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Petula Neuhaus: Politisches Bewusstsein

Rezensiert von Prof.in Dr. Jennifer Hübner, 09.07.2020

Cover Petula Neuhaus: Politisches Bewusstsein ISBN 978-3-7344-0792-5

Petula Neuhaus: Politisches Bewusstsein im Kontext von Biographie und Gesellschaft. Eine qualitative Studie zum Kritikvermögen von Studierenden des Lehramts. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2019. 336 Seiten. ISBN 978-3-7344-0792-5. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR.
Reihe: Wochenschau Wissenschaft.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

Im Mittelpunkt des Werkes „Politisches Bewusstsein im Kontext von Biografie und Gesellschaft. Eine qualitative Studie zum Kritikvermögen von Studierenden im Lehramt“ steht die theoretische und empirische Aufbereitung des Begriffes Kritikvermögen am exemplarischen Beispiel der Gruppe von Lehramtsstudierenden. Die Autorin Petula Neuhaus interessiert sich für den Begriff des kritischen (Nicht-)Bewusstseins, seine Entstehung, seine gesellschaftliche Kontextualisierung und die daraus resultierenden Konsequenzen auf Mikro- und Makroebene für Subjekt(e) und Gesellschaft(en).

Autorin

Dr. Petula Neuhaus lehrt und forscht als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für allgemeine Erziehungswissenschaft und Berufspädagogik an der Technischen Universität Dortmund. Zu ihren Schwerpunkten zählen unter anderem politische Bildung und Bildungsforschung, Jugend und Bildung in der DDR sowie Transformationsprozesse nach 1989.

Entstehungshintergrund

Die Studie von Petula Neuhaus knüpft an eine Veröffentlichung von Christiane Florin aus dem Jahr 2014 an, die in einer Studie die These der Entpolitsierung von Studierenden entwickelt hat (Florin 2014). Unter Rückgriff auf verschiedene Studien etwa Studierendensurveys erklärt diese, dass nur noch die Hälfte der Studierenden die Demokratie als gemeinsame Wertbebasis anerkennt und Lehramtsstudierende als spezifische Gruppe durch ihr Studium nicht ausreichend auf Kritikfähigkeit und politisches Bewusstsein vorbereitet werden.

Für Petula Neuhaus ist diese Erkenntnis vor allem deswegen irritierend, weil Studierende aus ihrer Sicht, normativ betrachtet, zu einer eher kritischen und reflexiven Gesellschaftskohorte gezählt werden. Insbesondere das anvisierte Berufsfeld der meisten Lehramtsstudierenden birgt ihr zufolge gegenüber jungen Menschen eine spezifische Verantwortung. „Die […] Untersuchung richtet sich deshalb auf das politische Bewusstsein“ von Studierenden, „insbesondere auf ihr Vermögen und ihre Bereitschaft zur Kritik.“ (Neuhaus 2019, S. 14).

Aufbau

Das Werk „Politisches Bewusstsein im Kontext von Biografie und Gesellschaft“ unterteilt sich in sechs thematische Gliederungspunkte. Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung nehmen mit knapp neunzig Seiten dabei einen verhältnismäßig geringen Anteil von gut einem Drittel an der Gesamtlektüre ein. Mit mehr als 100 Seiten legt die Autorin ihren Fokus klar auf die theoretische Rahmung ihres Erkenntnisinteresses, flankiert durch einen fünfzigseitigen Forschungsstand.

Im ersten Kapitel beschäftigt sich Neuhaus mit bildungsorientierten Theorien, die auf eine Auseinandersetzung mit dem kritischen Bewusstsein abzielen. Unter ausführlicher Bezugnahme auf die kritische Erziehungswissenschaft nach Siegfried Bernfelds, die Dialektik der Aufklärung von Theodor Adorno oder das Erziehungsverständnis von Wolfang Klaffki beschreibt Neuhaus verschiedene Zugänge im Hinblick auf das kritische Bewusstsein im Theorie- und Praxisdiskurs von Bildung. Ergänzt wird das Kapitel durch Ausführungen zur Vernunft, Mündigkeit und Bildungs- und Wirtschaftspolitik.

Im zweiten Kapitel steht der politische Bildungsbegriff im Zentrum. Nach einer Einführung in Begrifflichkeiten und Grundlagen, fragt Neuhaus nach Politikdidaktik, Demokratiepädagogik, kritischer politischer Bildung und dem Konzept des politischen Menschens nach Oskar Negt.

Im dritten Kapitel entwirft die Autorin den derzeitigen Forschungstand zum politischen Bewusstsein. Angeführt werden dazu unter anderem Studien zum allgemein politischen Bewusstsein (etwa 'Shell-Jugendstudie' oder 'Die Mitte im Umbruch') sowie zum Bewusstsein von Studierenden und (zukünftigen) Lehrer*innen.

Das vierte Kapitel setzt sich mit dem methodologischen und methodischen Setting der qualitativen Untersuchung zum Kritikvermögen von Studierenden im Lehramt auseinander. Nach einer Einführung in die bildungstheoretisch orientierte Biografieforschung referiert Neuhaus über die Methodik von Erhebung und Auswertung und reflektiert diese an den Parametern Forschungsethik, Gütekriterien und Reichweite.

Im fünften Kapitel stellt Petula Neuhaus ihre Ergebnisse vor und nutzt dazu die für rekonstruktive Forschung klassische Darstellungsform von Fällen und Fallvergleich.

Im sechsten Kapitel diskutiert die Autorin die in der Studie ermittelten Ergebnisse und kontextualisiert diese unter Rückgriff auf ihre theoretischen Ausführungen der anfänglichen Kapitel.

Konkret gestaltet sich die Gliederung der Arbeit wie folgt:

  1. Kritisches Bewusstsein im Kontext pädagogischer Theorie und aktueller Thematisierungen von 'Bildung'
  2. Kritisches Bewusstsein im Kontext politischer Bildung
  3. Forschungsstand zum kritisch-politischem Bewusstsein
  4. Forschungsmethodologischer Rahmen
  5. Ergebnisse
  6. Schlussfolgerungen und Ausblick

Inhalt

In ihrem theoretischen Überbau skizziert Petula Neuhaus den Begriff des 'kritischen Bewusstseins' anhand ausgewählter Bezüge aus Gegenwart und Historie. Bildung und Kritik steht aus ihrer Sicht in einem engen Zusammenhang. Mit Siegfried Bernfeld, Wolfgang Klaffki oder Theodor Adorno greift sie auf klassische Wissenschaftler zurück, die Gesellschaftskritik zu einem wichtigen Normativ in der Gesellschaft erklären und als Subjekt oder in Vergemeinschaftung praktiziert werden sollte. Auch der Begriff der Mündigkeit erhält in diesem Zuge einen prominenten Stellenwert, wird in seiner Zweckentfremdung zur „inflationären Nutzung als Problemlöseformel“ aber auch kritisch beleuchtet. Insbesondere Bildung könne ohne die Reflexion der gesellschaftlichen Dispositive nicht einfach zu Mündigkeit führen.

Im Anschluss daran führt Neuhaus in verschiedene Ansätze der politischen Bildung in Verbindung mit dem Begriff des kritischen Bewusstseins ein. Speziell die Bundeszentrale für politische Bildung und das Beutelsbacher Abkommen sind hier zentral. Petula Neuhaus erklärt, dass die Bundeszentrale für politische Bildung vor allem zu 'Lernorientierung' tendiert und dadurch eine stark didaktische Perspektive birgt. Unter politischer Bildung werden hierbei vor allem folgende Termini verstanden: das Erkennen politischer Zusammenhänge, die Ausbildung von Urteilskraft, demokratische Teilhabe oder das Erkennen, Hinterfragen und Reflektieren von Regeln und Prozesse politischer Systeme.

In der Bearbeitung ihres Forschungsstandes greift Petula Neuhaus auf bekannte Studien oder Akteur*innen wie Jürgen Habermas zurück. Sie erklärt, dass die demokratischen Grundprinzipien im Allgemeinen zwar grundsätzlich befürwortet werden, viele mit dem Kontroversitätsgebot im politischen Raum aber nichts mehr anfangen könnten; diese Praktiken der Kritik von Opposition sogar verhindern. Der Autorin zufolge wird politische Bildung an Hochschulen und Universitäten nur marginale Beachtung geschenkt und zukünftige Lehrer*innen damit kaum bis gar nicht auf das eigene bildungspolitische Handeln und Sein vorbereitet. Kritikfähigkeit nimmt im Alter zu, so die Autorin. Ihr zufolge können die bislang vor allem quantitativ angelegten Studien den Zusammenhang zwischen subjektivem Empfinden und den Antworten der Befragten kaum aufschließen. Das „kritische Bewusstsein“ nimmt in keiner der vorgestellten Studien einen eigenständigen exponierten Stellenwert ein und wirft nur einzelne thematische Bezüge auf.

Forschungsmethodologisch orientiert sich die Autorin an dem Ansatz der bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung. Neuhaus zufolge ermöglicht „Biografieforschung […] den Zugang zu der Art und Weise, wie Einzelne auf gesellschaftliche Strukturen und historische Ereignisse treffen, wie Individuen sie aufnehmen, verarbeiten und auf sie antworten.“ Die Deutungshoheit hat das befragte Subjekt. Für Neuhaus übernimmt Biografieforschung eine vermittelnde Rolle in einem unversöhnlichen und seit vierzig bis fünfzig Jahren existierenden pädagogischen Konflikt zwischen Bildungstheorie und Bildungsforschung. Damit geht es der Biografieforschung im Bildungskontext also nicht allein um die eher klassische Rekonstruktion von Prozessen, hier Bildungsprozessen. Sie muss auch den dargestellten Streit und die daraus resultierenden Vermittlungsherausforderungen antizipieren. Als Ausweg aus dem Dilemma zwischen dem eher induktiven und subjektorientierten Zugang von Winfried Marotzki oder Theodor Schulze einerseits und der Kritik daran und dem theoretischen Ansatz von Lothar Wigger anderseits, schlägt die Autorin eine reflexive Auseinandersetzung mit beiden Diskursen im Zuge der eigenen Forschungsarbeiten vor – etwa in Anlehnung an das Habituskonzept im Bildungskontext und die Wechselwirkung zwischen Selbst-, Fremd- und Werteverhältnissen nach Florian von Rosenberg.

Forschungsmethodisch arbeitet Neuhaus mit dem problemzentrierten Interview nach Andreas Witzel. Mit diesem Instrument hat sie die Möglichkeit die Interviewperson zu einem konkreten Gegenstand zu befragen, um deren „Argumente und Haltungen“ zu identifizieren. Die in diesem Verfahren angelegten 'Ad-hoc-Fragen' ermöglichen es der Forschenden darüber hinaus, auf die Erzählungen des Gegenübers spontan einzugehen und das aufgeworfene Narrativ mit eigenen erkenntnisrelevanten, fragenden Gedanken zu ergänzen (Spiegeln, Spezifizieren, Konfrontation mit Unklarheiten etc.).

Für das Sampling hat die Autorin universitäre, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen als Gatekeeper*innen genutzt, um auf diese Weise Lehramtsstudierende für das eigene Forschungsunterfangen zu ermitteln. Auf Grundlage einer „kriteriengesteuerten Vorauswahl“ haben 14 Personen an der Befragung teilgenommen. Die konkrete Fallauswahl wurde im Anschluss an Sabine Rehs auf Grundlage „inhaltlicher und soziodemographischer Merkmale“ sowie in Anlehnung an Udo Kelle und Susann Klang fallkontrastierend bestimmt.

Für die Auswertung ihrer Interviews nutzte Petula Neuhaus die reflexive Hermeneutik und Toposanalyse. Sie ermöglicht es „die Subjektivität als Bestandteil des Allgemeinen“ in den Fokus zu nehmen, aber den biografischen (Bildungs-)Prozess in gesellschaftliche Umstände rekonstruierbar zu machen. Ein Topos ist eine relevante Stelle im Datenmaterial, die entweder dicht, wiederkehrend, widersprüchlich usw. erscheint und im Zuge der Datenauswertung im Besonderen rekonstruktiv betrachtet wird.

Zur Kontextualisierung hat Petula Neuhaus folgende Rahmen und Merkmale genutzt:

  1. Interviewsituation (u.a. Beeinflussung und soziale Erwünschtheit, Interview als Medium 'symbolischer Gewalt' im hegemonialen Diskurszusammenhang)
  2. Institutioneller Zusammenhang (u.a. Anerkennung und Kompensation von Missachtungserfahrungen, soziale Ungleichheit, Leistung)
  3. Zeitgenössische Kontextualisierung (u.a. politische und gesellschaftliche Ereignisse)

Zur heuristischen Untermalung werden vor allem drei Dimensionen genutzt:

  1. Kritisches Bewusstsein als Selbstreflexion,
  2. Kritisches Bewusstsein als Modus der Wahrnehmung/der Analyse oder der Kritik und
  3. Kritisches Bewusstsein als Handlung, als Praxis und als Widerstand.

Weitere von Petula Neuhaus entwickelte Modelle ermöglichen die Einschätzung, ob „die Kritik sich auf subjektive […] Vorstellungen stützt oder ob wissenschaftliche, theoretische oder politische Wissensbestände […] hinzugezogen werden.“

Im Anschluss daran stellt Neuhaus ihre Ergebnisse vor:

Fall 1 „Selbst wenn ich irgendwas einzuwenden hab, interessiert es keinen“: Lara ist in einer Arbeiter*innen-Siedlung aufgewachsen und Einzelkind. Dass die Eltern sich haben scheiden lassen, wird von Lara als selbstverständlich dargestellt. Obwohl sie eine Empfehlung für das Gymnasium hatte, entschied ihre Mutter sich für den Besuch der Realschule. „Lara passt sich den gesellschaftlichen Anforderungen und Notwendigkeiten“ ihrer Umgebung grundsätzlich an. Kritik im Bildungsverlauf findet hier eher personalisiert und weniger im Kontext gesellschaftlicher Zusammenhänge, etwa am Beispiel der Institution Schule, statt. Mit Ausnahme einer andeutungsweisen Elaboration zu Flucht und Nationalstaatlichkeit spielen gesellschaftskritische Betrachtungen in ihrer Biografie keine Rolle. Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtung, Schule oder Universität sind das zentrale Orientierungsmuster von Lara. Institutionelle Regelsysteme werden von ihr unhinterfragt übernommen. Die Herausbildung von politischem Interesse und Kritik findet unter diesen Umständen nicht statt. Darüber hinaus wird mit dem Streben nach Qualifikation kein Bildungsinteresse, sondern vor allem sozialer Aufstieg verknüpft. Um dieses Ziel zu erreichen, handelt Lara bevorzugt zweckorientiert und lässt sich von Erwachsenen dabei strategisch beraten. In ihrem Studium agiert als an angepasste Studierende. Petula Neuhaus macht drei Dimensionen für das politische Desinteresse von Lara verantwortlich:

  1. Fehlen an Allgemeinbildung und Wissen
  2. Fehlen an Interaktionpartner*innen
  3. Fehlender Glaube, gesellschaftliche Umstände verändern zu können

Fall 2 „Ich weigere mich so n bisschen, mich in die Politikschiene reinschieben zu lassen“: Michael wächst in einem politikinteressierten 'grünen' Elternhaus auf, dass ihn dazu animiert seine eigene Umgebung und die eigenen Gefühle, insbesondere seinen Jähzorn(ig), zu reflektieren. Rückblickend bewertet er sich als schwierigen Schüler. „Die Arbeit in der Schülervertretung ermöglichte Michael einen Rückzug aus den widrigen sozialen Umständen und lieferte ihm mit dem Schülervertretungs-Büro einen Rückzugsort.“ Er studiert zum Interviewzeitpunkt bereits im 20. Semester, weil er sich neben seinem Studium in vielerlei Hinsicht gesellschaftlich engagiert. Michael setzt sich mit der Gesellschaft kritisch auseinander und bewertet infolgedessen auch einzelne Akteur*innen, Institutionen und Verhältnisse (Bildungsbenachteiligung, Umweltzerstörung etc.) kritisch. „Das Problembewusstsein bleibt hinter der philosophischen Haltung etwas verdeckt“ und führt weniger zu „Einflussnahme und Diskursbeteiligung.“

Fall 3 „Wenn man Sachen kritisch hinterfragt, kann man seinen Beitrag dazu leisten, etwa zu verändern“: Paul ist das vierte Kind seiner Eltern, wächst bei seinen Großeltern auf und macht nach seinem Wechsel von der Realschule zum Gymnasium sein Abitur. Ein freiwilliges soziales Jahr folgt. Er selbst bezeichnet sich als kritischen Menschen und macht sich aufgrund seiner Mobbingerfahrungen und fehlenden guten Leistungen in seiner Schulzeit gedanklich unabhängig. Er möchte sich dem gesellschaftlichen (Leistungs-)Druck nicht unterwerfen. Er hat zu seinen Eltern ein ambivalentes Verhältnis, wenngleich er seine Kindheit als gut bewertet. Eine zentrale Rolle nimmt sein Großvater ein, der Politik grundsätzlich kritisiert hat. Wenngleich Paul Schule und Hochschule kritisch gegenüber steht, nutzt er die Einrichtungen als „Vehikel für den Ausgleich der sozialen Benachteiligung.“ Den damit verbundenen Aufstieg nutzt er als Abgrenzung gegenüber seiner familiären Herkunft. Im Mittelpunkt seiner Kritik stehen Ernährung und Umwelt, der er sich sowohl persönlich (etwa durch eine Ernährungsumstellung) widmet, als auch gesamtgesellschaftlich reflektiert. Paul hat sich der Autorin zufolge vom gesellschaftlichen Determinismus befreit. Im Zuge seines Studiums hat er ein starkes pädagogisches Sendungsbewusstsein und möchte in seinem Beruf als Lehrer etwas Gutes tun. Er verfügt über eine politische Motivation. Er möchte andere Menschen aufklären und wirkt dabei autoritär. Der Autorin zufolge steht diese paternalisierende Überambition im Konflikt mit dem Beutelsbacher Abkommen. In seiner Lehrerrolle jedoch möchte er sich dem staatlichen Auftrag unterordnen.

Fallvergleich:

  • Kritisches Bewusstsein als Selbstreflexion: Lara erkennt, dass sich gesellschaftliche Einflüsse negativ auf das eigene Leben auswirken. Da Lara die damit verbundenen Ursachen kaum, insbesondere im Hinblick auf gesellschaftliche Einbettungen wie „Ökonomisierungstendenzen im Bildungswesen“, thematisiert/​reflektiert, spricht Neuhaus Lara ein hohes Maß an Selbstreflexion ab. „Michael verfügt über eine ausgeprägte Selbstreflexivität.“ Demut als zentraler Thematisierungsgegenstand in seiner Erziehung ist dabei zentraler Gegenstand, führt aber auch zur Relativierung der eigenen Meinung. Paul hingegen bewertet seine eigene Erziehung kritisch und distanziert sich von ihr. Er betrachtet die Gesellschaft auch insgesamt durchgehend kritisch. „Der Modus der Kritik entspricht seinem Selbstbild.“
  • Kritisches Bewusstsein als Gesellschaftsanalyse, Wahrnehmung oder Sachkritik: Lara verbleibt im Zuge der Reflexion dieses Typus auf einer personalisierten Ebene. Michael kritisiert unterschiedliche gesellschaftliche Themen und begründete diese auf einer philosophisch, aber zurücknehmenden Perspektive. „Paul kritisiert vor allem wirtschaftspolitische Themen.“
  • Kritisches Bewusstsein als Handlung, Praxis oder Widerstand: Angaben zu diesem Typus zeigen sich bei Lara vor allem in der Ablehnung von Lernmarathons im schulischen und hochschulischen Kontext, bei Michael im Rückgang des politischen und sozialen Engagements und bei Paul in der Frage zur Ernährungsumstellung, die aber zur eigennützlichen Selbstoptimierung und weniger gesamtgesellschaftlichen Kritik dient.

Abschließend wirbt Petula Neuhaus um eine stärkere auch handlungspraktische Bedeutung von politischer Bildung im hochschulischen und universitären Kontext. Sie wirbt um eine ausdifferenzierte Perspektive, wenn es um das Herausbilden von politischer Urteilskraft nach Oskar Negt geht und plädiert für die Verantwortung aller Akteur*innen in den verschiedenen Bildungsinstitutionen.

Diskussion

Das Buch von Petula Neuhaus bietet einen wichtigen und ausdifferenzierten Überblick in die derzeitige Diskussion um politische Bildung und ausgewählte (damit einhergehende Begriffe) wie Kritik(fähigkeit) und Mündigkeit im Kontext von Biografie. Der empirische Ertrag nimmt im Vergleich zum sehr umfangreichen Theorieteil und Forschungstand rein quantitativ einen eher bescheidenen Anteil ein.

Die Ausführungen der Autorin sind voraussetzungsvoll und können aufgrund der recht starken Komplexität, welche die Leser*in aktiv dazu auffordert, den roten Faden des Buches immer wieder (neu) zu suchen, eher nicht als Einstiegslektüre empfohlen werden, wenngleich der zum Teil auch überblickartige Inhalt des Werkes sicherlich dazu dient. Insbesondere die empirischen Fälle stehen eher in einem Nebeneinander und verweilen trotz Fallkontrastierung in einer solitären Linie.

Fazit

Im Fokus des Werkes steht die politische Bildung. Gleichzeitig verlässt der Gegenstand hier seine deskriptive Beschreibung und transformiert unter dem Rückgriff auf einzelne, zum Teil normative Aussagen zu einer aktiven und aktivierenden Rolle des Lesendenschaft. Damit wirkt das Buch politisch und knüpft an die durch die Autorin eingeführte Folie „Kritisches Bewusstsein als Handlung, Praxis oder Widerstand“ an. Das Werk animiert dazu an, sich im persönlichen als auch sozialprofessionellen Kontext selbstkritisch zu hinterfragen und von der vigilanten Reflexion, in eine kritische Handlungspraxis zu transzendieren. Insbesondere die Lektüre einzelner Kapitel ist für die Arbeit im Studium sehr zu empfehlen.

Rezension von
Prof.in Dr. Jennifer Hübner
Professorin für Theorien, Konzepte und Methoden Sozialer Arbeit mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendarbeit an der katholischen Hochschule NRW, Abteilung Köln.
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Es gibt 4 Rezensionen von Jennifer Hübner.

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ISSN 2190-9245