Elizabeth Anderson: Private Regierung
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Elkeles, 12.10.2019

Elizabeth Anderson: Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden).
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
258 Seiten.
ISBN 978-3-518-58727-0.
D: 28,00 EUR,
A: 28,80 EUR,
CH: 38,50 sFr.
Karin Wördermann (Übersetzerin).
Thema
Das Buch versteht sich als Ideologiekritik eines falsch verstandenen Gedankens vom freien Markt. Während die politischen und ökonomischen Theorien des freien Marktes heute mit den Libertaristen, Neoliberalen und der politischen Rechten verbunden werden, seien sie bei ihrer Entstehung ursprünglich Teil einer egalitaristischen Agenda gewesen („Als der Markt noch ‚links‘ war“) und in der frühen Neuzeit darauf gerichtet, soziale Gleichheit bezogen auf Autorität, Ansehen und Status gegen überkommene willkürliche Adels- und Ständeherrschaft mittels freier Marktbeziehungen herzustellen. Hierfür setzte sich zur Zeit des englischen Bürgerkriegs die Bewegung der sog. Levellers ein. Sie, aber auch noch später Adam Smith, stellten sich vor, die große Masse der Bevölkerung werde selbstständig auf freien Märkten als freie Männer tätig sein und schlossen staatliche Rahmenregelungen keineswegs aus, sondern propagierten teilweise sogar ein staatliches Bildungs- und Sozialversicherungssystem. Spätestens die Industrialisierung habe aber gezeigt, dass das Ideal der Selbstständigkeit nicht für die große Masse der Bevölkerung realisierbar war. Die Ideologie, die Marktbeziehungen gewährten die nötigen Freiheiten, wirke aber fort, besonders bei den Arbeitsbeziehungen in (US-amerikanischen) Unternehmen. Wie in einer „kommunistischen Diktatur“ könnten hier Unternehmen ihren Beschäftigten etwa den Toilettengang verbieten oder sie – kaum durch Gesetze eingeschränkt – grundlos feuern. Dies sei ein System der nahezu grenzenlosen willkürlichen und rechenschaftsfreien „privaten Regierung“ – eine Wortschöpfung von Anderson. Dieses System werde aufgrund von ideologischer Verblendung nicht einmal erkannt bzw. öffentlich thematisiert. Dem soll Andersons Ideologiekritik entgegenwirken.
Autorin
Elizabeth Anderson, geb. 1959, ist Professorin für Philosophie und Women’s Studies an der University of Michigan, Ann Arbor.
Entstehungshintergrund
Der Band erschien 2017 bei Princeton University Press unter dem Titel „Private Government. How Employers Rule Our Lives (and Why We Don’t Talk about it)“ und wurde von Karin Wördemann ins Deutsche übersetzt. Der – für deutsche Ohren populärwissenschaftlich klingende – Untertitel geht also auf das US-amerikanische Original und nicht auf die Übersetzerin zurück.
Das Buch löste im Frühjahr 2019 eine Welle von Sachbuch-Rezensionen in deutschsprachigen Presse- und Funkmedien aus, etwa nach dem Motto ‚neue Kapitalismuskritik‘, Kritik des Wirtschaftsliberalismus, ‚furiose Kritik an sklavenhalterischen Zwangsregimen in (amerikanischen) Unternehmen‘. Auch international fand das Buch Beachtung.
Den Kern des Bandes bilden zwei Vorlesungen, die Elizabeth Anderson im Rahmen der Tanner Lectures on Human Values 2014 an der Princeton University auf deren Einladung hin hielt. Mit dem Egalitarismus bzw. seiner Geschichte beschäftigt sie sich als politische Philosophin schon länger, deutschen Leserinnen und Lesern bekannt durch ihren Beitrag „Warum eigentlich Gleichheit?“ im von Angelika Krebs 2000 bei Suhrkamp herausgegebenen Sammelband „Gleichheit oder Gerechtigkeit. Texte der neuen Egalitarismuskritik“.
Aufbau
Nach einer Einleitung von Stephen Macedo (Princeton) und einem Vorwort der Autorin werden zunächst die beiden Vorlesungen präsentiert (je ca. 45 Seiten). Es folgen vier im Schnitt ca. 10-seitige Kommentare bzw. Kritiken, interdisziplinär vorgetragen von einer Historikerin (Ann Hughes), einem Literaturwissenschaftler (David Bromwich), einem Philosophen (Niko Kolodny) und einem Ökonomen (Tyler Cowen). Diese Kommentare erwidert abschließend Elizabeth Anderson (35 Seiten).
Inhalt
Im ersten Vorlesungstext „Als der Markt noch ‚links‘ war“ entwickelt Elizabeth Anderson ihr Projekt, einen normativen Egalitarismus für die heutige Zeit wiederzugewinnen, anhand der frühen Vertreter der Levellers (John und Elisabeth Lilburne), der Putney-Debatten 1647, John Locke und anderen. Freie Märkte waren für deren Bestrebungen zum Abbau der zeitgenössischen sozialen Hierarchien eine institutionelle Komponente einer freien Gesellschaft der Gleichen. Sie versprachen sich von freien Marktbeziehungen eine Vervielfachung der Chancen für die Individuen und persönliche Unabhängigkeit von der Herrschaft anderer, weit bevor Karl Marx kennzeichnen sollte, dass trotz (oder wegen) der formalen Gleichheit in der Tauschbeziehung bei der Lohnarbeit in der sozialen Wirklichkeit eine ausgeprägte Asymmetrie zwischen Lohnarbeit und Kapital resultiert. Wenngleich die egalitaristischen Bewegungen, welche dieses nicht voraussahen, auf die männlichen Arbeitenden zentriert waren, arbeitet Anderson teilweise sogar feministische Tendenzen bei ihnen heraus. Adam Smith habe hundert Jahre später ebenfalls darauf fokussiert, die Ersetzung des Gabentausches durch den Markthandel befreie Handwerker und Händler aus ihrer unterwürfigen Abhängigkeit. Aus dieser zutreffenden Beschreibung habe er die Erwartung abgeleitet, (zuvor staatlich vergebene) Monopole u.ä. vermeiden zu können und den Markt würden Selbstständige mit allenfalls wenigen Beschäftigten dominieren. Seine insofern mit den Levellers deckungsgleiche „ökonomische Vision“ (S. 59) sei ein „weiterer riesiger Fortschritt für die Gleichheit“ und damit eine „zutiefst humane Vision“ (S. 60). Das Zukunftsversprechen echter persönlicher und wirtschaftlicher Unabhängigkeit schien Nordamerika für alle bereitzuhalten. Unter diesen damaligen Bedingungen seien die Plädoyers der Republikanischen Partei gegen staatliche Einmischung „eine völlig andere Aussage“ (S. 66), als sie es heute wären (bzw. sind, d. V.). Der Realisierung dieses republikanischen „Ideals der allgemeinen Selbstständigkeit“ hätten allerdings einige Punkte entgegengestanden, insbesondere die dann in den USA nach dem Bürgerkrieg einsetzende Industrialisierung. Adam Smith und Karl Marx hätten sich also nicht in fundamental gegensätzlichen Werten, sondern darin unterschieden, was sie von der Marktgesellschaft für die Arbeiter erwarteten (S. 77).
Im zweiten Vorlesungstext „Private Regierung“ definiert Anderson zunächst Regierung als etwas, das überall dort existiere, „wo einige in einem oder mehreren Lebensbereichen über die Autorität verfügen, anderen Weisungen zu erteilen, die von Sanktionen gedeckt sind“ (S. 86). Öffentlich bedeute, es sei eine „Angelegenheit einer mehr oder weniger gut definierten Gruppe von Menschen (Mitglieder der Öffentlichkeit), sodass niemand berechtigt ist, irgendein Mitglied der Gruppe davon auszuschließen (…)“ (S. 87). Dass der Staat mit der Öffentlichkeit assoziiert werde, sei keine inhärente, sondern eine kontingente soziale Errungenschaft als Ergebnis jahrhundertelanger Kämpfe für die Volkssouveränität, somit etwas Durchschaubares, bei dem die Menschen „Mitsprache haben und über die Macht verfügen, den Herrschern Rechenschaft abzuverlangen. Autoritäre Regierungen halten am Gegenteil fest – daran, dass die Staatsgeschäfte die Privatangelegenheiten der Herrschenden sind“ (S. 89). Dieses gelte für alle Regierungen, nicht nur für Regierungen, die vom Staat geführt werden. Folglich sei man der privaten Regierung unterworfen, wo immer 1) man Autoritäten untergeordnet ist, die einen herumkommandieren und wegen mangelnder Gefügigkeit sanktionieren können und 2) wo diese Regierung gegenüber einem Subjekt willkürliche, nicht rechenschaftspflichtige Macht hat. Wichtig sei, dass „die private Regierung im Verhältnis zum Regierten definiert wird, und nicht im Verhältnis zum Staat“ (S. 90).
Dieses führt Anderson dann anhand von Beispielen aus der Arbeitswelt der USA und daran aus, dass dieser „Autoritarismus am Arbeitsplatz“ von den Unternehmenstheorien ausgeblendet bzw. sogar legitimiert werde. Die Unternehmenstheorien ließen sich von der „oberflächlichen Symmetrie des Arbeitsvertrags“ (S. 104) verleiten und verkennen diesen als „Analogie zum Verhältnis Kunde-Lebensmittelhändler“ (S. 106). Als herausragender Zeuge dient „The Nature of the Firm“ (1937) von Ronald H. Coase (Nobelpreisträger und Vorläufer der Neuen Institutionenökonomik), dessen Aufsatztitel Karin Wördemann mit „Theorie der Firma“ übersetzt. Auch andere Unternehmenstheorien versuchten, „die Metapher des Marktes auf die firmeninternen Beziehungen auszuweiten und tun so, als ob jede Interaktion am Arbeitsplatz durch eine Aushandlung zwischen Managern und Arbeitnehmern vermittelt ist“, obwohl doch der ganze Sinn dieser Theorien darin bestehe, „Marktkosten auszuschalten, also die betriebsinterne Preisfestsetzung per Verhandlung über jede Transaktion unter den Arbeitern und zwischen Arbeitern und Managern zu erübrigen“ (S. 105).
Voraussetzung für diese Art privater Regierung im Arbeitsleben (der USA) ist allerdings, dass der Staat dieses Regime und die konkreten Zustände (die in Europa im Regelfall kaum vorstellbar wären) garantiere und die innerbetriebliche Willkürherrschaft, die sich auch auf das Verhalten außerhalb der Arbeitszeit bezieht, nur in wenigen Fällen durch (bundesgesetzliche) Regelungen eingeschränkt sei.
Anderson ist in diesem Abschnitt und auch in ihren Schlussbemerkungen weniger an konkreten Gegenvorschlägen interessiert und beschränkt sich auf ein Plädoyer für eine „gerechte Arbeitsverfassung“ im Sinne einer bill of rights als Set von Mindeststandards für die USA.
Diskussion und Fazit
Die Kommentare, die von moderaten Einwänden (Hughes, Bromwich, Kolodny) bis zu vehementer Ablehnung (Cowen) reichen, sind hier aus Platzgründen nicht im Einzelnen wiedergebbar. Anderson antwortet ihnen ebenso eloquent wie auch moderat, abgesehen von Cowen, dem sie so scharf antwortet, wie dieser ihre Thesen in Abrede gestellt hatte.
Der Rezensent hat sich während und nach der Lektüre gefragt, ob dieses Buch außerhalb der USA nötig sei, wenngleich die analysierten Grundmechanismen (abgesehen von den spezifisch US-amerikanischen Ausprägungen) natürlich die gleichen wie etwa in Europa sind – und im Kern alle bereits von (dem in Europa und anderswo wahrscheinlich breiter als in den USA rezipierten) Karl Marx analysiert worden sind. Die Autorin fokussiert weniger auf die ökonomischen Aspekte der Ausbeutung der abhängig Beschäftigten, sondern mehr auf die fehlenden politischen Rechte am Arbeitsplatz. Sie meint, insbesondere in den USA seien entsprechende Kenntnisse im Zuge des Rückgangs der Bedeutung der Gewerkschaften in Vergessenheit geraten. Wenn sich der Verlag für die Publikation dieser Übersetzung entschieden hat, mag das vielleicht auch in der Parallelität begründet sein, dass sich der ökonomische Neoliberalismus weltweit ausgebreitet hat und es wichtig sein kann, auf die historische Diskrepanz zwischen ökonomischem und politischem Liberalismus hinzuweisen und die neoliberale Ideologie dahingehend zu charakterisieren, dass sie keine ungebrochene Legitimation aus den Wurzeln des politischen, demokratischen Liberalismus ziehen kann, wie es die heutigen Vertreter der Republikanischen Partei versuchen.
Den populärwissenschaftlichen Rezensenten ist zuzustimmen, dass es sich um ein fulminantes, packendes und brillantes Buch handelt. Berechtigt ist auch die Bezeichnung, in den Worten des Verlags, es sei „ein Glanzstück der Ideologiekritik“.
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Elkeles
bis 2018 Hochschule Neubrandenburg, FB Gesundheit, Pflege, Management
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Zitiervorschlag
Thomas Elkeles. Rezension vom 12.10.2019 zu:
Elizabeth Anderson: Private Regierung. Wie Arbeitgeber über unser Leben herrschen (und warum wir nicht darüber reden). Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2019.
ISBN 978-3-518-58727-0.
Karin Wördermann (Übersetzerin).
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25816.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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