Harro Kähler: Soziale Arbeit in Zwangskontexten
Rezensiert von Barbara Schieche, Prof. Dr. Wolfgang Klug, 21.06.2005
Harro Kähler: Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2005. 136 Seiten. ISBN 978-3-497-01745-4. D: 16,90 EUR, A: 16,90 EUR, CH: 30,10 sFr.
Das Thema
"In der Sozialen Arbeit ist die Vorstellung weit verbreitet, dass sich Klienten und ihre Lebenssituation nur ändern, wenn die Betroffenen sich auch ändern möchten und sinnvoll erscheinende Unterstützung aus eigener Initiative suchen." (S. 11). Eine empirische Untersuchung, die diesem Buch zugrunde liegt, zeigt jedoch, dass diese Bedingung der Eigeninitiative in der Mehrzahl der Fälle nicht gegeben ist. Demnach liegt die selbstinitiierte Kontaktaufnahme je nach Arbeitsfeld durchschnittlich zwischen circa 10 und 40 Prozent: "Es ist demzufolge deutlich zu erkennen, dass der insbesondere zu Beginn des Berufseinstiegs in die Soziale Arbeit vorhandenen Erwartung, Klienten würden von sich aus den Weg in die jeweilige Einrichtung suchen, in der Praxis tendenziell mehrheitlich fremdinitiierte Klientenkontakte gegenüberstehen. [...] Aufgrund dieser Ausgangslage ist es sinnvoll, wenn nicht sogar notwendig, die Auseinandersetzung mit dieser Bedingung Sozialer Arbeit bereits in der Ausbildung verstärkt anzugehen. Darin besteht das Anliegen dieses Buches." (S 15).
Der Autor
Dr. Harro Dietrich Kähler ist Professor für Soziologie am Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften der Fachhochschule Düsseldorf sowie Redakteur des Internet-Rezensionsdienstes für Fachbücher zu Sozialwirtschaft und Sozialwesen www.socialnet.de/rezensionen. Weitere Informationen über den Autor finden sich unter seiner Homepage.
Inhalt
In Kapitel 1 werden Ziel und Quellen des Buches erläutert: Neben Literatur schöpft der Autor vor allem aus einer eigenen Studie, die im Wintersemester 2003/2004 stattfand. Dabei wurden 99 hauptberuflich tätige Fachkräfte in unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Sozialarbeit zum Thema Zwangskontext schriftlich befragt: "Die Ergebnisse [...] ergeben erstmals im deutschen Sprachraum fundierte Hinweise auf die Verbreitung von Zwangskontexten in der Sozialen Arbeit und deren Ausgestaltung." (S. 9).
Kapitel 2 verdeutlicht die Entstehung von Klientenkontakten und die "verdeckte Grundannahme" Sozialer Arbeit, dass Klienten stets freiwillig Beratungsstellen aufsuchen, weil sie eingesehen haben, dass sie etwas tun müssen, um ihre Lebenssituation zu ändern. Hier lassen die Ergebnisse der empirischen Untersuchung erkennen, dass dies mitnichten so ist: "Über alle untersuchten Arbeitsfelder hinweg ergibt sich jedoch nur ein gutes Drittel selbstinitiierter Kontakte - folglich überwiegt der Anteil außeninitiierter Kontakte deutlich." (S. 14).
Die nächste Frage gilt dann in Kapitel 3 den Initiativen zur Entstehung von Klientenkontakten. Hier unterteilt der Autor nach dem Ursprung der Initiative in Kontaktaufnahme durch den Klienten, durch Netzwerkangehörige und aufgrund rechtlicher Vorgaben. Ausführlich differenziert er auf Basis der Studie die Kontaktaufnahmen in den unterschiedlichen Einrichtungen. Dabei geht er ausführlich auf die Begrifflichkeiten anderer Autoren zum Zwangskontext ein.
Im folgenden Kapitel 4 werden weitere Einflüsse auf die Kontaktaufnahme vorgestellt: objektive und subjektive Push- und Pull-Faktoren, das heißt Druckmittel wie die Drohung mit Trennung beziehungsweise Anreize wie die Aussicht auf Vermittlung eines Arbeitsplatzes. Weitere Themen sind die Dynamik und die Mehrdimensionalität der Einflüsse, die bei der Kontaktaufnahme mit sozialen Diensten eine Rolle spielen.
Auf Basis dieser Ausführungen erfolgt die Beschäftigung mit dem Verhalten von Klienten und Fachkräften in Zwangskontexten (Kapitel 5 und 6). Grundlage des Verständnisses für das Verhalten beider Seiten ist jeweils die Reaktanztheorie. Diese "geht von der Annahme aus, dass Menschen sich gegen Einschränkungen ihrer Entscheidungsspielräume auflehnen." (S 63.). So wird zum einen gezeigt, welche Reaktionen von Seiten der Klienten auf die Einschränkung ihrer Autonomie zu erwarten sind und zum anderen, wie sich Fachkräfte hier verhalten. In beiden Fällen werden Schlussfolgerungen für die Soziale Arbeit gezogen. Interessant dürften hier vor allem die Ergebnisse der Studie hinsichtlich des Berufsbildes der Sozialarbeiter sein: "die Fachkräfte, die überwiegend mit Klienten arbeiten, die aufgrund rechtlicher Vorgaben Kontakt aufnehmen, sehnen sich am seltensten nach 'freiwilligen Klienten' [...] Dass andererseits die Fachkräfte aus Einrichtungen mit überwiegend selbstinitiierten Klientenkontakten deutlich häufiger den Wunsch nach freiwilligen Klienten äußern, ist verblüffend. Vermutlich haben sich die Fachkräfte in den Einrichtungen mit dominant auf rechtliche Vorgaben ausgerichtete Klientenkontakten [sic] bewusst für diese Arbeit entschieden". (S. 77).
Kapitel 7 widmet sich der Frage nach dem Umgang mit Klienten in Zwangskontexten: "Ziel der folgenden Ausführungen ist, auf Möglichkeiten des fachlichen Umgangs mit dieser schwierigen Ausgangssituation mithilfe der einschlägigen Fachliteratur und den Ergebnissen aus der Feldstudie aufmerksam zu machen." (S. 83f). Als erstes stellt hier der Autor "einige lieb gewordene und zentrale Annahmen von Fachkräften" auf den Prüfstand: das Freiwilligkeitspostulat, nach dem Soziale Arbeit nur mit freiwilligen Klienten sinnvoll sei und damit verbunden die Motivation von Klienten. Sein Fazit: "Erste Konsequenz für das Arbeiten in Zwangskontexten ist folglich, bipolare Einschätzungen der Initiative zur Kontaktentstehung (selbst- oder fremdinitiiert) und der Motivation (motiviert für Veränderungen oder unmotiviert) zugunsten einer komplexeren und dynamischeren Vorstellung aufzugeben. Die Vielzahl an Wirkkräften, die bei jedem Klienten in unterschiedlicher Kombination individuell geprägte Voraussetzungen für die Zusammenarbeit mit Fachkräften schaffen, sind [sic] zu erforschen und zur Grundlage der gemeinsamen Arbeit zu machen." (S. 87f). In einem zweiten Schritt werden dann die Chancen beleuchtet, die Soziale Arbeit in Zwangskontexten mit sich bringt. Im dritten Punkt des Kapitels widmet sich der Autor einer der wichtigsten Grundvoraussetzungen für das Arbeiten in Zwangskontexten: der Herstellung von Transparenz und der genauen Rollenklärung zwischen Fachkraft und Klient: "Je klarer das doppelte (oder mehrfache) Mandat angenommen wird, desto eher gelingt es der Fachkraft, dem Klienten gegenüber eine klare Position zu vertreten [...]. Beide Teile des Auftrags, der Hilfe- sowie der Kontroll- und Schutzanteil, sollten folglich frühzeitig und gleichgewichtig offen gelegt werden." (S. 93). In diesem Zusammenhang erhält der Leser auch ganz konkrete Hinweise, mit welchen Worten sich die Doppelrolle der Fachkraft als Helfer und Kontrolleur am besten klären lässt und die notwendige Transparenz herstellbar ist. In Punkt 4 des Kapitels beschäftigt sich der Autor mit dem Aushandeln von Zielen zwischen Fachkraft und Klient und dem Finden von Wegen zu ihrer Umsetzung. Schließlich geht der Autor in Punkt 5 auf eine Reihe von "methodischen Bausteinen" ein.
Im letzten Kapitel 8 "Beratung unter Zwang: Allgemeine und besondere Aspekte" wird ein professioneller methodischer Zugang am Beispiel der Beratung im Arbeitsfeld Psychiatrie beschrieben. Zum Schluss fasst der Autor die wichtigsten Ergebnisse des Buches und der Feldstudie im Überblick zusammen und spricht sich nochmals ausdrücklich für einen konstruktiven Umgang mit Zwangskontexten aus.
Zielgruppen
"Das Buch wendet sich in erster Linie an Studierende und Fachkräfte der Sozialen Arbeit und verwandte und benachbarte Arbeitsbereiche (z.B. Erzieherinnen in stationären Einrichtungen der Jugendhilfe oder Therapeuten in der forensischen Psychiatrie oder in der stationären Suchtkrankenhilfe)." (S. 9).
Diskussion
Der Inhalt des Buches ist durch die klare Strukturierung und Sprache leicht zu erfassen, und die deutliche Kennzeichnung sowie die grafische Aufbereitung der Studienergebnisse kommen dem Leser sehr entgegen. Weiterhin ist vor allem für Studierende die ausführliche Auseinandersetzung mit anderen Autoren und deren Begrifflichkeiten zum Zwangskontext wertvoll, ebenso wie das Angebot, via Internet zusätzliche Informationen zu erhalten. Allerdings: Abgesehen von den 28 im Internet auffindbaren Seiten Zitatdokumentation, die als hilfreiche "Dreingabe" zu verstehen sind, ist es bedauerlich, dass die für das Verständnis der im Buch ausgeführten Studienergebnisse wichtigen Angaben zur Untersuchungsdurchführung sowie der Fragebogen inklusive Anschreiben selbst nicht Bestandteil des Prints sind. Doch dies ist auch der einzige Kritikpunkt an einem Werk, das einem unliebsamen Thema der Sozialarbeit den ihm gebührenden Stellenwert einräumt, und nicht nur das: Der Autor bewahrt nicht nur angehende Sozialarbeiter vor falschen Berufsvorstellungen, sondern zeigt auch deutlich, wie dringend notwendig empirische Forschung für die Professionalisierung der Sozialarbeit ist.
Fazit
Das Buch darf als Pflichtlektüre für jeden angehenden Sozialarbeiter gelten. Für Praktiker empfiehlt es sich, sich zumindest mit den Ergebnissen der Feldstudie zu beschäftigen.
Rezension von
Barbara Schieche
Kommunikationsberaterin, Journalistin und Lektorin, speziell für Themen der Sozialarbeit
Website
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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Zitiervorschlag
Barbara Schieche, Wolfgang Klug. Rezension vom 21.06.2005 zu:
Harro Kähler: Soziale Arbeit in Zwangskontexten. Wie unerwünschte Hilfe erfolgreich sein kann. Ernst Reinhardt Verlag
(München) 2005.
ISBN 978-3-497-01745-4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2585.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.
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