Stephen P. Hinshaw: Eine andere Art von Wahnsinn
Rezensiert von Ortrud Aden, 17.01.2020

Stephen P. Hinshaw: Eine andere Art von Wahnsinn. Vom langen Schweigen und Hoffen einer Familie.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2019.
349 Seiten.
ISBN 978-3-88414-952-2.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR.
Matthias Reiss (Übersetzer) .
Thema
Der Autor erlebte als Kind und Jugendlicher die psychische Krankheit seines Vaters, ohne dass je darüber gesprochen wurde. Erst zu Beginn seines Studiums fing sein Vater an, mit ihm über seine Erkrankung zu sprechen. Für Hinshaw hob sich dadurch „ein Schleier aus Schweigen und Scham, der jahrelang über der Familie gelegen hatte“. Er begann daraufhin, die Lebensgeschichte seines Vaters Stück für Stück zu rekonstruieren.
Gleichzeitig beschreibt er sowohl autobiografisch als auch von seinem heutigen fachlichen Hintergrund, was das Leben mit der psychischen Erkrankung, aber vor allem auch die Stigmatisierung und das Schweigen über die Erkrankung für seinen Vater und die Angehörigen bedeutet hat. Sein Anliegen ist es, Schweigen, Scham und Stigmatisierung zu durchbrechen und alle Beteiligten zu einem offenen Dialog zu ermutigen.
Autor
Stephen P. Hinshaw ist Professor für Psychologie in Kalifornien und verfasste mehrere Bücher zu psychischen Störungen und zur Stigmatisierung. Er wurde mehrmals mit Preisen für seine wissenschaftlichen Leistungen in den Bereichen Entwicklungs- und klinischer Psychologie ausgezeichnet.
Aufbau und Inhalt
Der Autor wechselt die Perspektiven während der einzelnen Kapitel: Er beschreibt Episoden aus Kindheit, Jugend und weiterem Leben seines Vaters; Episoden, in denen es ihm gut ging und andere, in denen sich eine weitere psychische Krise anbahnte. Auch über die diversen Psychiatrieaufenthalte des Vaters berichtet der Autor anhand der Erzählungen des Vaters und anhand anderer Quellen, die die damalige Psychiatrie beschreiben.
Der Autor schildert auch Episoden aus seiner eigenen Sicht als Kind oder Jugendlicher – schöne und auch als bedrohlich empfundene. Er schildert seinen Vater als leidenschaftlichen Wissenschaftler und liebevollen Vater. Die immer wieder auftretenden Krankheitssymptome, in denen der Vater sich zu „verwandeln“ schien, erlebte er vielleicht gerade deswegen als bedrohlich; den Eltern wurde damals von den Ärzten dringend empfohlen, den Kindern gegenüber die psychische Erkrankung mit keinem Wort zu erwähnen. Dieses strikte Schweigen der Eltern, die ausbleibenden Erklärungen für die häufige, längere Abwesenheit des Vaters und die unausgesprochene Übereinkunft der Familie, nach außen hin immer so zu tun, als sei alles in Ordnung, alles das erlebte er zusätzlich als besonders belastend.
Die Perspektiven der Mutter, die sich verzweifelt bemüht, das Geheimnis zu bewahren und den Schein nach außen zu wahren, und auch der Schwester werden mit einbezogen. Zwischendurch gibt er fachliche Erläuterungen zu den psychiatrischen Erkrankungen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Stigmatisierung und deren Folgen.
Im weiteren Verlauf des Buches beschreibt der Autor auch seine eigene berufliche und persönliche Entwicklung, immer vor dem Hintergrund des Stigmas durch die Erkrankung seines Vaters. Er beschreibt, wie es ihm Stück für Stück gelingt, das Schweigen zu durchbrechen, was wiederum für seine persönliche Entwicklung bedeutsam ist und ihm hilft, mit Mutter, Schwester und anderen Familienmitgliedern schließlich doch über das Thema ins Gespräch zu kommen.
Diskussion
Trotz des anspruchsvollen und bewegenden Themas ist das Buch leicht und flüssig zu lesen. Die oft wenig ruhmreiche Geschichte der Psychiatrie in den 30er, 40er und 50er Jahren wird ohne Pathos, aber nachvollziehbar beschrieben. Die verschiedenen Perspektiven sind schlüssig und verständlich und machen das Buch lebendig; die Auswirkungen von Stigmatisierung, Scham und Schweigen werden anhand der Episoden und des theoretischen Hintergrunds deutlich. Die fachlichen Erläuterungen zwischendurch sind klar und hilfreich zum Verständnis der Episoden und der Biografien. Es ist dem Autor gelungen, die Vielschichtigkeit der Problematik einzufangen. Seinem Anliegen, Stigmatisierung und Schweigen in Bezug auf psychische Erkrankungen allmählich zu durchbrechen, ist er mit diesem Buch ein gutes Stück nähergekommen.
Fazit
Ein in jeder Hinsicht lesenswertes Buch, das den Blick schärfen kann für die Situation von Menschen, die auf irgendeine Art „anders“ sind und auch eine Ermutigung darstellt, die Dinge offen und behutsam auszusprechen.
Rezension von
Ortrud Aden
M. A. Sonderpädagogik und Rehabilitationswissenschaften, zur Zeit tätig in einer Autismusambulanz
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