Bettina Moll, Rainer Thomasius: Jugendliche mit abhängigem Computer- oder Internetgebrauch
Rezensiert von Michael Christopher, 03.01.2020
Bettina Moll, Rainer Thomasius: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Gruppenprogramm für Jugendliche mit abhängigem Computer- oder Internetgebrauch. Das "Lebenslust statt Onlineflucht"-Programm.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2019.
117 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2935-6.
34,95 EUR.
CH: 45,50 sFr.
Reihe: Therapeutische Praxis.
Thema
Mit der Aufnahme der Diagnose „Internet Gaming Disorder“ in das DSM V ist ein Teilbereich der sogenannten Internetsucht für die medizinische Behandlung greifbar geworden. Nachdem viele Veröffentlichungen das Phänomen dieser Verhaltenssucht aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachtet haben, stellt der vorliegende Band der Autor*innen Bettina Moll und Rainer Thomasius ein kognitiv-verhaltenstherapeutisches Gruppenprogramm für Jugendliche mit abhängigen Computer- und Internetgebrauch vor.
Autorin und Autor
Bettina Moll ist Psychologin, die am Aufbau der Spezialsprechstunde für auffälligen Mediengebrauch an der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf beteiligt war. Momentan ist sie teils am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angestellt und teils in ihrer freien Praxis tätig.
Rainer Thomasius ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie. Heute ist er der Ärztliche Leiter des Suchtbereichs der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Er hat neben Artikeln zur Internetsucht viele Fachartikel zu stoffgebundenen Süchten bei Kindern- und Jugendlichen veröffentlicht.
Aufbau
Das Buch ist in drei Einheiten eingeteilt.
- Im ersten Teil behandeln die Autor*innen die theoretischen Grundlagen des Phänomens des abhängigen Computer- und Internetgebrauchs sowie die theoretischen Fundamente ihres therapeutischen Ansatzes.
- Der zweite Teil ist das Therapiemanual mit den Rahmenbedingungen, dem Aufbau und der Durchführung des Gruppenprogramms.
- Im dritten Teil evaluieren die Autor*innen das Programm und stellen einen Fall vor.
Darüber hinaus beinhaltet das Buch einen Anhang mit den Arbeitsmaterialien, die als Druckvorlage zusätzlich auf einer CD als PDF-Datei vorliegt.
Inhalt
Theoretische Grundlagen
Zu Beginn geben die Autor*innen einen Überblick zu dem von Ihnen betrachteten Forschungsstand des Phänomens des abhängigen Computer- und Internetgebrauchs. Dabei stellen sie die Symptome einer psychischen Abhängigkeit und den klinisch relevanten Leidensdruck voran und setzen damit die Internetsucht in die Nähe der substanzbezogenen Suchtstörung. Trotz Aufnahme des Internet-Gaming-Disorders im DSM V, existiere aber bezüglich der Messinstrumente zur Diagnostik noch kein Konsens. Verschiedene Fragebögen stünden aktuell zur Verfügung.
Die Autor*innen stellen weitere diagnostische Gesichtspunkte zur Diskussion, wie die Umstände des Internetkonsums, die Person und ihren Entwicklungsstand, die Reaktion auf eine Vorenthaltung des Mediums und die persönlichen psychosozialen und somatischen Konsequenzen aus der Nutzung des Internets. Behandlungsbedarf sehen die Autor*innen, wenn der Jugendliche seine freie Zeit meist alleine im Internet verbringt, dabei nicht altersgerechte Anwendungen nutzt und dadurch gesundheitliche, psychische und soziale Beeinträchtigungen erfährt und bei Unterbinden des Konsums Entzugserscheinungen aufweist.
Neben der eigentlichen Sucht bestehe eine Komorbidität, was bedeutet, dass der Jugendliche auch andere psychische und somatische Auffälligkeiten wie ADHS oder eine Angsterkrankung haben kann. In Anlehnung an die für Psychologen meinungsführende Gesellschaft DGPPN sehen die Autor*innen eine Anbindung der Internetsucht an die stoffgebundenen Süchte.
Moll und Thomasius beschreiben verschiedene Unterarten der Internetabhängigkeit, wobei die Abhängigkeit von Onlinespielen die häufigste Form darstelle. Zur Auseinandersetzung mit der Entstehung der Abhängigkeit stellen die Autor*innen sieben unterschiedliche Erklärungsmodelle (biologisch, psychoanalytisch, kognitiv-verhaltenstherapeutisch, et cetera) vor. Der Behandlungsansatz des Programms ist, wie der Titel des Buches bereits verrät, vorwiegend kognitiv-verhaltenstherapeutisch, mit Elementen der motivierenden Gesprächsführung. Das Ziel der Therapie ist keine Abstinenz, sondern ein gesunder Umgang mit dem Internet.
Theoretische Fundierung der therapeutischen Programminhalte
Im zweiten Kapitel betrachten die Autor*innen das Vier-Phasen-Modell der Behandlung (nach Küstner, Sack, Stolle & Thomasius) und stellen ihre therapeutischen Methoden vor.
Die vier Phasen beinhalten
- die Diagnostik,
- die Behandlung der Störung,
- die Behandlung der komorbiden Störungen und
- sogenannte Booster Sessions als Nachsorge.
Wichtig sind den Autor*innen dabei die Stufen der Veränderung (nach Prochaska & DiClemente) mit der Absichtsbildung, der Entscheidung, dem Handeln und der Aufrechterhaltung.
Die Behandlung der jungen Patient*innen wird auf der Basis verschiedener therapeutischer Methoden angegangen, wie der Psychoedukation, der motivierenden Gesprächsführung sowie verhaltenstherapeutischer Methoden wie Selbstbeobachtung, Aufbau alternativer Aktivitäten, situationaler Kontrolle, etc. Besonders die Rückfallprophylaxe ist ein wichtiger Bestandteil der Behandlung.
Rahmenbedingungen für die Durchführung des Gruppenprogramms.
Im dritten Kapitel beschreiben die Autor*innen die Indikation (Diagnose und Motivation) sowie die Kriterien und Kontraindikationen für die Gruppen (Größe 4–8 Patienten) als auch die Ziele des Programms (kritische Reflexion und Reduktion, Aufzeigen von Dissonanzen, Förderung des „realen Kontakts“ zu Gleichaltrigen, alternative Freizeitbeschäftigungen und der Rückfallprävention). Die Grundbedingungen für die Therapie werden dezidiert aufgezeigt sowie der Umgang mit zu erwartenden Störungen angesprochen.
Aufbau des Gruppenprogramms „Lebenslust statt Onlineflucht“
Moll und Thomasius geben einen Überblick zu den acht Modulen der Behandlung:
- Vertrauensvolle Gruppenatmosphäre schaffen und Motivation der Teilnehmer
- Psychoedukation und Entwicklung eines Störungsmodells
- Gefühle und Zielfindung
- Erarbeitung situationaler Kontrolle
- Beziehungen (und soziale Kontakte)
- Umsetzung der Ziele
- Rückfallprävention und sozialer Druck
- Abschluss mit Feedback
Zusätzlich zu den Modulen gehören zur Behandlung zwei Bosster Sessions zur Nachsorge nach vier, bzw. zwölf Wochen nach Ende des Programms.
Ablauf des Gruppenprogramms
Die Autor*innen stellen in diesem Kapitel die einzelnen Module genauer vor, benennen die Ziele sowie die notwendigen Materialien. Die einzelnen Sitzungen sind zeitlich getaktet in verschiedene Abschnitte. Auch eventuell auftretende Schwierigkeiten und Besonderheiten der Therapiesituationen werden von den Autor*innen aufgezeigt. Zu den einzelnen Modulen wurden von den Autor*inen auch verschiedene Arbeitsmaterialien im Anhang und auf der beigelegten CD zur Verfügung gestellt.
Evaluierung des Gruppenprogramms
Die Autor*innen stellen die Ergebnisse der Studie zu dem Behandlungsprogramm dar und sehen einen Erfolg der Behandlung, der besonders in der Reduktion der Internetnutzungszeit nach der Behandlung zu sehen ist. Auch die Zufriedenheit der Teilnehmer war nach subjektiver Wahrnehmung der Autor*innen hoch.
Fallvorstellung Alexander
Als Letztes Kapitel stellen die Autor*innen exemplarisch den Fall eines 14-jährigen Patienten dar, der auf Initiative seiner Mutter in der Ambulanz vorstellig wurde und nach Durchlaufen des Therapieprozesses erweiterte soziale Kompetenzen zeigte.
Diskussion und Fazit
Bettina Moll und Rainer Thomasius haben ein sehr interessantes Manual zur Behandlung von Jugendlichen mit einem pathologischen Gebrauch des Internets geschrieben. Hierbei gingen sie klar, strukturiert und deutlich vor, stellten Ihr Programm auf solide theoretische Füße, betrachteten genau die Situationen in der Praxis und evaluierten das Programm. Die theoretische Sichtweise ist, wie häufig in diesem Bereich, durch die psychologisch-psychiatrische Brille geprägt, aber auf einer sympathisch praktischen Ebene. Den Autor*innen geht es nicht um die Grundsatzfragen des problematischen Internetgebrauchs, sondern um die Behandlung der Jugendlichen mit Leidensdruck. Diese ist in Deutschland leider nicht in dem Maße ausgebaut, wie es notwendig wäre.
Das Buch folgt einer positiven Betrachtung des Behandlungsangebotes, so ist auch die Evaluation und der Blick auf die Erfolge ohne kritische Töne. Schwierigkeiten im Prozess beruhen so auf den Widerständen der zu Behandelnden. Diese Schwierigkeiten könnten aber mithilfe von im Buch vorgestellten Methoden begegnet werden.
In Bezug auf die Bewertung des Programms sollte hier eine unabhängige Evaluierung mit mehr Datenmaterial (sprich: mehr Sitzungen) stattfinden. Wenn man dies beiseiteschiebt und man das Ziel des Buches (Verbreitung der Methode) vor Augen hat, so kann man bescheinigen, dass dieses Programm gut dargestellt worden ist. Auch die einzelnen Module wurden sehr gut beschrieben und geben den Therapeuten eine gehaltvolle Anleitung für die Behandlung. Die beiliegende CD beinhaltet ein paar Arbeitspapiere für den Ausdruck, die als Kopiervorlage bereits gedruckt im Buch vorliegen. Vielleicht wäre hier ein Download Code ökonomischer gewesen.
Moll und Thomasius haben mit ihrem Buch einen wichtigen Beitrag zur Behandlung von Jugendlichen mit pathologischem Internetgebrauch geleistet. Dieses Buch richtet sich in erster Linie an Therapeut*innen und andere Professionelle in sozialen Berufen, die mit dem Thema der Internetsucht, dem pathologischen oder problematischen Internetgebrauch zu tun haben.
Rezension von
Michael Christopher
Filmwissenschaftler, Theaterwissenschaftler und Mitherausgeber der Zeitschrift manycinemas
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Es gibt 34 Rezensionen von Michael Christopher.
Zitiervorschlag
Michael Christopher. Rezension vom 03.01.2020 zu:
Bettina Moll, Rainer Thomasius: Kognitiv-verhaltenstherapeutisches Gruppenprogramm für Jugendliche mit abhängigem Computer- oder Internetgebrauch. Das "Lebenslust statt Onlineflucht"-Programm. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2019.
ISBN 978-3-8017-2935-6.
Reihe: Therapeutische Praxis.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25860.php, Datum des Zugriffs 13.10.2024.
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