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Jana Simon: Unter Druck

Rezensiert von Prof. Dr. Daniel Buhr, 03.12.2019

Cover Jana Simon: Unter Druck ISBN 978-3-10-397389-1

Jana Simon: Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert. S. Fischer Verlag (Frankfurt am Main) 2019. 335 Seiten. ISBN 978-3-10-397389-1. D: 20,00 EUR, A: 20,60 EUR.

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Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

In Biografien spiegelt sich die Welt, sagt die Autorin Jana Simon (MAZ 2019). Daher begleitet sie in ihrem Buch „Unter Druck“ über sechs Jahre hinweg sechs Menschen in Deutschland. Dabei entstand ein spannendes Kaleidoskop verschiedener Ausschnitte sehr unterschiedlicher Biografien, die sich schließlich in einem Gesamteindruck verfestigen: Deutschland verändert sich. Und das nicht gerade zum Guten. Jana Simon beschreibt eine Gesellschaft unter Druck.

Autorin

Die Autorin Jana Simon ist bekannt für ihre hintergründigen Reportagen und einfühlsamen Porträts. Sie schreibt unter anderem seit 2004 für „Die Zeit“. Zuvor war sie Reporterin beim „Tagesspiegel“. Für ihre Reportagen erhielt sie zahlreiche Preise, u.a. den Theodor-Wolff-Preis, den Axel-Springer-Preis und den Deutschen Reporterpreis. Schon in ihrem ersten Reportageband „Alltägliche Abgründe“ beschrieb sie 2004 das Leben von Außenseitern ebenso eindrücklich wie respektvoll. Mit ihrem aktuellen Buch wagt sie sich nun noch stärker in den politischen Diskurs, in dem sie die Lebenssituationen ihrer Protagonisten gekonnt mit aktuellen und gleichsam gesellschaftspolitisch umstrittenen Themen verknüpft – von Gesundheit über Rente und Migration bis zur Globalisierung – und damit indirekt auch den Aufstieg des Rechtspopulismus in Deutschland analysiert.

Inhalt

Ökonomisch stabil und gesellschaftlich weltoffen, so stellte sich die Bundesrepublik Deutschland in den vergangenen Jahren dar. Galt der ehemals „kranke Mann Europas“ seit einem knappen Jahrzehnt vielerorts als genesen, lässt Jana Simons Buch erste Zweifel an dieser Genesung aufkommen. Ihre Lesart: Ein Land steht unter Druck. Anhand von Längsschnittbeobachtungen ihrer sechs Protagonisten zeichnet ihr Buch ein einprägsames Bild eines Landes, das sich zumindest gefühlt im Krisenmodus zu befinden scheint. Finanzkrise, Eurokrise, Klimakrise. Flüchtlingsströme, deren Integration die Gesellschaft zu spalten droht. Das Wachsen des Rechtspopulismus und Rechtsextremismus, während zugleich die klassische Mittelschicht schrumpft bzw. sich Teile davon gehetzt und gestresst mit Abstiegssorgen plagen. Es ist ein düsteres, ein bedrückendes Bild, das sie zeichnet und das den Rahmen vorgibt für die vielen kleinen Erzählungen und Interview-Sequenzen mit ihren Hauptdarstellerinnen und Hauptdarstellern. Eine Zeitreise durch wachsende Verunsicherung und Unzufriedenheit in 35 Kapiteln. Chronologisch aufgereiht, sortiert und jeweils überschrieben mit den Namen ihrer Protagonisten.

Von 2013 bis heute hat Jana Simon diese begleitet. Sechs Jahre lang, sechs Personen. Bekannte wie unbekannte Persönlichkeiten: Die alleinerziehende Krankenschwester Bozena Block; engagiert, bestens qualifiziert und sich dennoch vor Altersarmut fürchtet. Die junge Influencerin Lisa Banholzer, die eigentlich nur immer alles richtigmachen will, um ja keine „Follower“ zu verprellen und damit möglicherweise gar ihr Geschäftsmodell zu verlieren. Der ehemalige Finanzstaatssekretär, EZB-Direktor und heutige Investmentbanker Jörg Asmussen. Thomas Matczak, ein erfahrener Polizist und Staatsschützer aus Thüringen. Die Familie Reichenbach aus dem Speckgürtel Stuttgarts, die mit der Erhaltung ihres Mittelklassestatus‘ und den Auswirkungen des Dieselskandals kämpft – und dabei lieber im Buch unter einem Pseudonym erwähnt werden möchte. Und nicht zuletzt der medienversierte AfD-Vorsitzende Alexander Gauland. Gerade bei diesem Protagonisten wird deutlich, inwiefern auch Jana Simon sich „unter Druck“ gesetzt hat: „Immer wieder zweifelte ich daran, ob ich ihm mit meiner Beschreibung zu viel Raum, eine zu große Plattform biete. Andererseits reiben sich alle anderen Gesprächspartner in diesem Buch an ihm und der AfD […]. Kaum jemand hat Deutschland in den vergangenen Jahren so verändert und in Atem gehalten wie er und seine Partei.“

Dieser Alexander Gauland gilt zu Beginn ihrer Reportage im Jahr 2013 tatsächlich noch vielen in Deutschland durchaus als Intellektueller. Ein ehemaliger Journalist, Ex-CDU-Mitglied, Ex-Staatssekretär, der anfangs sogar noch von vielen seiner sowohl bürgerlichen als auch liberalen und linken Weggefährten als kluger Zeitgenosse dargestellt wird. Im Laufe der Zeit werden sich jedoch immer mehr von ihm lossagen. Zu viele umstrittene öffentliche Aussagen, sein lautes Schweigen zu mehr als unappetitlichen Aussagen mancher seiner Parteigenossen, die vielen Provokationen, all das macht ihn alten Freunden fremd. Auch seine Familie hadert mit seiner immer deutlicher zu Tage tretenden Radikalisierung, welche die Autorin sehr anschaulich an Beispielen zu beschreiben weiß: „Nun läuft Alexander Gauland zum Pult. […] Er vertritt wieder seine These, Merkel wolle den Nationalstaat auflösen. ‚Nationalstaaten seien Konstrukte, steht in den Intelligenzblättern. Was ist dann erst die EU?‘ Heiterkeit im Saal. Das ist wieder einer der Augenblicke, in denen man sich fragt, was in Gauland vorgeht, wenn er ‚Intelligenzblätter‘ sagt. Auch er liest sie, er hat für sie geschrieben, er ist ihr Zielpublikum. Ist das Selbstverleugnung oder Taktik, um in diesem Umfeld zu gefallen? Oder beides? […] Diese Verwandlung des Dr. Gauland innerhalb weniger Augenblicke irritiert stets aufs Neue: Von einem Mann, der im persönlichen Gespräch nach wie vor auch selbstkritisch differenzieren kann, in den Mann, der öffentlich hetzt und provoziert.“

Zumindest in Teilen der Bevölkerung scheinen die Hetzparolen der AfD zu verfangen. Wohl auch bei der alleinerziehenden Krankenschwester Bozena Block, die sich zunehmend gehetzt, abgehängt und verunsichert fühlt. Auch als stellvertretende Pflegedienstleiterin und nach diversen Weiterbildungen verdient sie immer noch ähnlich wenig wie vor 20 Jahren. Sie macht sich Sorgen um ihren Sohn, hat Angst ihre Wohnung zu verlieren und womöglich in die Altersarmut abzurutschen. Und das, wo es doch statistisch gesehen wirtschaftlich noch nie zuvor so vielen Menschen in Deutschland so gut geht wie in der jüngsten Vergangenheit. Hohe Erwerbsquote, niedrige Arbeitslosigkeit, jahrelanges Wirtschaftswachstum. Nie war das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland höher, nie waren mehr Menschen in Erwerbsarbeit – wenngleich eben mehr und mehr in Teilzeit beschäftigt. Gerade in diesem Spannungsverhältnis zwischen absolutem Reichtum und relativer Armut zeigen sich die Phänomene der gefühlten Ungerechtigkeiten, der Verunsicherung und sogenannten Statuspanik. Selbst jene Leistungsträger der Gesellschaft – zum Beispiel „Familie Reichenbach“ –, die mit gut dotierten Jobs im wohlhabenden Süddeutschland leben, plagen sich mit Abstiegsängsten und sorgen sich um den sozialen Frieden in der Gesellschaft. Das ist es, was Jana Simon in vielen plastischen Episoden, chronologisch stimmig aneinandergereiht und kontextualisiert, in einfacher aber umso einprägsamer Sprache zu vermitteln weiß: dieses Land verändert sich – und folgen wir den Protagonisten dieses Buches, dann nicht zwingend zum Guten.

Diskussion

Nach der Lektüre dieses Buches liegt die eher dystopische Bewertung dieses Wandels nahe. Das wäre dann auch der einzige, kleine Kritikpunkt an dem sehr lesenswerten Kaleidoskop. Durch ihren ethnographischen Zugriff und die dichte Beschreibung von Einzelschicksalen führt uns die Autorin womöglich unbewusst zu einem nur vermeintlich repräsentativen Bild des aktuellen Zustands unserer Gesellschaft. Das Buch legt uns damit eine Ableitung nahe („früher war alles besser…“), die eben auch Populisten wie Alexander Gauland geschickt anzuwenden wissen. Hier lauert die Gefahr, durch die nahe liegende Verleitung zur Induktion, also aus der – gleichwohl sorgsam konzipierten – Aneinanderreihung vieler Einzelphänomene auf das Allgemeine zu schließen und so möglicherweise ein extrapoliertes Zerrbild der Realität zu zeichnen. Aus einzelnen Mosaiksteinchen scheint sich so, Stück für Stück, das große Ganze abzuzeichnen: der Niedergang. Man möchte aufstehen, sich schütteln und fragen: geht es uns wirklich (schon) so schlecht? Vermutlich wird auch Jana Simon auf diese Frage mit „nein“ antworten. Aber wir sind alle aufgerufen als Gesellschaft und gemeinsam daran zu arbeiten, dass es eben in vielerlei Hinsicht nicht so weit kommt.

Fazit

Jana Simon hat ein fesselndes Buch geschrieben. Klar in der Sprache, aufmerksam in der Beobachtung, düster in der Analyse. Die porträtierten Personen wurden von der Autorin sorgsam ausgewählt und über sechs Jahre hinweg begleitet. Jana Simon bringt deren Erlebnisse und Wahrnehmungen, Ansichten und Gemütslagen zur Sprache. Ihre Protagonisten sind keineswegs repräsentativ, zeichnen jedoch durchaus ein umfassendes Bild des Gemütszustands, der in Teilen der deutschen Bevölkerung zu herrschen scheint. Hier befinden sich viele Menschen, bis tief in die Mittelschicht hinein, im Krisenmodus – und fühlen sich offensichtlich von vielen politischen Akteuren im Stich gelassen. Klimawandel und Globalisierung, Modernisierung und Digitalisierung – vor allem der damit verbundene Wandel ängstigt viele, interessanterweise unabhängig von Verdienst und formalem Bildungsgrad. Es stellen sich komplexe Fragen, die von manchen mit einfachen Parolen beantwortet werden. Der Aufstieg populistischer Hetzer ist nur ein Ausdruck dieser Verunsicherung. Zu selten gelingt es den etablierten Parteien mit ihren Botschaften und dem Erfolg vieler politischer Initiativen (z.B. Mindestlohn, Grundrente, aber auch vielerlei demokratische Beteiligungsmöglichkeiten) durchzudringen. Es mangelt an großen, positiven Zukunftsnarrativen und verständlichen Erklärungen. Mitunter mangelt es wohl vielerorts auch an Verständnis und Respekt füreinander. Hier gilt es zunächst, gut zu zuhören. Das hat Jana Simon auf eindrucksvolle Weise getan.

Rezension von
Prof. Dr. Daniel Buhr
Eberhard Karls Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft. Professur für Policy Analyse und Politische Wirtschaftslehre
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Es gibt 6 Rezensionen von Daniel Buhr.

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ISSN 2190-9245