiner Schriften zu bahnen – und lädt uns gleichzeitig dazu ein, davon ausgehend die vorgestellten Werke und einige weitere ausführlich zu lesen. Das hätte den Lesenden durch ein Werkverzeichnis etwas erleichtert werden können. Aber in Zeiten der Digitalisierung ist es mittlerweile leichter, sich selbst durchzufinden, dabei drohen nur einige, vielleicht versprengtere Arbeiten, unterzugehen.

Die Auswahl der Beiträge ist für einen umfassenderen Blick auf Sexualität passend – und erhellend. Es wird das Größere angegangen, das gesellschaftliche Ganze. Der Sexualwissenschaft – und nicht nur der „kritischen“ – wird so ein grundständiger, interdisziplinärer Auftrag erteilt. Dabei wird deutlich, dass ohne eine solche Perspektive kein weiterführender Blick zu erhalten sein wird. Gleichzeitig werden für das Sexuelle die Begrenzungen durch die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung benannt; und die Aufgabe der Sexualwissenschaft wird genauer umrissen: Sie könne beschreiben und ermöglichen und solle nicht den Menschen eine gesellschaftliche Norm aufdrängen. Mit dem Blick auf die Detailfragen wird gezeigt, dass aufbauend auf einer solchen „Kritischen Sexualwissenschaft“ konkrete wissenschaftliche Arbeit möglich ist. Und konkrete Praxis: So können Sexualwissenschaftler*innen sich gegen die Pathologisierung von und gewaltvolle Maßnahmen gegen Trans* verhalten.

Insgesamt ist dem Buch „Kritische Sexualwissenschaft: Ein Fazit“ eine breite Leser*innenschaft und eine Übersetzung auch ins Englische sehr zu wünschen. Noch sind die teils sehr guten, teils gewiss auch diskutablen Ergebnisse der deutschsprachigen Sexualwissenschaft nur in geringem Maß der internationalen wissenschaftlichen Debatte zugänglich. Das sollte sich ändern.

Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 65 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.

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ISSN 2190-9245