Mohamed Wa Baile, Serena O. Dankwa et al. (Hrsg.): Racial profiling
Rezensiert von Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß, 24.02.2021
Mohamed Wa Baile, Serena O. Dankwa, Tarek Naguib, Patricia Purtschert, Sarah Schilliger (Hrsg.): Racial profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand.
transcript
(Bielefeld) 2019.
336 Seiten.
ISBN 978-3-8376-4145-5.
D: 29,99 EUR,
A: 29,99 EUR,
CH: 36,80 sFr.
Reihe: Postcolonial studies - Band 31.
Thema
Racial Profiling rückt auch im deutschsprachigen Raum zaghaft in den Blick der Öffentlichkeit, das gilt auch für die (deutschsprachige) Schweiz. Racial Profiling bezeichnet Polizeikontrollen, die anhand stereotypisierender rassistischer Merkmale stattfinden. Ausgehend von einem Prozess in den Jahren 2015/16, bei dem sich Mohamed Wa Baile rechtfertigen musste, dass er bei einer erneuten sich gegen ihn richtenden Polizeikontrolle nicht unterstützend mitwirkte, sondern passiv Widerstand leistete, wird im Band Racial Profiling thematisiert.
Herausgeber*innen
Die Herausgeber*innen fanden sich im Kontext von Protestveranstaltungen, die den Gerichtsprozess in den Jahren 2015/16 begleiteten.
Mohamed Wa Baile studierte Islamwissenschaften und Peace Studies. Er ist Bibliothekar an der Universität Bern, Autor von Kinderbüchern und Mitbegründer der „Allianz gegen Racial Profiling“ und aktiv im „Institut Neue Schweiz – INES“.
Serena O. Dankwa ist Sozialanthropologin und Mitarbeiterin der „Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration“ und der Fachhochschule Nordwestschweiz. Als Musikerin und Kulturjournalistin engagiert sie sich für kunstaktivistische und queere Methoden in der Vermittlung von diskriminierungskritischem Wissen. Sie ist Mitbegründerin von „Bla*Sh – Netzwerk Schwarzer Frauen“ in der Deutschschweiz.
Tarek Naguib ist Jurist und forscht und lehrt an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften mit Schwerpunkt im Antidiskriminierungsrecht. Er ist Mitbegründer des „Schweizer Netzwerks für Diskriminierungsforschung“ und engagiert sich in der „Allianz gegen Racial Profiling“ und im „Institut Neue Schweiz – INES“.
Patricia Purtschert ist Philosophin und Kulturwissenschaftlerin sowie Co-Leiterin des „Interdisziplinären Zentrums für Geschlechterforschung“ an der Universität Bern.
Sarah Schilliger ist Soziologin und Lehrbeauftragte am Zentrum Gender Studies der Universität Basel. Sie ist Mitbegründerin der „Forschungsgruppe Racial Profiling“ und engagiert sich in der Bewegung „Wir alle sind Bern“.
Aufbau
Der Sammelband versammelt literarisch-künstlerische Arbeiten und wissenschaftliche Analysen. An eine profunde Einleitung der Herausgeber*innen, die einen umfassenden Überblick eröffnet, schließen sich detaillierte Beiträge an, die auf einer wissenschaftlichen und/oder künstlerischen Basis Racial Profiling in der Schweiz behandeln, sowohl in historischer Dimension als auch im Hinblick auf aktuelle Ausformungen. In Einzelbeiträgen wird die spezifische Situation von Frauen unter dem Polizeiregime des Racial Profiling und die besondere Betroffenheit von Sexarbeiter*innen thematisiert.
Inhalt
Initial des Bandes ist eine schikanierende Polizeikontrolle in Zürich. Gegen einen mit ihr verbundenen Strafbefehl legt Mohamed Wa Baile Widerspruch ein, der vor Gericht verhandelt wird. Der Gerichtsprozess zog öffentliche Aufmerksamkeit auf sich, auch weil Aktivist*innen über Demonstrationen diese Aufmerksamkeit lancierten. Die Verhandlung vor Gericht wird im Beitrag „Hautverdächtig“ von Mohamed Wa Baile und Ellen Höhne „theatralisch“ dokumentiert und reinszeniert. Der Beitrag ist damit zentraler Ankerpunkt des Bandes, der Racial Profiling beispielhaft sichtbar macht. Gleichzeitig eröffnen Wa Baile und Höhne einen Einblick in eine empowernde Strategie: So ist der Beitrag „Hautverdächtig“ selbst „eine antirassistische Intervention, die dem realen Schweizer Gerichtsraum, der strukturell rassistisch geprägt ist, einen alternativen, ermächtigenden Raum entgegenstellt. Ziel des Tribunals ist es, einen Raum für Empowerment und gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen – nicht nur für das Unrecht, welches den Betroffenen widerfährt, sondern auch für die Chancen, die in einer solidarischen, postmigrantischen Gesellschaft der Vielen liegen.“ (S. 68)
Eine solche Perspektive des Empowerments wird in der vorangehenden Einleitung stärker – und in Verallgemeinerung – akzentuiert. So gehe es dem Band insgesamt darum, den strukturellen Rassismus in der schweizerischen Gesellschaft und das Racial Profiling der Polizei sichtbar zu machen. Bislang sei die Debatte – wie in Deutschland – von einer Verleugnung geprägt, Bagatellisierungen und Ausflüchte der Verantwortlichen und der Täter*innen sorgten dafür, dass stattfindendes Racial Profiling nicht als solches benannt werde.
Die konkrete Erfahrung wird sowohl in der Einleitung als auch in weiteren Beiträgen wissenschaftlich eingebunden: So zeichnet Rohit Jain in dem Beitrag „Von der ‚Zigeunerkartei‘ zu den ‚Schweizermachern‘ bis Racial Profiling“ die Geschichte rassistischer Zuschreibungen in der Schweiz seit dem 19. Jahrhundert nach. Exotisierungen in „Völkerschauen“ sind dabei ebenso Thema, wie Kriminalisierung und neuere Zuschreibungen, nachdem im 20. Jahrhundert in größerem Maß „Gastarbeiter“ angeworben wurden. Rohit Jain liefert an späterer Stelle zudem einen „Ethnographischen Bericht zum Prozess gegen M.“ – und ergänzt damit die theatralische Inszenierung des Beitrags „Hautverdächtig“. Tino Plümecke und Claudia S. Wilopo, Schohreh Golian sowie Angela Mattli gehen in ihren Beiträgen jeweils spezifisch den rassistischen Polizeikontrollen nach und zeigen, qualitativ empirisch unterlegt, deren Wirkungen. Jana Häberlein, Tarek Naguib und die Aktivist*innen der „Autonomen Schule Zürich“ fokussieren mögliche Widerstandsformen – sowohl im Hinblick auf Räume für Empowerment, um Kraft zu schöpfen und sich zu solidarisieren als auch hinsichtlich der Sichtbarmachung von Rassismus, um Debatten zu eröffnen. Wie im Beitrag „Hautverdächtig“ angelegt, zeigt der Jurist Tarek Naguib Möglichkeiten auf, um mit den Mitteln des Rechts „gegen Rassismus im Recht“ zu streiten.
Weitere Beiträge sind literarisch und unterlegen erfahrungsbasiert die Perspektiven der längeren reflektierenden Beiträge. Bemerkenswert am Band ist die sich durchweg zeigende intersektionale Reflexion. Sie wird besonders deutlich, wenn differenziert wird, welche „Personengruppen“ von Racial Profiling betroffen sind und welche in ihrer Betroffenheit wahrgenommen werden. So wird neben Schwarzen Personen auch die Position von Personen of Color reflektiert, auch im Hinblick auf Geschlecht und Klasse. Etwa das „Bewusstsein für die Erfahrungen Schwarzer Frauen mit polizeilicher Gewalt sei erschreckend klein“ (S. 17), halten die Herausgeber*innen unter Verweis auf Kimberlé Crenshaw in der Einleitung fest. Im Beitrag „Handwerksgeschichten“ von Rahel El-Maawi und Jovita dos Santos Pinto wird das Gespräch von sieben Schwarzen Frauen über ihre Erfahrungen mit Rassismus, und wie er in allen Lebensbereichen wirkt, wiedergegeben. Die Namensgebung für die Kinder, die Erziehung, alltägliche Erfahrungen etc. sind von Rassismus betroffen. Romeo Koyote Rosen und Jasmine Keller sprechen über Betroffenheit von Rassismus und seine Auswirkungen auch im Hinblick auf ihre queere, non-binäre Beziehung. Eine queer reflektierte Perspektive geht auch in zahlreiche der weiteren Beiträge ein und ist ein weiteres Kennzeichen des Bandes. So soll abschließend erwähnt werden, dass auch das Themenfeld Sexarbeit solidarisch behandelt wird: Der Beitrag „Profiling und Rassismus im Kontext Sexarbeit“ von Serena O. Dankwa, Christa Ammann und Jovita dos Santos Pinto fokussiert dieses Thema.
Fazit
Überraschend „leichtgängig“ verfolgt der Band sein Ziel, Racial Profiling gesellschaftlich zum Thema zu machen. Das geschieht erfahrungsbasiert und wissenschaftlich unterlegt. Auch für weiße Personen, wie den Autor dieser Besprechung, wird durch die Beiträge facettenreich deutlich, wie weitreichend Rassismus gesellschaftlich wirkt und wie tief er strukturell verankert ist. Die Herausgeber*innen des Bandes und die Autor*innen der einzelnen Beiträge leisten einen bedeutsamen Beitrag für Empowerment und Widerstandsstrategien von SchwarzenPersonen und Personen of Color, ebenso wie sie weißen Personen Wege aufzeigen, solidarisch zu handeln. Dem Band, der erfreulicherweise auch als Open-Access-Version verfügbar ist, ist eine weite Verbreitung und breite Rezeption zu wünschen – sowohl in wissenschaftlichen als auch in aktivistischen und institutionellen Kontexten.
Rezension von
Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß
Professur Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung
Hochschule Merseburg
FB Soziale Arbeit. Medien. Kultur
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Es gibt 61 Rezensionen von Heinz-Jürgen Voß.
Zitiervorschlag
Heinz-Jürgen Voß. Rezension vom 24.02.2021 zu:
Mohamed Wa Baile, Serena O. Dankwa, Tarek Naguib, Patricia Purtschert, Sarah Schilliger (Hrsg.): Racial profiling. Struktureller Rassismus und antirassistischer Widerstand. transcript
(Bielefeld) 2019.
ISBN 978-3-8376-4145-5.
Reihe: Postcolonial studies - Band 31.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25853.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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