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Kurt Guss (Hrsg.): Psychologische Forschung: Die Jahrgänge 1922-1938

Rezensiert von Prof. em. Dr. Helmut E. Lück, 20.06.2019

Cover Kurt Guss (Hrsg.): Psychologische Forschung: Die Jahrgänge 1922-1938 ISBN 978-3-947435-14-2

Kurt Guss (Hrsg.): Psychologische Forschung: Die Jahrgänge 1922-1938. Heureka! Verlag der Ostwestfalen-Akademie (Borgentreich) 2019. 160 Seiten. ISBN 978-3-947435-14-2. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR, CH: 25,00 sFr.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

„Psychologische Forschung“ war der Titel der führenden deutschsprachigen Fachzeitschrift für Psychologie, die ab ihrer Gründung 1922 zum wichtigsten Organ der Gestaltpsychologie wurde. Treibende Kraft war der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler (1887–1967), der an der Begründung der Gestaltpsychologie in Deutschland beteiligt war, 1914–1920 auf Teneriffa die bekannten Experimente zum Intelligenzverhalten von Primaten durchführte und 1922 die Leitung des Psychologischen Instituts der Friedrich-Wilhelms-Universität (heute Humboldt-Universität) übernahm. Aufgrund der politischen Repressalien zu Beginn der Nazizeit gab Köhler seine Professur unter Protest auf und emigrierte in die USA.

Dieser Band ist im Wesentlichen eine Dokumentation der bibliographischen Angaben zu den Beiträgen, die in den Bänden der Jahre 1922–1938 enthaltenen sind. Neben diesen Angaben hat der Herausgeber Kurt Guss sich jenen Persönlichkeiten gewidmet, die diese Zeitschrift begründet und geprägt haben.

Herausgeber und Entstehungshintergrund

Kurt Guss ist Psychologe, der der Gestaltpsychologie nahesteht. Er hat bei Wolfgang Metzger in Münster in Psychologie promoviert und zusätzlich in Erziehungswissenschaften und Rechtswissenschaften promoviert. Guss hat sich in Duisburg habilitiert und vor allem dort, in Mannheim und in Kostroma gelehrt. Als Gründungspräsident war Guss an der Entwicklung der „Gesellschaft für Gestalttheorie und ihre Anwendungen (GTA)“ maßgeblich beteiligt und ist inzwischen ihr Ehrenmitglied. 

Er ist beratender Herausgeber der Zeitschrift Gestalt Theory. Guss hat zur Gestalttheorie mehrere Bücher veröffentlicht, in früheren Jahren überwiegend in Verbindung mit den Erziehungswissenschaften, in den letzten Jahren häufiger in Übersichten bzw. fachgeschichtlichen Darstellungen.

Aufbau und Inhalt

Der Band enthält für die Jahrgänge 1922–1928 nicht nur die Quellenangaben für alle wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern auch die Angaben zu kleineren Mitteilungen, Diskussionen und Rezensionen, die damals noch „Referate“ genannt wurden. Neben den Quellenangaben enthält der Band in Abschriften die sieben Nachrufe, die in der „Psychologischen Forschung“ in jener Zeit erschienen sind.

Anliegen des Herausgebers ist die Erinnerung an jene Persönlichkeiten, die die Zeitschrift begründeten und prägten: Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka, Kurt Goldstein sowie Hans W. Gruhle. Angefügt hat Kurt Guss noch Wolfgang Metzger. Metzger gehörte als Schüler von Wertheimer zur nächsten Generation, war in den Jahren 1922–1938 nicht Mitherausgeber, jedoch später ein führender Gestaltpsychologe, der die Zeitschrift mitprägte und nach dem Krieg an ihrer Fortführung beteiligt war. Zu diesen Personen sind in dem Band Portraits, wichtige Publikationen und markante Zitate zu finden.

Ein eigenes, vom Herausgeber verfasstes Kapitel stellt die Herausgeber in ihrer Bedeutung und ihrem Schicksal, besonders zurzeit des Nationalsozialismus, dar.

Der Band wird durch ein Stichwortverzeichnis und ein Namensverzeichnis abgerundet.

Diskussion

Wozu ist ein solches Buch nützlich – ein Buch, das hauptsächlich Inhaltsverzeichnisse ohne die Inhalte wiedergibt? Kritisch kann man sagen, dass man die Inhaltsverzeichnisse der Vorkriegsjahrgänge der Zeitschrift „Psychologischen Forschung“ selbst nachschlagen kann. Jedoch wird kaum jemand die frühen Zeitschriftenbände einigermaßen vollständig besitzen, obwohl 1970 bei Springer ein Reprint erschienen ist. So hat dieses Buch schon durch die Zusammenstellung der Quellenangaben einen gewissen Nutzen. Etliche der Originalarbeiten in der „Psychologischen Forschung“ gelten heute als Klassiker, so etwa die Arbeiten von Kurt Lewin (1926) und seinen Schülerinnen und Schülern Bluma Zeigarnik (1927), Anitra Karsten (1926), Tamara Dembo (1931) und Ferdinand Hoppe (1931), wobei letztere den Ausgangspunkt der Leistungsmotivationsforschung bildete.

Die bibliographischen Angaben dieser bekannten und der weniger bekannten Aufsätze sind vergleichsweise leicht zu finden. Anders ist es mit den „Mitteilungen“ und Rezensionen in der Zeitschrift, die in den letzten Jahrzehnten wahrscheinlich auch eher übersehen wurden. So findet man manche unerwartete Quelle: Nicht geläufig sind in den späteren Bänden etliche englischsprachige Originalbeiträge oder z.B. Rezensionen russischer Fachbücher. Da lohnt es sich, den Angaben nachzugehen.

Kurt Guss ist zusätzlich daran gelegen, das Lebenswerk der Herausgeber und einiger Autoren, wie Kurt Lewin oder Wolfgang Metzger, sichtbar zu machen. Das gelingt ihm mit Abbildungen, biographischen Hinweisen, markanten Zitaten und (manchmal etwas hymnisch geratenen) Würdigungen. So ist dieses Buch gut lesbar und sogar unterhaltsam geworden. Mit dem ansprechend gestalteten, in gut lesbarer Schrift gedruckten Band wird an die führende Zeitschrift, vor allem an die bedeutenden Gestalttheoretiker und deren Schicksal erinnert. Die Auseinandersetzung mit der gestaltpsychologischen experimentellen Forschung und Theoriebildung muss man an anderen Stellen suchen; der Buchtitel lässt eine solche Diskussion auch nicht erwarten.

Allerdings lässt der Band auch Fragen zur Zeitschrift „Psychologische Forschung“ offen, zu denen man gern mehr erfahren hätte: Warum fanden sich gerade diese Herausgeber zusammen? In welchem Verhältnis standen sie zueinander? Warum war Köhler besonders die Psychopathologie als Nebengebiet wichtig? Welche Auswirkungen hatte die Zeitschrift auf die Psychologie in Deutschland und in anderen Ländern? Was geschah genau zu Beginn der Nazizeit mit der Zeitschrift, als alle Herausgeber außer Gruhle emigrieren mussten, der Verlag aber an der Zeitschrift festhalten wollte?

Zu der letzten Frage nur ein Hinweis: Köhler führte die Zeitschrift ab 1935 von den USA aus fort, musste sich aber offensichtlich in wenigstens einem Punkt dem Verlag beugen: Die Namen der jüdischen Herausgeber sollten – wie auch bei anderen Zeitschriften – nicht mehr genannt werden. Wolfgang Metzger, der in Deutschland geblieben war, wandte sich in dieser Zeit mit einem Einwand zu einem eingereichten englischsprachigen Manuskript von Karl Duncker an den Verlag, was Wolfgang Köhler als Einmischung in seine Herausgebergeschäfte ansah und Köhler zu einer heftigen Reaktion gegenüber Metzger veranlasste. Der Konflikt zwischen Köhler und Metzger hatte Auswirkungen bis nach 1945. Köhler beendete so oder so die Herausgeberschaft mit dem Jahr 1938. Eine Fortführung durch andere Personen lehnte er offenbar ab. Die meisten Schülerinnen und Schüler der emigrierten Gestalttheoretiker veröffentlichten ihre Untersuchungen nun in den USA in englischer Sprache. Mit der Zwangsemigration fast aller Herausgeber und mit der Beendigung der Zeitschrift wurde die Berliner Schule als wichtige, wenn nicht die wichtigste Schule der Psychologie in Deutschland, vollständig zerschlagen. Wenn man an der Sozialgeschichte der „Psychologischen Forschung“ interessiert ist, muss man – wie dieses Beispiel zeigen soll – weitere Quellen als dieses Buch nutzen. Man wird da vor allem die Arbeiten von Mitchell G. Ash über das Berliner Psychologische Institut und die Zeitschrift „Psychologische Forschung“ vor und nach 1933 nutzen (Ash 1985; 1995, S. 342 ff.). Die Zeitschrift „Psychologische Forschung“ erschien erst 1949 wieder. 1974 wurde sie in „Psychological Research“ umbenannt, worauf diese Umbenennung in der Psychologenschaft der Bundesrepublik eine lebhafte Kontroverse über englischsprachige Publikationen deutscher Autoren ausgelöste. Die lange Geschichte der Zeitschrift hat Eckart Scheerer (1988) dargestellt.

Fazit

Der vorliegende Band ist ein ungewöhnliches Buch. Er enthält im Kern die aufgelisteten Titel aus den Inhaltsverzeichnissen der Zeitschrift „Psychologische Forschung“ aus den Jahren 1922–1938, d.h. von der Gründung der Zeitschrift bis zu ihrer vorläufigen Beendigung durch Zwangsemigrationen und andere Repressalien in der Zeit des Nationalsozialismus. Die Zeitschrift „Psychologische Forschung“ war in der Zeit zwischen den Weltkriegen das führende Organ der Gestaltpsychologie, obwohl die Zeitschrift von Beginn an breiter angelegt war und sich in dieser Zeitschrift auch viele Arbeiten aus Nachbardisziplinen (Physiologie, Biologie, Psychopathologie usw.) finden. Mit dem sorgfältig und ansprechend gestalteten Buch von Guss wird mit Abbildungen, Zitaten und biographischen Hinweisen an die führenden Gestaltpsychologen, insbesondere die Gründer und Herausgeber der Zeitschrift, erinnert. So trägt das Buch dazu bei, die klassischen Bände der „Psychologischen Forschung“ im Original genauer durchzusehen und manche, vielleicht früher übersehene Beiträge aus heutiger Sicht zu lesen und zu beurteilen.

Literatur

Ash, M. G. (1985a). Ein Institut und seine Zeitschrift. Zur Geschichte des Berliner Psychologischen Instituts und der Zeitschrift „Psychologische Forschung“ vor und nach 1933. In: C. F. Graumann (Ed.), Psychologie im Nationalsozialismus (pp. 113–137). Berlin, Heidelberg, New York: Springer.

Ash, M. G. (1995). Gestalt Psychology in German Culture, 1890–1967: Holism and the Quest for Objectivity. Cambridge: Cambridge University Press.

Dembo, T. (1931). Der Ärger als dynamisches Problem. Psychologische Forschung, 15, 1–144.

Hoppe, F. (1931). Erfolg und Mißerfolg. Psychologische Forschung, 14, 1–62.

Karsten, A. (1928). Psychische Sättigung. Psychologische Forschung, 10, 142–255.

Lewin, K. (1926). Vorsatz, Wille und Bedürfnis. Psychologische Forschung, 7, 330–385.

Scheerer, E. (1988). Fifty volumes of Psychological Research/Psychologische Forschung. The history and present status of the journal. Psychological Research 50(2), 71–82.

Zeigarnik, B. (1927). Über das Behalten von erledigten und unerledigten Handlungen. Psychologische Forschung, 9, 1–85.

Rezension von
Prof. em. Dr. Helmut E. Lück
FernUniversität in Hagen, Fakultät für Psychologie
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Es gibt 13 Rezensionen von Helmut E. Lück.

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ISSN 2190-9245