Johannes B. Schmidt: Das Transzendente in der Psychotherapie
Rezensiert von Peter Schröder, 23.03.2020

Johannes B. Schmidt: Das Transzendente in der Psychotherapie. Über Spiritualität und Präsenz im therapeutischen Wirken. Kösel-Verlag (München) 2019. 283 Seiten. ISBN 978-3-466-34733-9. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,90 sFr.
Thema
Seit ihren Anfängen bemüht sich die Psychotherapie um den Nachweis, dass es sich um eine wissenschaftlich begründete Heilmethode handelt. Seit ihren Anfängen kämpft die Psychotherapie allerdings auch mit dem Verdacht, dass es das, was sie zu therapieren behauptet, gar nicht gibt, denn „die Seele“ entzieht sich weitgehend einem wissenschaftlichen Zugriff, wenn man Wissenschaft nach dem Konzept empirischer Naturwissenschaften versteht. Die Sehnsucht der Psychologie nach Wissenschaftlichkeit drückt sich zum Beispiel in der großen Beliebtheit standardisierter Verfahren und Test aus. Aber auch wenn man viel darüber weiß, wie Menschen „funktionieren“, hat man noch nicht wirklich eine Aussage über „die Seele“ gemacht. In Analogie zu einer theologischen Formulierung über Gott könnte man sagen: „Eine Seele, die es gibt, gibt es nicht“. Vielmehr könnte man sagen: „die Seele“ teilt sich dem Menschen mit, sie ereignet sich in ihm, sie ist keine Kategorie im Menschen, sondern zwischen Menschen, wie C.G. Jung betont hat.
Wenn man diese Annahme zugrunde legt, greift eine auf das Subjektive, das Individuelle, fokussierende Psychotherapie entschieden zu kurz. Die Bedeutung der intersubjektiven Kategorie der Begegnung braucht mehr Aufmerksamkeit. Damit wird, was den Anspruch nachvollziehbarer Wissenschaftlichkeit angeht, der Boden weicher. Noch unsicherer wird das Gelände, wenn das Transzendente thematisiert wird, denn das entzieht sich sogar weitgehend dem präzise Sagbaren und ist noch mehr als das Reden von „der Seele“ auf hermeneutische Zugänge angewiesen. Wenn ich das Buch von Schmidt richtig verstehe, will es eben diese Zugänge aufzeigen, beschreiben und der therapeutischen Aufmerksamkeit empfehlen.
Autor
Johannes B. Schmidt arbeitet seit 1995 als Psychotherapeut in Bad Wiessee und leitet dort seit 2004 die „Aptitude-Academy“, die unter anderem Seminare mit dem Schwerpunkt Traumatherapie anbietet.
Aufbau und Inhalt
Nach einem Geleitwort von Eugen Drewermann beginnt das Buch mit der Einleitung: Transformation religiöser und spiritueller Formen in der Postmoderne. In diesem Abschnitt klingen die grundlegenden Themen des Buches wie in einer Ouvertüre an. Der Schritt in den Bereich der Transzendenz wird mit einer vertieften Form der Begegnung, eine Begegnung im Buberschen Sinn, markiert. Wie Schmidt formuliert: „Die Begegnung mit dir führt mich zu mir, und somit erschließt du mir eine Teilhabe an der Tiefe meiner eigenen Existenz.“ (S. 13) Diese Form von Spiritualität ist nicht deckungsgleich mit institutioneller Religiosität welcher Ausprägung auch immer. Wenn Begegnung die zentrale Kategorie ist, muss ein Perspektivwechsel von der Ein-Personen-Psychologie zur Zwei-Personen-Psychologie stattfinden. Damit ist gleichzeitig eine Aufgabe verbunden: „Die Psychotherapie der kommenden Dekaden muss einen Beitrag zur Beziehungs- und Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen leisten.“ (S. 26)
Das erste Kapitel nimmt ein Thema der Einleitung wieder auf. Es ist überschrieben mit „Therapeutische Begegnung“. Die Überschriften der einzelnen Abschnitte skizzieren den Gedankenfortschritt des Kapitels: „Die Personen des Therapeuten als Hauptwerkzeug der Therapie“, „Transzendenz des Therapeuten“, „Teilhabe an einem Mysterium“ (gemeint ist der gemeinsame Bezug zur Transzendenz), „Bedeutung der Begegnung mit anderen“, „Die Fragen nach dem Sinn des Lebens und des Leidens“, „Wirklichkeitsverständnis in der Kabbala“ und „Therapeut-Klient-Beziehung als ebenbürtige Begegnung“.
Das zweite Kapitel trägt die Überschrift: Intersubjektivität – interpersonell oder interontisch? Der zentrale Begriff des Kapitels ist „Teilhabe“. Teilhabe hat mehrere Dimensionen, sie übersteigt zunächst die Fokussierung auf eine „Ein-Personen-Psychologie“ in Richtung auf die Therapeut-Klient-Beziehung, heilsame und spirituelle Erfahrungen ereignen sich im Raum des „Zwischen uns“, und schließlich ist die therapeutische Begegnung auf einen gemeinsamen Urgrund gegründet – der „Teilhabe an etwas Größerem“ (S. 63).
Das dritte Kapitel ist überschrieben mit: Alltagstranszendenz in der Psychotherapie. Die Eingangsthese des Kapitels lautet: „Tiefstes Trauma kann nur in einem sakralen Raum gehalten werden, weil der Schmerz und das Unrecht sonst nicht ertragbar sind.“ (S. 92) „Raum“ meint hier allerdings nicht einen materiellen, sondern einen qualitativen Raum, der durch Empfindungen, Geborgenheit, nicht selten auch (zeitweiliger) Wortlosigkeit gestaltet wird. Die Dimension ist und bleibt unverfügbar – umso wertvoller ist sie, wenn sie spürbar wird. Dementsprechend gibt es auch keine zuverlässige Methode zur Erforschung von „transpersonaler Wirklichkeit“, also von Transzendenz. Schmidt zitiert eine Arbeit von Lancaster, der schreibt: „Die Frage ist jedoch nicht, ob wir Transzendenz beweisen können, sondern ob eine Haltung, die Transzendenz anerkennt, einen Unterschied macht.“ (S. 96)
Im Kapitel folgen nun zehn Interviews mit therapeutischen Kollegen, in denen versucht wird, Transzendenzerfahrungen in Therapieprozessen narrativ zu erfassen. Die Validierung des Phänomens erfolgt über die Empfindung der interviewten Therapeut/​-innen. Dabei wird auch deutlich, dass das Transzendente ambivalent ist: nicht nur das Gute erscheint in der transpersonalen Begegnung, sondern auch das Dunkle, Böse.
Die Überschrift des vierten Kapitels lautet: Sakraler Raum. Es ist die Zusammenfassung des Buches, in der der Autor noch einmal beschreibt, was er unter der Raumqualität versteht, in der sich das Phänomen des Transzendenten zeigt, und welche Sinne es braucht, auch diese Dimension in Therapieprozessen zu erfassen.
Das fünfte Kapitel schließlich ist mit Körperverständnis überschrieben und „erdet“ das vorher Gesagte in der Weise, dass man in der Psychotherapie nicht nur mit seelischen und transpersonalen Themen zu tun hat, sondern eben auch mit „Menschen aus Fleisch und Blut“. Entsprechend präzisiert der Autor an dieser Stelle, was er – angesichts sehr unscharfer Verwendungsformen von „Körper“ und „Körpertherapie“ in der therapeutischen Praxis – unter dem Begriff „Körper“ versteht. Dabei zeigt sich, dass er mit einem weiten Körperbegriff arbeitet. Dabei zitiert er den amerikanischen Osteopathen James Jealous, der vier Körperzonen unterscheidet, und bezieht diese Zonen auch auf kabbalistische Konzepte. Als weitere Perspektiven werden die Konzepte von Dürckheim, Weinreb, C.G. Jung, Peter Levine und anderen hinzugezogen, was einerseits das Bild abrundet und andererseits am Ende des Buches zur eigenen Weiterarbeit einlädt.
Diskussion
Das Buch erfordert die Bereitschaft, sich auf das Unverfügbare und wenig Greifbare in der Psychotherapie einzulassen statt den Fokus auf das Transzendente, auf die Spiritualität, voreilig als esoterisch und im wissenschaftlichen Diskurs irrelevant zu werten. Nicht umsonst wird das Fazit, das Schmidt aus den Interviews mit den Kolleg/​-innen zieht, mit diesem Satz eröffnet: „Obwohl für die Mehrzahl der Therapeuten die Natur des Transzendenten nur in Vergleichen beschreibbar ist, wurde der Felt Sense, die jeweilige Empfindung des Phänomens, als vollgültige Validierung des Transzendenten empfunden.“ (S. 237) Es ist ja gerade die Definition des Transzendenten, dass sie sich dem empirischen Zugriff entzieht. Wer sich also nur im Bereich empirischer Überprüfbarkeit wohl und sicher fühlt, wird sich mit dem Buch schwertun. Wer aber wach ist für Phänomene im „Zwischen uns“, der wird dazu ermutigt, den Blick in der therapeutischen Arbeit, besonders in der Arbeit mit Traumata, heilsam zu weiten.
Es sind viele einzelne Aspekte, die ich mir angemerkt habe und die das eigene Konzept und die eigene Arbeit anreichern. Wenn Schmidt z.B. Buber zitiert mit dem Satz: „Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung“ (S. 19), wirft das noch einmal ein kritisches Licht auf Coaching-„Tools“ und Therapiemanuals. Oder z.B. den Hinweis, dass Liebe in der kabbalistischen Tradition verstanden wird „als das Sich-Zurücknehmen, um dem Menschen Raum zu geben für sein eigenes Dasein“ (S 20) halte ich für höchst relevant in Beratungs- und Therapieprozessen. Ebenso finde ich die Gedanken zum Thema „Teilhabe“ (S. 63ff) sehr wertvoll. Und neben vielem anderen auch dieses: „Therapeuten müssen auch mit dem Bösen im Menschen rechnen, wie immer das Böse jeweils verstanden wird. … In meinem eigenen derzeitigen Verständnis werden Menschen böse, wenn ihnen der Ausdruck ihrer Liebe verwehrt wird.“ (S. 240)
Diese wenigen Bruchstücke mögen als Hinweise dienen, wie lohnend die Lektüre dieses Buches sein kann. Ich jedenfalls habe es mit großem Gewinn gelesen und werde gewiss manche Pfade, die es gelegt hat, weiter erkunden.
Fazit
Dieses Buch sei nicht nur Therapeuten ans Herz gelegt. Es ist ein Gewinn für alle, die im Rahmen psychosozialer Beratungsformate Menschen begegnen, denn es ist eine Reflexion darüber, was „Begegnung“ in ihrem Kern ausmacht und dass zwischen zwei Menschen in der Begegnung etwas entsteht, das darüber hinausgeht, was beide mitgebracht haben.
Rezension von
Peter Schröder
Pfarrer i.R.
(Lehr-)Supervisor, Coach (DGSv)
Seniorcoach (DGfC) Systemischer Berater (SySt®)
Heilpraktiker für Psychotherapie (VFP)
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