Till van Rahden: Demokratie
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.07.2020

Till van Rahden: Demokratie. Eine gefährdete Lebensform. Campus Verlag (Frankfurt) 2019. 220 Seiten. ISBN 978-3-593-51134-4. D: 24,95 EUR, A: 25,60 EUR, CH: 34,60 sFr.
Thema
Die Sorgen und Klagen nehmen zu, dass die menschlichste, der Würde und Freiheit der Menschen geeignetste Regierungs- und Lebensform, die Demokratie, durch die Verleugner dieser humanen Werte und Menschenrechte beschädigt und beseitigt wird. Es sind die Populisten, Rassisten und Nationalisten, die sich gegen die Errungenschaft wenden, dass die politische und gesellschaftliche Macht und Ordnung vom Volk, und nicht von Ideologien, Diktatoren oder Einheitsparteien ausgeht (vgl. z.B. auch: Julian Nida-Rümelin, Die gefährdete Rationalität der Demokratie. Ein politischer Traktat, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26507.php). Es ist das Plädoyer für eine offene Gesellschaft, das in den Zeiten der demokratiefeindlichen Kakophonien angesagt ist (Jos Schnurer, Freiheit und Ordnung, 02.04.2019, https://www.sozial.de/).
Entstehungshintergrund und Autor
Forschungsergebnisse, politische und Gesellschaftsanalysen und Ratgeber zeigen in aller Deutlichkeit, dass es nicht ausreicht, die demokratische Regierungs- und Lebensform einmalig als verfasste Institution zu etablieren; vielmehr muss Demokratie in individuellen und gesellschaftlichen Dasein gelebt und verteidigt werden. Es ist der lebenslange Aufklärungs- und Bildungsauftrag, der Bewusstsein und Überzeugung für ein freiheitliches, demokratisches Leben schafft. Der Historiker Till van Rahden lehrt an der Université de Montréal in Kanada Deutschland- und Europastudien. Er legt eine Analyse vor, in der er – sicherlich unter dem Eindruck der aktuellen Debatten und Hab-acht-Positionen vor den vielfältigen, lokalen und globalen Angriffen gegen die Demokratie – den historischen Blick auf die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Deutschland nach 1945 richtet. Es sind Reflexionen darüber, dass demokratische Lebensformen nicht deshalb funktionieren, weil sie in den demokratischen Verfassungen eingeschrieben sind, sondern nur, wenn „die Bürger tätig an einer starken Identität des Landes (und der Einen Welt, JS) mitwirken“. Van Rahden schreibt nicht in erster Linie eine Geschichte darüber, wie die Deutschen das Grauen und die Verbrechen der Nationalsozialisten überwunden haben und mit dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ sich anschickten; vielmehr geht es ihm darum, „eine andere Geschichte der Bundesrepublik (zu) erörtern“, also gewissermaßen durchaus auch mit neuen Quellenmaterialien, wie z.B. Briefen und anderen, nicht akademischen Informationen, Facetten und Alltäglichkeiten des demokratischen Werdens in Deutschland zu thematisieren. Er will damit das Gespräch der Menschen untereinander fördern und bewusst machen, dass die Durchsetzung von demokratischen Lebensformen nicht selbstverständlich und gegeben, sondern „zerbrechlich und gefährdet“ ist. „Statt darauf zu starren, wie Demokratien sterben, geht dieses Buch der Frage nach, was sie am Leben erhält“.
Aufbau und Inhalt
Neben der Einleitung, in der es um die Grundfragen geht, „wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt“, gliedert der Autor seine Studie in fünf Kapitel. Im ersten setzt er sich mit „Demokratie als Lebensform“ auseinander und identifiziert die Haupterzählungen darüber als „deutsches Missverständnis“. Im zweiten findet er „unbeholfene Demokraten“, indem er sich mit den moralischen Leidenschaften von Agierenden im gesellschaftlichen Prozess auseinandersetzt. Im dritten verweist er mit der Fundstelle „Das Lächeln der Verfassungsrichterin“ auf – ansonsten im „ernst“haften und faktischen Verfassungshandeln üblichen Erscheinungs- und Diskussionsformen wenig benutzten Informationen – befreiende, emotionale Gestik. Das vierte Kapitel titelt er mit „Eine Welt ohne Familie“, indem er über die Entwicklung von Kinderläden und andere demokratische Heilsversprechen und deren Hintergründe informiert. Das fünfte Kapitel handelt vom „Verlust der Mitte“ und „vom Siechtum öffentlicher Räume“.
Wie bereits erwähnt, stützt sich der Autor in seiner Studie nicht zuvorderst auf Untersuchungen, wie sie von prominenten Analysten, wie z.B. von Dolf Sternberger, Ralf Dahrendorf, Wilhelm Hennis ( vgl. dazu auch: Andreas Anter, Hrsg., Wilhelm Hennis' politische Wissenschaft. Fragestellungen und Diagnosen, 2013, www.socialnet.de/rezensionen/15257.php) oder Jürgen Habermas; vielmehr schaut er nach bei primär populären Zeitschriften, wie etwa dem „Merkur“, der „ZEIT“, dem „Spiegel“, bis hin zu ansonsten im akademischen Forschungsverständnis eher kaum berücksichtigten Publikationen, wie z.B. der „Tabak-Zeitung“, der „Parole“ (BGS), u.a. Dadurch werden überraschende, bis merkwürdige, missverständliche und sogar „falsche“ Vor- und Einstellungen über „Demokratie als Lebensform“ deutlich. Dass dies keine akademische Spielerei, sondern Anlass zur Reflexion ist, dazu genügt ein Moment der lapidaren Nachschau, woher zum Beispiel die aktuellen, obskuren, unverständlichen, nazistischen, rechtsradikalen und populistischen Parolen in der deutschen Gesellschaft kommen.
Mit der Willy Brandtschen Forderung „Mehr Demokratie wagen“ (1969) allerdings gelang es auch, zu den einzelnen Gesellschaftsschichten Brücken hin zu einem zunehmendem Verständnis und Zustimmung zum demokratischen Denken und Handeln zu bilden. Mit der Kritik an den überkommenen, hierarchischen, herrschaftsfixierten (siehe dazu auch: Klaus Theweleit, Männerphantasien, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26436.php), kapitalistischen (Klaus Dörre/Christine Schickert, Hrsg., Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26358.php) und ideologischen Strukturen (Thomas Piketty, Kapital und Ideologie, 2020, www.socialnet.de/rezensionen/26783.php) wurden zwar bis heute andauernde Alternativen diskutiert; doch die marktkonformen Entwicklungen, die das Wachstums- und „Immer-mehr“- Denken fördern, bewirken nur, dass die stabilisierende gesellschaftliche Mitte ausfranzt in diejenigen, die immer wohlhabender und reicher, und die Habenichtse, die immer ärmer werden.
Fazit
Der Rezensent hat sich erlaubt, zu den Fundstellen und Aspekten von Till van Rahden, wie es gelingen kann, eine Gesellschaft von Freien und Gleichen zu entwickeln, einige Hinweise auf ausgewählte neuere Literatur einzufügen – aus der Überzeugung heraus, dass diese die Argumente und Aufforderungen des Autors stützen: „Wir leben in einer Demokratie, die Herrschafts- und Lebensform ist. Es ist an uns, sie zu erhalten“. Als zusätzlicher Einschub möge gelten, dass diese Vision nur mit einem individuellen und kollektiven Perspektivenwechsel hin zu dem Bewusstsein zu erreichen ist, wie ihn die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften Elinor Ostrom formuliert hat, „was mehr wird, wenn wir teilen“ (www.socialnet.de/rezensionen/11224.php), und wie dies mit der Aufforderung zu einem „Gemeingutbewusstsein“ weiterentwickelt wird (Silke Helfrich/David Bollier, frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25797.php).
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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