Katharina Kanitz: Schulische Sozialisation, Anerkennung und Männlichkeit
Rezensiert von Prof. Dr. Erich Hollenstein, 14.08.2019

Katharina Kanitz: Schulische Sozialisation, Anerkennung und Männlichkeit. Einzelfallbezogene Rekonstruktion und Diskussion zur Benachteiligung in der Schule. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2019. 239 Seiten. ISBN 978-3-7799-6079-9. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR, CH: 40,10 sFr.
Thema
Ausgehend von der Frage, ob Jungen die neuen Bildungsverlierer darstellen untersucht Katharina Kanitz inwieweit die Institution Schule an den dort erzielten und unerwünschten Leistungsergebnissen beteiligt ist. Bei der Beantwortung dieser Frage werden Lern- und Verhaltenserwartungen der Schule, der Unterricht und das dortige Schüler-Lehrer-Verhältnis untersucht. Von Bedeutung ist dabei welche Geschlechterkonstruktionen die Schule an die Jungen heranträgt und wie diese innerhalb der Peergroup im Rahmen von Männlichkeitsinszenierungen ihr Geschlecht konstruieren. Den methodischen Rahmen dieser Studie stellen drei exemplarische Fallanalysen dar, für die die Daten mittels von Gruppendiskussionen erhoben worden sind. Die Jugendlichen in zwei Gruppen sind Hauptschüler, die dritte Gruppe besteht aus Gymnasiasten.
Autorin
Katharina Kanitz, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Sozialisations-, Schul-, Jugend- und Genderforschung.
Aufbau
Der Band gliedert sich in neun Kapitel:
- Kapitel 1: Benachteiligung und Geschlecht,
- Kapitel 2: Diskurse und Fragestellung,
- Kapitel 3: Theoretischer und empirischer Bezugsrahmen,
- Kapitel 4: Anlage der Studie: Methodologische Grundlagen und methodisches Vorgehen,
- Kapitel 5: Fallanalyse der Gruppe Hilo,
- Kapitel 6: Fallanalyse der Gruppe Kona,
- Kapitel 7: Fallanalyse der Gruppe Pali,
- Kapitel 8: Fallübergreifende Diskussion und Theoretisierung,
- Kapitel 9: Abschlussbetrachtung und Ausblick.
Inhalt
Das erste Kapitel stellt zunächst frühe Untersuchungen zur Schulforschung vor. Solche über 30 Jahre zurückliegenden Forschungen zeigen, dass für Mädchen in der Schule Bildungsbenachteiligungen entstehen und auch das Selbstvertrauen vergleichsweise zu Jungen reduziert ist (Horstkemper). Diese Feststellung hinsichtlich einer geschlechtsspezifischen Benachteiligung der Mädchen kommt erst Ende der 1990er Jahre in die Kritik und der wissenschaftliche Diskurs wendet sich nunmehr verstärkt den Jungen zu, die nunmehr auch als Opfer von Bildungsbenachteiligung gesehen werden können. Mit dem Hinweis auf nicht ausreichende empirische Untersuchungen wird sodann auf die schulbezogene Jungenforschung eingegangen. Erörtert wird die These von der „Feminisierung der Schule“ wie auch Befunde, die von einem Passungsproblem zwischen Jungen und Schulkultur ausgehen (u.a. Budde). Weitere Untersuchungen an Grundschulkindern zeigen eine Vielfalt von Geschlechterkonstruktionen (Michalik). Mit Bezug auf den Zusammenhang von Geschlecht und Ethnizität wird auch auf eine intersektionale Forschungslinie aufmerksam gemacht (Huxel). Das Kapitel schließt mit Hinweisen auf die internationale Forschungslage.
Das Folgekapitel (Kapitel zwei) stellt für die vorliegende Studie drei grundlegende Diskurslinien dar:
- Unter dem anerkennungstheoretischen Gesichtspunkten kommt insbesondere das Schüler-Lehrer-Verhältnis in das Blickfeld. Der Benachteiligung von Jungen kommt diesem Verhältnis eine zentrale Bedeutung zu. Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass sie Befunde, die in der biografischen Forschungsperspektive gefunden worden sind, um Befunde in der kollektiven Bearbeitung (Peers) von Anerkennungsproblem erweitert.
- Die Peergroup stellt u.a. einen Möglichkeitsraum dar, indem sich durch Aushandlungsprozesse die Jugendlichen selbst ausprobieren und inszenieren können. Peerkulturelle Praktiken kommen in der Schule (als Lebensort) und im Unterricht zum Ausdruck. Die Frage entsteht, ob Jugendliche in ihren Praktiken durch Schule und Unterricht eingeschränkt werden und dadurch möglicherweise Benachteiligungen entstehen oder ob Partizipationschancen solche Prozessverläufe vermindern.
- In der genderbezogenen Diskurslinie wird darauf hingewiesen, dass geschlechtshomogene Peergroups einen Raum darstellen für die Konstruktion des Geschlechts, die Ausgestaltung des Geschlechts sowie für die Entwicklung des normativen Verständnisses von Geschlecht. Auf diesem Diskurshintergrund werden die leitenden Fragestellungen im Rahmen der Studie formuliert: Gibt es Hinweise für die Benachteiligungen von Jungen in der Schule? Wie gestaltet sich diesbezügliche die Wahrnehmung und die kollektive Bearbeitung? Welche Bedeutung hat das Schüler-Lehrer-Verhältnis insbesondere auf den Bezug zur Wertschätzung der Lehrkräfte? Wie gehen Lehrkräfte mit Männlichkeitskonstruktionen um?
Das dritte Kapitel erörtert umfangreich Theorien und Befunde zur schulischen Sozialisation. Ausgehend vom strukturfunktionalistischen Ansatz (Parsons) wird auf die Erweiterung dieses Ansatzes durch die Forschungen von Fend verwiesen, die belegen, dass Schüler*innen aktiv handelnde Akteure sind. Vertieft wird diese Auffassung, indem auf mikrosoziale Prozesse mittels des interaktionistischen Ansatzes (Mead) aufmerksam gemacht wird. Thematisiert werden z.B. Handlungsstrategien der Schüler*innen mit dem Ziel, Identitätsbeschädigungen abzuwehren. Die Etablierung der sogenannten „Hinterbühne“ in der Schule dient u.a. diesem Ziel. Dargestellt werden sodann empirische Befunde zur schulbiografischen Sozialisationsforschung in deren Rahmen u.a. Auswirkungen von Schulversagen und Schulerfolg analysiert werden. Dabei stellt sich auch die Frage nach der biografischen Passung zwischen diesem, auch durch Familie und Peers beeinflussten, Habitus und der an der Mittelschicht orientierten Schulkultur. Der anerkennungstheoretische Ansatz der schulischen Sozialisationsforschung beginnt mit einer Skizze der Anerkennungstheorie Honneth's. Zwischen den Polen Anerkennung und Missachtung verlaufen die Interaktionen der handelnden Individuen. „Das ungerechtfertigte Vorenthalten sozialer Anerkennung ist […] der Grund, dass Menschen miteinander in Konflikt geraten“ (S. 77). Mit dieser Feststellung kommt die durch die Schulpflicht verfestigte Statusungleichheit zwischen Lehrkräften und Schüler*innen in das Analysefeld. Anhand der Studien von Wiezorek wird dargelegt, dass Anerkennungsproblematiken bei Schüler*innen z.B. bei Schulversagen auftreten. Dabei vernachlässigt die Arbeit von Wiezorek, aber auch andere Studien, die Peerspezifik. Darauf verweist Kanitz nachdrücklich, da sie in ihrer Studie diesem kollektiven Aspekt einen hohen Stellenwert einräumt. Das führt dazu, dass abschließend auf das Konzept des „Doing Gender“ verwiesen wird. Damit werden soziale Prozesse benannt, in denen die Unterscheidung nach Geschlecht konstruiert wird. Und die Schule ist ein Ort an dem diese soziale Praxis Schüler*innen als geschlechtliche Individuen positioniert. Auf diesem Hintergrund ist die Konstruktion von Männlichkeit, im schulischen Kontext zu untersuchen.
Das vierte Kapitel stellt die wissenschaftstheoretischen und forschungsmethodischen Grundlagen der Studie vor. Forschungsgegenstand ist die Peergroup, deren gemeinsamer Erfahrungs – und Orientierungshintergrund bezüglich der Fragestellungen erhoben werden soll. Dies geschieht mittels des Verfahrens der Gruppendiskussion und der dokumentarischen Methode als Rekonstruktionsrahmen der aufgezeichneten Diskussionsbeiträge der Jugendlichen. Für die Untersuchung wurden im Bundesland Hessen 18 Gruppendiskussionen im ländlichen sowie im klein- und großstädtischen Raum durchgeführt. An diesen Diskussionen haben keine Mädchen teilgenommen und es gab auch keine Mischung zwischen den teilnehmenden Schulen. Die Gruppendiskussionen wurden jeweils an neun Hauptschulen und neun Gymnasien durchgeführt. Bei den Hauptschülern wurden Gruppendiskussionen mit Schülern durchgeführt, bei denen die Gefahr bestand, den Hauptschulabschluss nicht zu erreichen. Diese Schulen waren in ein Unterstützungsprogramm des Bundeslandeslandes Hessen eingebunden. Hierzu gehörte die Gruppe Hilo, möglicherweise Bildungsverlierer, mit acht Jugendlichen zwischen 17 und 19 Jahren. Die Gruppendiskussion in dieser Gruppe dauerte 46 Minuten.
Die Kapitel fünf bis sieben stellen die Fallanalysen der Gruppe Hilo, Kona und Pali dar. Beispielhaft wird hier vornehmlich auf die bereits genannte Gruppe Hilo eingegangen.
Zum Thema der schulisch-institutionellen Erwartungen und dem Umgang der Lehrkräfte mit den Jugendlichen zeigt sich in den eingeblendeten und analysierten Diskussionsverläufen, dass die Lehrkräfte durchgehend eine Disziplinierungspraxis durchführen. Diese besteht u.a. darin, die Jugendlichen nach Hause zu schicken wenn Arbeitsmaterialien vergessen worden sind – auch wenn diese erst nach dem Unterricht zurück sind. Einige Jugendlichen nutzen indessen diese Praxis, um nicht am Unterricht teilzunehmen. Diese Praxis stellt eine Konfliktlinie zwischen den institutionellen Erwartungen und den Bedürfnissen der Jugendlichen dar. Weitere diskutierte Themen sind „Schulabschluss und Arbeitswelt“ sowie „Geschlecht und Schule“. Bei dem zuletzt genannten Thema kommt zum Vorschein, dass sich die Jugendlichen in eine Prügelei unter Mädchen eingemischt haben, weil sie die Auseinandersetzung befrieden wollten. Die Lehrkräfte interpretieren die Einmischung aber als Teilnahme an der Auseinandersetzung. Hier schlagen, so Kanitz, genderspezifische Vorstellungen der Lehrkräfte durch, die für Gewalt vornehmlich Jungen verantwortlich machen. In der Interpretation der Ergebnisse wird festgestellt, dass die Jugendlichen Missachtungserfahrungen in der Schule machen und es sich um eine Verletzung von rechtlichen Anerkennungsansprüchen im Sinne von Honneth handelt. Hingewiesen wird auch auf einen repressiven Modus der Erziehung (Willis).
Eine ähnliche Interpretation erhält auch das Gymnasium der Gruppe Pali, weil dort geschlechtsspezifisch unterrichtet wird. Mädchen haben, so die Jungen, einen Vorteil, weil die unterrichtenden Lehrerinnen eine Art Schonraum schaffen. Dies „zeigt eine Missachtung rechtlicher Anerkennung der Jungen durch Lehrerinnen auf…“ (S. 200).
Das achte Kapitel referiert fallübergreifend die erzielten Forschungsergebnisse. Dazu gehören Anerkennungsproblematiken zwischen Lehrkräften und Jugendlichen sowie unter den Jugendlichen selbst. Spannungen ergeben sich zu den Themen „Wissen gegen Respekt“, „Kenntnisreichtum der Lehrkräfte und die Nichtentsprechung der Bildungsinteressen der Jugendlichen“ und „Anerkennung schulischer Leistungen in Abhängigkeit des Geschlechts.“ Bezogen auf die zuletzt genannte Anerkennungsproblematik finden sich auch Fallanalysen aus den Gruppen Kona und Paki. Genderbezogene Benachteiligung in der Gruppe Kona ergibt sich aus der Bevorzugung einer Schreibpraxis durch Lehrkräfte. Das kommt, so die Jungen, den Mädchen zugute, weil Mädchen eher schreiben und Jungen eher sprechen. In der Gruppe Pali stellt sich heraus, dass ein Mädchen besonders für seine Leistungen gelobt worden ist und das führt bei den Jungen zur Wahrnehmung schulische Leistungserwartungen würden von Mädchen besser erfüllt.
Bezogen auf schulische Sozialisationsprozesse erfolgt eine Kommentierung der erzielten Ergebnisse. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass kollektiv auf schulische Erwartungen aktiv reagiert wird. In den Gruppen Hilo und Pali mit Tendenzen zur Provokation und Opposition. In der Gruppe Kona hingegen wird konstruktiv (in einem Gedankenexperiment) an einer Egalisierung von Schreiben und Sprechen gearbeitet. Generelles Kennzeichen ist „dass es zu Auseinandersetzungen und Aushandlungen zwischen den schulischen Akteuren kommt“ (S. 217). Dabei entsteht für die Jugendlichen eine Ambivalenz, weil sie einerseits als selbstverantwortliche Individuen angesprochen werden. Andererseits tritt aber die Anerkennung der ganzen Person mit den jeweiligen individuellen Besonderheiten in den Hintergrund. Diese Ergebnisse werden abschließend mit schultheoretischen Diskursen in Beziehung gesetzt.
Das Schlusskapitel fasst in gegebener Kürze die Ergebnisse der qualitativen Studie zusammen: „Insgesamt zeigt sich, dass es vonseiten der Jungen einen genderbezogenen Kampf um Anerkennung gibt“ (S. 222). Auch weil Lehrkräfte geschlechterdifferenziert und Geschlechtsgruppen bezogen handeln bzw. unterrichten. Lehrkräfte sollten solche Einflüsse wahrnehmen und auch die Bedeutung peerkultureller Praktiken auf Schule und Unterricht reflektieren. Anschlussfragen beziehen sich auf Erweiterungen des Forschungsansatzes der Studie. Unter anderem genderbezogene Prozesse bei Mädchen zu untersuchen und auch Lehrkräfte in Gruppendiskussionen einzubeziehen.
Diskussion
Diese Studie vertieft ein genderbezogenes Verständnis für die Schule, den Unterricht sowie die daran teilnehmenden Jungen und ihre kollektiven Aktions- und Reaktionsformen. Ein solches Verständnis ist insofern nicht einfach herbeizuführen als sich sehr differenzierte Prozesse ergeben. Die Studie kennzeichnet diese Prozesse und die in ihnen zum Ausdruck kommenden Spannungen, die im Schüler-Lehrer-Verhältnis sehr deutlich werden. Die sich daraus ergebenden pädagogischen Konsequenzen für die Handlungskompetenz der Lehrkräfte, sowohl für das Studium als auch für die schulische Praxis, hätten mehr Aufmerksamkeit benötigt. Interessant ist, dass zwischen den untersuchten Gruppen in unterschiedlichen Schultypen sich kaum Merkmale finden lassen, die Anerkennungsdefizite schulspezifisch verorten könnten. Ein Hinweis darauf, dass es sich um eine sehr breite und verallgemeinerbare Problematik handelt. Wünschenswert wäre gewesen wenn der leistungsorientierte Bezug zu den sogenannten Bildungsverlierern, eben den Jungen, deutlicher geworden wäre. Möglicherweise reicht aber dazu die methodische Reichweite der Gruppendiskussionen nicht aus. Dies führt auch zu dem Hinweis, dass für die Beantwortung der grundsätzlichen Fragestellungen weitere, auch quantitative, Studien notwendig sind.
Fazit
Diese qualitative Studie erforscht über den methodischen Zugang der Gruppendiskussion in zwei Hauptschulen und einem Gymnasium die kollektive Anerkennungsproblematik in Peergroups. Der dadurch entstehende komplexe Beitrag zur schulischen Sozialisation kennzeichnet Jungen überwiegend als Anerkennungsverlierer. Besonderen Wert legt die Studie sowohl auf die Einbettung in vielfältige empirische Studien zum Thema, als auch zur schultheoretischen Einordnung einschließlich des Bezuges zum Genderdiskurs.
Rezension von
Prof. Dr. Erich Hollenstein
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