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Heiner Hastedt (Hrsg.): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 23.07.2019

Cover Heiner Hastedt (Hrsg.): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen ISBN 978-3-8376-4592-7

Heiner Hastedt (Hrsg.): Deutungsmacht von Zeitdiagnosen. Interdisziplinäre Perspektiven. transcript (Bielefeld) 2019. 218 Seiten. ISBN 978-3-8376-4592-7. D: 29,99 EUR, A: 29,99 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Edition Kulturwissenschaft - Band 189. Unter Mitarbeit von Hanno Depner und Antje Maaser.

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Zeitdiagnosen sind Scheinwerfer

Weil „Scheinwerfer“ Dinge und Entwicklungen beleuchten, aber auch verzerren können, kommt es darauf an, den Blick auf die Wirklichkeiten zu richten, und das Grelle abzublenden, also das Faktische zu sehen und das Scheinbare, gar die Fake News als Verblendungen und Subversionen zu erkennen. Die Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte ist der Versuch, möglichst aus (konkreten) Utopien Wirklichkeiten werden zu lassen (vgl. dazu: Heribert Prantl, Was ein Einzelner vermag. Politische Zeitgeschichten, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/22422.php). In der Conditio Humana gibt es kaum eine wichtigere und existentielle Fragestellung als die nach der Zeit, die als Chronos in der aristotelischen Philosophie als Bewegung und Veränderung bedeutet und die dem Eingriff des Menschen verwehrt ist. Strom der Zeit ist Leben und Vergehen, Sein und Nichtsein! Zeitprognosen haben Menschen immer schon fasziniert, als weltanschauliche Vorhersagen und als wissenschaftliche Zukunftsanalysen. Im neuzeitlichen Diskurs über den Zustand der Menschheit und der Welt sind die Berichte an den Club of Rome Beispiele für Zeitdiagnosen; etwa, wenn mit dem Weltmodell die Grenzen des Wachstums aufgezeigt werden (1972). In den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt käme es darauf an, dem „business as usual“ eine nachhaltige Entwicklung entgegen zu setzen (1987) und eine „Achse der Weltgeschichte“ zu bauen (Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25040.php). Jedes Individuum versucht, sich auf die Zeit einzustellen. Versuche, die Zeit anzuhalten oder schneller vergehen zu lassen, scheitern. Das Kontinuum bleibt!

Entstehungshintergrund und Herausgeber

Mit der individuellen Frage – Wer bin ich? – und der kollektiven Nachschau – Was ist die Menschheit? – zeigen sich im wissenschaftlichen, interdisziplinären Diskurs Anforderungen, wie Deutungen von gegenwärtigen und zukünftigen Zeitdiagnosen wirksam, verifizierbar oder falsifizierbar werden. Es sind keine Wahrsagungen und Prophezeiungen, sondern auf dem faktischen und postfaktischen Wissen unserer Zeit beruhende Erkenntnisse und Erfahrungen, die Wahrheiten von Lügen und Tatsachen von Behauptungen unterscheiden. Dort, wo Zeitdiagnosen lokal- und globalgesellschaftliche Deutungsmacht beanspruchen, kommt es darauf an, wie Deutung verstanden wird (vgl. dazu z.B.: Wolfgang Welsch, Homo mundanus. Jenseits der anthropischen Denkform der Moderne, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14323.php).

Vom 25. – 27. Januar 2018 fand an der Universität in Rostock das Colloquium „Deutungsmacht und Zeitdiagnosen“ unter der Leitung des Philosophen Heiner Hastedt und dem Graduiertenkolleg statt. Mit Fragen „Wie werden Deutungen der Zeit mächtig?“ – „Welche bedeutenden oder unbedeutenden Funktionen erfüllen Zeitdiagnosen?“ – „Lassen sie sich verifizieren oder falsifizieren?“…, diskutierten Autorinnen und Autoren die vielfältigen, unterschiedlichen und interdisziplinären Aspekte einer gegenwärtigen, modernen Zeitdiagnostik. Es sind Fragen, die sich an soziologischen, philosophischen, psychologische, weltanschaulichen und pädagogischen Aspekten von „Deutungsmacht“ orientieren, angesichts der bestimmenden wie verstörenden Erkenntnis, dass Meinungen und ihre Weitergabe höchst menschliche und menschengemachte Aktivitäten sind (vgl. dazu auch: Tali Sharot, Die Meinung der anderen. Wie sie unser Denken und Handeln bestimmt – und wie wir sie beeinflussen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22651.php).

Aufbau

Neben dem Vorwort des Herausgebers wird der Sammelband in vier Kapitel gegliedert:

  1. Im ersten geht es um „Wahrheitspraktiken für Zeitdiagnosen“;
  2. im zweiten um „Kritik der quantitativen Verblendung“;
  3. im dritten um „Fiktionalität in Zeitdiagnosen“ und
  4. im vierten Kapitel wird die praktische Frage gestellt: „Welche Zeitdiagnosen setzen sich durch?“.

Inhalt

Heiner Hastedt stellt in seinem Beitrag „Deutungsmacht und Wahrheit als Qualitätskriterien von Zeitdiagnosen“ fest, dass Zeitdiagnosen wie Scheinwerfer sind, deutend, leuchtend und gleichzeitig verbergend. Mit seinem philosophischen, existentiellen Zugang verweist er auf historische Denkkonzepte und diskutiert reale und fiktionale Behauptungen, Meinungen und Diagnosen, bis hin zu Fake News und Verschwörungstheorien (siehe auch: Jos Schnurer, Menschengemachte Unwahrheiten, 13.6.19, www.sozial.de/menschengemachte-unwahrheiten.html; ders., 5.3.19, Meinungsfreiheit und Manipulation, sozial.de/meinungsfreiheit-und-manipulation.html).

Der Soziologe Fran Osrecki von der Berliner Hochschule für Wirtschaft und Recht setzt sich mit dem Beitrag „Zeitdiagnosen“ mit den Funktionen und Krisen dieser sozial- und geisteswissenschaftlichen Textgattung auseinander. Es sind die verschiedenen, soziologischen Versuche, Theorien und Typisierungen für echte und unechte Zeitdiagnosen zu entwickeln und so den soziologischen Stellenwert und Forschungsbedarf zu ermitteln.

Der Philosoph von der ETH Zürich, Michael Hampe, stellt „Wahrheitspraktiken“ auf den intellektuellen Prüfstand. Es ist das pragmatische Wahrheitsverständnis, das nach Bildung und Aufklärung strebt und trotzdem allzu oft an der Realisierung der Wahrheit scheitert. Die philosophischen Bemühungen, „dass die philosophischen Theorien der Erkenntnis und der Wahrheit Manifestationen einer sekundären Reflexionsanstrengung sind, die eine gewisse Wirkung auf die primären Praktiken… sehr wohl entfalten können“, gründen letztendlich in der Aufforderung, selbst zu denken.

Quantitative Blendung“ – mit dieser Analyse, dass in den Zeiten von www und allzeitiger Öffentlichkeit unkritisch und unhinterfragt, Fakten und Erzählungen bereitliegen, stellt Jonas Lüscher fest, dass angesichts der Unübersichtlichkeiten es angenehm und entlastend sei, ins Erzählen zu flüchten. Die Annahmen, dass es auf alle Fragen eine Antwort gäbe, dass solche Antworten tatsächlich möglich und die Antworten miteinander vereinbar wären, ist ein Diktum alles Mach-, Mess- und Einpreisbaren und sollte durch narratives Bewusstsein verändert werden.

Der Rostocker Philosoph und Germanist Steffen Kluck fragt: „Zahltag? Über den Preis der Quantifizierung“. Er diskutiert die von anthropologischen und kulturellen Einflüssen bestimmten Beobachtungen und Wahrnehmungen von „uneinigen Dilettanten“, den ego- und ethnozentristisch denkenden und handelnden Menschen also, die alles Sein, Soll und Haben mit dem Messstab erkunden wollen und kritisches Bewusstsein für „humane Optionen im Hinblick auf die Konsequenzen in der Lebenswelt“ vermissen lassen.

Der Rostocker Ethiker Christian Klager schlägt vor, „Spielen als Kritik der Instrumentellen Vernunft“ zu verstehen und den allzu präsenten und allmächtigen Begriff der „Effizienz“ auf den Prüfstand zu stellen. Er nimmt den sympathischen, im Lebensdiskurs der Menschen eher vernachlässigten Aspekt auf, dem konvergenten, vernunftgesteuerten Denken und Tun „Spielen als kontemplativen Weltzugang“ zuzuordnen. Am Beispiel der Entwicklung von effektiveren, wirksameren, zählbaren Reformbemühungen – Studien-, wie auch gesellschaftlichen Reformen – verdeutlicht der Autor: „Das Spiel … ist Welt, Spiegel der Welt, Fragment und Symbol zur Welt“.

Zur „Fiktionalität in Zeitdiagnosen“ rekurriert der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen „Fiktion als Annäherung an die Wirklichkeit“ auf historiographische Reflexionen, die er in seinem Buch: „Die Staatsräte. Elite im Dritten Reich“ (2018) als anachronistische „Irrealitäten der Wirklichkeit“ bezeichnet. Er diskutiert Fragen wie: „Gibt es in der Geschichte des Denkens überhaupt Anachronismen? Oder findet Geschichte im Reich der Philosophie nur statt, wenn sie in einen Handlungsraum verflochten ist, der zeitliche Grenzen hat? Begrenzt das wiederum ihr Geltung?“.

Die Literaturwissenschaftlerin und Soziologin Sina Farzin nimmt die Gedanken zur Zeit- und Gegenwartsdiagnostik auf, indem sie über „Literatur als Quelle und Methode soziologischer Zeitdiagnose“ nachdenkt. Es sind Grenzen und Übergänge, die sowohl Literatur als privilegierte Wissensquelle, als auch „zum utopischen worldbuilding als Ressource der Gesellschaftskritik“ ausweisen.

Der Rostocker wissenschaftliche Mitarbeiter und praktische Philosoph Hanno Depner nimmt mit den Beitrag „Zeitdiagnosen als ethisch-politische Strategien“ die Phänomene auf, wie sie sich als „Bilderflut“ in der Bildwissenschaft und in den Visual Culture Studies zeigen (vgl. z.B. dazu auch: Michael R. Müller / Hans-Georg Soeffner, Hrsg., Das Bild als soziologisches Problem. Herausforderungen einer Theorie visueller Sozialkommunikation, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25022.php).

Mit der ganz konkreten Frage, welche Zeitdiagnosen sich im realen und emotionalen Prozess der menschlichen Kommunikation durchsetzen und welche eher nicht, thematisiert der Politikwissenschaftler Walter Reese-SchäferZeitdiagnosen als Mittel politischer Deutungsmacht und das Problem der vermeidbaren Irrtümer“. Es sind die vermeintlichen Selbstverständlichkeiten, die nicht hinterfragbare Behauptungen als Alternativen verbieten und kritische, abweichende Diskurse obsolet machen.

Der Jenenser Philosoph Wolfgang Welsch richtet mit dem Beitrag „Postmoderne: vordergründige Ablehnung, untergründiger Erfolg“ seinen Blick zurück auf die besonders mächtige Zeitdiagnose, wie sie als „Postmoderne“ in der nordamerikanischen, wissenschaftlichen Literaturtheorie und -kritik aufkam und im europäischen Diskurs (Lyotard, u.a.) weiterentwickelt und in der gesellschaftspolitischen, architektonischen … Denke wirksam wurde. Weil das dualistische Denken vorherrschte, dass „der Mensch ( ) wegen seiner geistigen Natur als ein absolutes Sonderwesen gegenüber dem völlig geistlosen Rest der Welt (galt)“, kann nur ein post- und nachpost-modernes Bewusstsein helfen, integratives Denken zu ermöglichen.

Mit dem Beitrag „Verschwörungs(theorie)panik“ beschließt Michael Butter den Sammelband, indem er feststellt: „Nichts ist, wie es scheint“ (2018, www.socialnet.de/rezensionen/24187.php). Er vermittelt einen historischen und aktuellen Überblick über Verschwörungstheorien und zeigt Mittel auf, wie der harmlosen bis gefährlichen „Spirale der Erregung“ begegnet, und wie abseitige Weltwahrnehmungen mit der Methode des „Filter Clash“ (Pörksen) erkannt und bewältigt werden können.

Fazit

Zeitdiagnosen sind Suchbewegungen und Versuche zur individuellen und kollektiven Selbst- und Welterkenntnis. Wie dabei Deutungsmacht entsteht, anerkannt oder verworfen wird, hat viel zu tun mit dem jeweiligen, verfassten und aufgeklärten, kulturellen Bewusstsein der Menschen. Weil Zeitdiagnosen sich immer in der Spannweite von Utopie und Wirklichkeit, von Fakten und Illusionen und von Gegenwarts- und Zukunftsbewusstsein bewegen, muss den Fragen nachgegangen werden, was Zeitdiagnosen sind und wissenschaftliche Zeitdiagnostik ist, und wie sie auf Individuen und Kollektive im Miteinander der Menschen wirken. Es sind die Haltbarkeiten und Unhaltbarkeiten von Zeitdiagnosen, die des intellektuellen, wissenschaftlichen Diskurses benötigen. Der Sammelband „Deutungsmacht von Zeitdiagnosen“ nimmt diese Herausforderung an und auf.

Zum Schluss der Rezension verweist der Rezensent (obligatorisch) auf eine Art Zeitdiagnose zum Umgang der Menschen mit der Welt: Die Frage – „Wie wollen wir leben?“ – betrifft unser Welt- und Umweltbewusstsein. Mehrere Verlage sind mittlerweile dazu übergegangen, ihre Produkte nicht mehr in Plastikfolie einzuschweißen. Das ist gut, richtig und umweltschonend.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245