Helmut Remschmidt: Wenn junge Menschen töten
Rezensiert von Prof. Dr. Carl Heese, 10.02.2020
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Helmut Remschmidt: Wenn junge Menschen töten. Ein Kinder- und Jugendpsychiater berichtet. Verlag C.H. Beck (München) 2019. 256 Seiten. ISBN 978-3-406-74125-8. 16,95 EUR.
Autor
Remschmidt ist einer der bekanntesten Kinder- und Jugendpsychiater in Deutschland. Sein Buch ‚Kinder- und Jugendpsychiatrie: Eine praktische Einführung‘ hat Generationen von Studierenden begleitet. Es liegt jetzt in der 6. Auflage vor.
Entstehungshintergrund
Das Buch ist ein populärwissenschaftlicher Ableger eines Forschungsprojektes, zu dem Remschmidt 2012 eine umfangreichere Studie [1] veröffentlicht hat. In der ‚Marburger Tötungs- und Gewaltdelinquenzstudie‘ untersuchte er eine Kohorte von Kindern und Jugendlichen, die schwerwiegende Gewaltdelikte begangen haben. Im Text von 2012 finden sich die meisten der Überlegungen, die im aktuellen Buch kürzer dargelegt werden. War die Intention des Buches damals deutlich erkenntnisorientiert, so ist sie im aktuellen Band überwiegen idiografisch, d.h. hier interessieren vor allem die individuellen Taten, die Täterbiografien und -persönlichkeiten.
Aufbau
Der Text folgt einer klassischen Dreiteilung.
- Teil Eins gibt einen Überblick über „Ursachen und Entwicklungsbedingungen gewalttätigen Verhaltens“.
- Teil Zwei referiert „23 Fallgeschichten“, die nach verschiedenen Motivkomplexen gruppiert sind.
- Teil Drei geht der Frage nach, „Wie man Gewalttaten reduzieren kann, ohne sie gänzlich beseitigen zu können?“
Inhalt
Im ersten Teil werden der Gewaltbegriff und Gewaltformen erläutert. Die Theorie der Moralentwicklung von Kohlberg wird kurz angerissen. Die augenfälligen Unterschiede zwischen Frauen und Männern bei Gewalthandlungen werden thematisiert. Als Faktoren der Gewaltmanifestation werden sodann neurobiologische, psychologische und soziale sowie situative Einflüsse erörtert. Schließlich wird auf den Prozess der gerichtlich beauftragten Begutachtung, seine Rechtsgrundlagen (vor allem die verminderte Schuldfähigkeit und die Schuldunfähigkeit) und die Kriterien der Reifebeurteilung (p. 40) eingegangen. Der Zusammenarbeit mit der Jugendgerichtshilfe schreibt der Autor in diesem Prozess die „allergrößte Bedeutung“ (42) zu.
Den Hauptteil des Buches bilden dann die 23 Fallgeschichten, die aus der Begutachtungspraxis des Verfassers stammen. Zu diesen konnten im Rahmen des erwähnten Forschungsprojektes zum Teil auch katamnestische Daten erhoben werden. Die Fälle sind nach Motivkomplexen der Tötungsdelikte geordnet. Die Einteilung stammt aus der Studie von 2012 und ist nur leicht modifiziert worden. Die Gruppen sind:
- geplante Mord und Totschlagsdelikte,
- Tötungsdelikte als Resultat eines Gruppengeschehens,
- Kindstötung,
- Tötungsversuche im Rahmen einer manifesten psychiatrischen Erkrankung,
- Beziehungs- und Affekttaten mit tödlichem Ausgang,
- Tötung auf Verlangen,
- Tötungsdelikte aus sexuellen Motiven,
- Tötungsdelikte im Zusammenhang mit Alkohol- und Drogenmissbrauch,
- junge Mehrfachintensivtäter,
- Aufklärung von Tötungsdelikten nach über zwanzig Jahren.
Die Falldarstellungen sind dann jeweils nach dem folgendem Schema aufgebaut: Tatschilderung bis zur Verhaftung, biografische Entwicklung der Täter, psychologische Untersuchung der Persönlichkeit und der kognitiven Fähigkeiten, Beantwortung der Fragen des Gerichts zur Schuldfähigkeit und zum Reifungs- und Entwicklungsstand, Urteil und „Wie es weiterging“.
Der sehr kurze dritte Teil unterscheidet verschiedene Präventionsbegriffe und listet dann im wesentlichen Maßnahmen der primären und sekundären Prävention auf (271). Hier tritt der Autor für mehr Überwachung und Alkoholverbote im öffentlichen Raum sowie für absolute Waffenverbote unter anderem von Messern bei Jugendlichen und großkalibrigen Waffen bei Erwachsenen ein. Untersuchungs- und Strafhaft sollten reformiert werden, der Gedanke der ‚Erziehung‘ sollte dem altersgemäßen der ‚Intervention‘ weichen. Schließlich sollte das Jugendstrafrecht für Heranwachsende bis 21 Jahre generell angewandt werden.
Diskussion
Das Buch liefert zur Gewaltentstehung und Prävention die allgemeinsten Gesichtspunkte, früher hätte man gesagt, es bleibe auf Proseminar-Niveau. Da es sich an ein allgemeines Publikum richtet, ist das wohl auch ausreichend. Im Hauptteil der 23 Fallschilderungen lernt man etwa ein Dutzend Motivkonstellationen kennen, die zu Tötungsdelikten geführt haben: von der Überforderung junger Eltern bis zur Tötung auf Verlangen. Die individuellen Persönlichkeiten bleiben dabei leider recht blass. So ist die Erklärung für die Tat der Kinder (Fall 4, 73 ff.), die von einer Autobahnbrücke Steine warfen, dass sie sich in ihrer amerikanischen Kaserne schlicht langweilten und bei der Tat dann auch einem gewissen Gruppendruck erlegen sind. Doch die einzelnen Biografien erscheinen dabei schematisch, ein individuelles Fallverstehen findet man hier nicht. Das erklärt sich wohl aus den Gutachtensaufträgen, denen sich die Fallsammlung verdankt. Sie beziehen sich auf die Frage der Anwendung des Jugendstrafrechts und die der Schuldfähigkeit, nicht auf ein grundlegendes Verständnis der Personen. Überaus mager sind dann auch die katamnestischen Angaben zu den einzelnen Fällen. Meist sind es Zentralregisterauszüge, die auf wenigen Zeilen keine, beziehungsweise die eine oder andere weitere Straftat nach der Haftentlassung wiedergeben. Auch hier wüsste man gerne mehr, z.B. wie die Täter im Rückblick ihre Tat sehen und wie ihre weitere Entwicklung war. Remschmidt ist leider kein Oliver Sacks. Das betrifft auch seinen Stil. Die Fallgeschichten sind alle in einem hölzernen Gutachtensdeutsch verfasst. Das kann man vielleicht als Antidot gegen allzu sensationslüsternes Lesen entschuldigen, aber vielleicht ist es auch schlichtes Unvermögen eines altgedienten Wissenschaftsautors, der beschlossen hat, das Genre zu wechseln. Andere Wissenschaftler wie Nils Birbaumer und Michael Tsokos haben sich journalistischer Hilfe bedient, als sie sich an ein breiteres Publikum wenden wollten.
Am kritischsten sehe ich aber einen anderen Punkt. Das Buch hebt ein Randthema popularisierend hervor, für das es aktuell einen Markt zu geben scheint – siehe Tsokos. So kann es einen Platz im allgemeinen Problembewusstsein einnehmen, der ihm gar nicht zukommt. Schwerste Straftaten sind in Deutschland glücklicherweise eher selten, und das gilt auch für die entsprechenden Delikte von Jugendlichen. Entgegen den Einflüsterungen eines alarmistischen (Un-)Sicherheitsgefühls bestätigt die PKS über Jahre ein konstant niedriges Niveau bei Mord und Totschlag. Auch wenn jede dieser Gewalttaten eine menschliche Katastrophe darstellt, ein soziales Problem der schwersten Gewaltkriminalität unter Jugendlichen gibt es hierzulande nicht. Und diese schlichte Tatsache verzerrt das zeitgeistgefällige Buch von Remschmidt. Autor und Verlag gehen hier etwas unter Niveau.
Fazit
Ein Buch, so wertvoll wie ein neuer Bestseller von Michael Tsokos.
[1] Remschmidt, H. Tötungs- und Gewaltdelikte junger Menschen. Ursachen, Begutachtung, Prognose. Springer Medizin: Berlin, 2012.
Rezension von
Prof. Dr. Carl Heese
Professur für Rehabilitation an der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Zitiervorschlag
Carl Heese. Rezension vom 10.02.2020 zu:
Helmut Remschmidt: Wenn junge Menschen töten. Ein Kinder- und Jugendpsychiater berichtet. Verlag C.H. Beck
(München) 2019.
ISBN 978-3-406-74125-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25851.php, Datum des Zugriffs 16.01.2025.
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