Annett Maiwald: Erziehungsarbeit
Rezensiert von Vera Strobel, 04.06.2020

Annett Maiwald: Erziehungsarbeit. Kindergarten aus soziologischer Perspektive.
Springer VS
(Wiesbaden) 2018.
897 Seiten.
ISBN 978-3-658-21574-3.
D: 79,99 EUR,
A: 82,23 EUR,
CH: 82,50 sFr.
Reihe: Studien zur Schul- und Bildungsforschung - Band 73.
Thema
Mit dieser Publikation werden empirisch belegte Einblicke in den Kindergarten aus der Perspektive der verstehenden Soziologie als Ort von sozialen Handlungen gegeben, an dem erwachsene und kindliche Sinnwelten unter den strukturellen Bedingungen nicht-familialer kollektiver Erziehung in Organisationen aufeinandertreffen. Es werden Charaktere von Sozialbeziehungen und beruflichen Handlungsprozessen erfasst, die auf Basis der Organisationsprämissen in den Interaktionsverhältnissen (re-)produziert werden.
In äußerst präzisen und beispielhaften Fallanalysen werden anhand der Berufssozialisations- und Transformationsgeschichte „ostdeutscher Erziehrinnen“ die Vielfältigkeit der Handlungsorientierungen und Sinnzuschreibungen sowie die Schwierigkeiten im „social drama of work“ des Kindergartens aufgezeigt. [1]
Autorin
Dr. Anett Maiwald promovierte in Soziologie (Dr. phil) an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg mit einem bildungssoziologischen Thema zu den Arbeits- und Interaktionsverhältnissen in der Kleinkinderziehung. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Bildungssoziologie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.[2]
Entstehungshintergrund
Krippen, Kindergärten und Kindertagesstätten, das Handeln von pädagogischen Fachkräften aber auch das der Kinder sind international auf ein wachsendes Interesse gestoßen, sodass durchaus einige wichtige empirische Untersuchungen in diesem Themengebiet vorliegen. Allerdings wurden erstens seit der Wiedervereinigung Deutschland bis dato keine belastbare empirische und theoretische Rekonstruktion des Kindergartens in der DDR vorgelegt. „Zweitens hat die Soziologie (…) über die Institution, in der fast alle Kinder der modernen Gesellschaften den größten Teil ihrer frühen Kindheit verbringen (…) so gut wie nichts beigetragen. Und schließlich fehlt es drittens an einer grundlegenden Theorie des Kindergartens als Institution.“ [3] Diese Lücke soll mit dem vorliegenden Werk wesentlich geschlossen werden. Maiwald kritisiert, dass sich bisher nahezu keine Veröffentlichung empirisch mit dem Ausbildungssystem und der Entwicklung von Handlungsorientierungen in berufssozialisierenden Prozessen auseinandergesetzt hat.
Aufbau
Die 897-seitige Untersuchung gliedert sich in drei Themenbereiche mit insgesamt neun Kapiteln.
- Der erste Teil bezieht sich auf den theoretischen Forschungsrahmen und dem Kontext der Untersuchung
- Im zweiten, empirisch analytischen Teil sind die methodische Ausrichtung der Untersuchung sowie die äußerst tiefgründigen Fallanalysen dargestellt.
- Der dritte Teil widmet sich dem Prozess der Theorieentwicklung.
Den Abschluss dieser Untersuchung bildet ein 37-seitiges Literaturverzeichnis mit Quellen aus den letzten neun Jahrzehnten.
Jedes Kapitel ist in sich geschlossen und kann, ein Anliegen der Autorin, somit auch einzeln gelesen werden. Wo notwendig, gibt diese zu Beginn eines neuen Kapitels einen kurzen Abriss zum vorhergehenden Kapitel.
Inhalt
Einleitend zu diesem empirischen Forschungsprojekt stellt die Forscherin u.a. den aktuellen Forschungsgegenstand sowie das Interesse der Forschung dar. Eruiert wird, wie ostdeutsche Erzieherinnen, die ihre Ausbildung zu DDR-Zeiten absolviert haben, unter diesen Bedingungen im Vorschulsystem der DDR gearbeitet, wie sie den Systemwechsel mit dem gravierenden Umbruch der Strukturen und den Auffassungen frühkindlicher Erziehung erlebt und eigenes pädagogisches Handeln im Transformationsprozess hinterfragt haben.
Handeln und Interaktion in Arbeits- und Ausbildungsprozessen[4]
Im ersten Kapitel wird für den forschungsleitenden theoretischen Rahmen eine allgemeine Darstellung grundlagentheoretischer Voraussetzungen aufgezeigt. Darauf aufbauend werden die Momente von Arbeit und ihren strukturellen Bedingungen von beruflicher Sozialisation, spezielle biografische Identitäten, Berufsideologie und berufliche soziale Welten als eine Sinngemeinschaft betrachtet. Begleitet werden diese mit Ausführungen, wie Prozesse des Handelns und von Interaktionen zu den Strukturen eines Handlungsumfeldes in Beziehung stehen.
Kapitel 2: Gesellschaftliche Kleinkindererziehung: Strukturelle Bedingungen des Handelns
Das zweite Kapitel enthält allgemeine Überlegungen zur zentralen Funktion von Curricula, wobei die handlungs- und interaktionsbezogene Diskussion auf damit in Zusammenhang stehende Interessenlagen von Erzieherinnen zielt, auf ins Gedächtnis rufende Aktivitätsspektren und weitere mögliche Verhaltensweisen.
Kapitel 3: Handlungsprogrammatik des DDR Kindergartens
In Kapitel drei wird ein Blick auf die Programmatik geworfen, die für die Untersuchung des Handelns der befragten ostdeutschen Erzieherinnen in ihrer berufsbiographischen Herkunft konkrete Bedeutung hat.
Kapitel 4: Erzieherinnen im Transformationsprozess Ostdeutschlands
Das vierte Kapitel behandelt beginnend einige Grundannahmen und Forschungsdiagnosen der akteurs- und forschungsorientierten Transformationsforschung und stellt empirische Befunde vor, die für ähnlich gelagerte Bereiche der Kinder- und Jugendhilfe erlangt wurden. Anschließend erfolgt die Darstellung dessen, was über die Situation der Erzieherinnen bekannt ist und nach 1990 empirisch zu ihrer Berufs- und Handlungsproblematik erforscht wurde.
Kapitel 5: Methodische Ausrichtung der Untersuchung
Im fünften Kapitel wird die methodische Ausrichtung der Untersuchung dargestellt. Dabei wird hervorgehoben, dass es nicht um die Vorschulerziehung oder die Praxis in ostdeutschen Kindertageseinrichtungen als sozialwissenschaftlich konstruierte Phänomene, sondern um Menschen mit ihren Mitmenschen in ihrer sozialen Welt geht. Die offenen Interviews als prozessorientiertes Erhebungsinstrument sowie die Fallanalysen unterliegen dem Verfahren der Hermeneutik.
Kapitel 6: Fallanalysen
Das sechste Kapitel beinhaltet drei äußerst spannende, tiefgründige und akribisch aufgearbeitete Fallanalysen drei verschiedener Interviews. Zum Ersten das Interview mit Cornelia Lempert: Die Identifikation mit dem Amt Erziehern, zum Zweiten das Interview mit Beate Howald: Kindergarten als prozessierende Sozialität und zum Dritten das Interview mit Vera Tiedtke: Die lebenslange Suche nach Anerkennung.
Kapitel 7: Perspektiventypen der Erziehungsarbeit im Kindergarten
Das siebte Kapitel widmet sich auf Grundlage der Interviews, mit gelegentlichen Hinweisen auf das Sample, der Theorieentwicklung zu drei Perspektiventypen. Erstens der Institutionszentriertheit und Funktionalisierung, das Kind als seen-but-unnoticed-backround der Erziehung in Organisationen. Zweitens der Situationsorientiertheit und Kooperation, Doing things together: Handlungsprobleme im Kindergarten als gemeinschaftliche Aufgabe. Drittens Re-inszenierte Familiarität und Instrumentalisierung, das social drama der Erziehung: Entgrenzung von Familie und Organisation.
Kapitel 8: Zusammenfassung der Ergebnisse
Im vorletzten Kapitel werden die Ergebnisse der Untersuchung präzise zusammengefasst. Es werden Aussagen zur Stellung soziologischer Gegenstandsauffassung der Kleinkindererziehung und des entsprechenden Erkenntnisgewinns im wissenschaftlichen Kontext von Pädagogik sowie zum Bedeutungsspektrum des Erzieherberufs getroffen.
Kapitel 9: Ausblicke auf den Beruf und auf Theoriebildung und Forschung
Abschließend betont Maiwald in ihrem Ausblick auf weitere Forschungen, dass sich, ausgehend von den hermeneutischen Fallinterpretationen, ein sozialtheoretisches Nachdenken über Kindergarten geradezu aufdrängt und eine dringende Aufgabe künftiger Untersuchungen sei.
Fazit
Mit dieser Publikation erhält die/der Leser/in einen tiefgehenden Einblick in den Kindergarten aus der Perspektive der verstehenden Soziologie als Ort von sozialen Handlungen, an dem erwachsene und kindliche Sinnwelten unter den strukturellen Bedingungen nicht-familialer kollektiver Erziehung in Organisationen aufeinandertreffen. Es werden Charaktere von Sozialbeziehungen und beruflichen Handlungsprozessen erfasst, die aus Basis der Organisationsprämissen in den Interaktionsverhältnissen (re-)produziert werden. [5]
In äußerst präzisen und beispielhaften Fallanalysen werden anhand der Berufssozialisations- und Transformationsgeschichte „ostdeutscher Erzieherinnen“ die Mannigfaltigkeit der Handlungsorientierungen und Sinnzuschreibungen sowie die Schwierigkeiten im social drama of work des Kindergartens aufgezeigt. [6] Der Leserin/dem Leser spiegeln sich die Wertschätzung des Berufs, einzelne Lösungsversuche in Zeiten von Identifikationsschwierigkeiten mit der Berufsrolle im Vorschulsystem der DDR sowie individuelle Auseinandersetzungen zur Zeit der Transformation des Systems und danach wieder.
Für die Analyse der Entwicklungsprozesse der Erzieherinnen in Ostdeutschland sind die Ereignisse des Systemumbruchs mit der Umstrukturierung durch den westdeutschen Institutionentransfer und die daraufhin erfolgenden Veränderungen relevant. Dennoch stellt sich bereits beim Lesen des theoretischen Teils und spätestens unweigerlich bei den Fallanalysen die Frage, inwieweit sich punktuell Bezüge auf andere Berufsbiografien schließen lassen, die sich möglicherweise nicht nur in der für die vorliegende Forschung relevante Region beziehen würden, zumal der Umgang mit Umbrüchen durch verschiedene pädagogische Grundhaltungen begründet zu sein scheint.
Diese Publikation, durchgehend geprägt von einer äußerst hohen Fachlichkeit sowie tiefgründigen Kenntnissen des Systems der Vorschulerziehung in der DDR, ist eine wertvolle und bereichernde Veröffentlichung für das Verstehen von „Erziehungsarbeit“, von pädagogischem Handeln, der Berufsrolle und der Identifikation von Erzieherinnen (und Erziehern) in den Jahrzehnten von der Ausbildung bis zum Ruhestand mit den individuellen biografischen und sinnstiftenden Hintergründen in sozialen Kontexten in einer sich stetig wandelnden Gesellschaft.
[1] vgl. Maiwald, A. (2018) Erziehungsarbeit. Rückseite Einband
[2] Vita Annett Maiwald. https://soziologie.uni-halle.de/professuren/​bildung/​maiwald/. Zuletzt eingesehen am 18.08.2019. MEZ 16:41
[3] Rabe-Kleberg, Geleitwort in Maiwald, A., Erziehungsarbeit (2018). S. V f.
[4] Der Springer Verlag stellt eine Übersicht der wesentlichen Ergebnisse der Untersuchungen, die in den einzelnen Kapiteln tiefgründig dargestellt sind, knapp zusammenfassend zur Verfügung. Springer Link. (2019) Springer Nature Switzerland AG. Zuletzt eingesehen am 18.08.2019. MEZ 16:58
[5] vgl. Maiwald, A. (2018). Erziehungsarbeit. (2018) Rückseite Einband.
[6] vgl. ebd.
Rezension von
Vera Strobel
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