Joris Alexander Steg: Krisen des Kapitalismus
Rezensiert von Arnold Schmieder, 28.05.2020

Joris Alexander Steg: Krisen des Kapitalismus. Eine historisch-soziologische Analyse. Campus Verlag (Frankfurt) 2019. 466 Seiten. ISBN 978-3-593-51149-8. D: 45,00 EUR, A: 46,60 EUR, CH: 57,90 sFr.
Autor
Dr. Joris Alexander Steg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Bergischen Universität Wuppertal. „Krisen des Kapitalismus“ ist die gekürzte und überarbeitete Fassung seiner 2017 eingereichten Dissertation.
Thema
Bündig gesagt: „Das Buch handelt von Krisen und den Folgen von Krisen. Wie Krisen entstehen, welche gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Folgen Krisen haben“. Präziser unter Bezug auf die letzte globale Finanz- und Wirtschaftskrise und ein sich danach verflüchtigendes „Krisenbewusstsein“ danach die Frage, warum sich nach dieser Krise so wenig getan, warum sie sich nicht zur einer „Transformationskrise“ entwickelt hat, was allgemeiner formuliert bedeute: „Was passiert wann und warum in Krisen. Oder anders herum: Was passiert wann und warum in Krisen gerade nicht“ (S. 7 f.). Der Autor weist darauf hin, dass sich ein „gesteigertes wissenschaftliches Interesse am Phänomen ‚Krise‘ insgesamt feststellen“ lasse (S. 11), der Begriff eine „erhebliche Variationsvielfalt“ habe und zur „Klassifizierung und Etikettierung verschiedenster gesellschaftlicher Problemlagen verwendet“ werde (S. 9).
Steg befasst sich mit „ökonomischen Krisen und den gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Auswirkungen dieser Krisen“, also mit „systemischen Krisen, mit Großen bzw. organischen Krisen des Kapitalismus, die die polit-ökonomische Struktur moderner demokratisch und kapitalistisch verfasster Gesellschaften beeinflussen.“ Insofern geht es um Reichweite von Krisen über die Wirtschaft und ihre Teilbereiche hinaus. Wesentlich dabei sei die Analyse, wie sich solche „polit-ökonomischen Systemkrisen“ auf „Makrostrukturen“ auswirkten, nämlich Demokratie und Kapitalismus, und wie und in welcher Form der Staat interveniere, was historisch-konkret gefasst und dargestellt wird (S. 14). Seit Ausbruch der Krise 2007 seien deren Folgen, gesellschaftliche wie wirtschaftliche, nicht ausgemacht, und nach einem Intermezzo marxistischer Kapitalismuskritik wäre der Staat wieder in den Vordergrund gebracht worden, er „sollte wieder die gesellschaftlich dominante Steuerungsfunktion übernehmen und die demokratische Politik sollte die kapitalistischen Marktprozesse einhegen“, was aber „nach und nach verklungen“ sei und danach bis heute „wieder ‚mehr Vertrauen in Marktprozesse‘ gefordert“ worden sei (S. 15 f.). Der Autor hält fest, dass sich die aktuelle Krise „bislang nicht als Katalysator für tiefgreifende gesellschaftliche und polit-ökonomische Umwälzungen und schon gar nicht als Anstoß für revolutionäre Systemveränderungen erwiesen“ hat. Infrage stehe, ob Krisen zu polit-ökonomischen Transformationen und dabei zu weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen führen oder „Fatalismus, Apathie und Resignation in der Gesellschaft befördern und die bestehenden Verhältnisse perpetuieren“ würden (S. 17). Allerdings untersucht der Autor, unter welchen Voraussetzungen „Krisen polit-ökonomische Transformationskrisen“ sind bzw. werden können (S. 19), wobei er der Frage nachgeht, warum es „keine gravierenden Veränderungen im Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus gab“ und warum die aktuelle, anhaltende Krise keine „Transformationskrise“ ist (S. 18). Auf der Folie seiner Analysen kommt Steg zu (u.a.) dem Schluss, polit-ökonomische Entwicklungsprozesse würden sich erst dann etablieren, wenn ökonomische Prozesse einen „Politikwandel“ erzeugten: „Die Transformation eines Entwicklungsmodells erfolgt nur, wenn nach einer Krise ein neues Entwicklungsmodell mit einer neuen polit-ökonomischen Prozesslogik politisch implementiert und institutionalisiert wird. Zu einem umfassenden Politikwandel im Zuge einer Großen Krise kommt es jedoch erst, wenn sich auch die kulturellen und ideologischen Ordnungsmuster, das polit-ökonomische Narrativ sowie die gesellschaftlichen Handlungsweisen substanziell wandeln“ (S. 435).
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist nach dem Vorwort in sechs jeweils untergliederte Hauptkapitel unterteilt, wobei der Autor sich methodisch an Marx hält und „‚vom Abstrakten zum Konkreten‘“ aufsteigt, d.h. zunächst den theoretischen Rahmen absteckt und sein Kategorienschema darlegt, um danach die Großen Krisen ab 1929 bis 2007 ff. ausführlich zu analysieren. Abschließend geht Steg der „höchst aktuellen Frage“ nach, „wie die jüngste Krise mit dem Erstarken nationalistischer Kräfte zusammenhängt“ (S. 8). Konzipiert ist das Buch insoweit als „breit angelegte Literaturstudie und integrative Analyse“ und „neben klassisch soziologischen und polit-ökonomischen Ansätzen werden theoretische Arbeiten der Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft analysiert“ (S. 23). Diesen Problemaufriss entfaltet Steg in seiner Einleitung, kreist forschungspraktische Relevanz und Erkenntnisinteresse ein und stellt ebenfalls seine zentralen Fragestellungen vor.
Im Kapitel Ein kompliziertes Paar: Demokratie und Kapitalismus, in dem sich seine abschließenden Einschätzungen vorbereitet finden, werden zunächst diese beiden „gesellschaftlichen Makrostrukturen“ (S. 24 pass.) vorgestellt und es wird untersucht, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen, was ohne Bezug auf den Staat schlechterdings nicht möglich sei. Kapitalismus ist als „gesellschaftsstrukturierendes System ökonomischer, sozialer und politischer Beziehungen“ definiert und Demokratie entspringe „stets dem Impuls, dass die politisch-soziale Ordnung, die politische Herrschaft und das Gemeinschaftsleben von Menschen gestaltbar und organisierbar sind“, da Demokratie „nicht nur eine genuin politische, sondern stets auch eine soziale und ökonomische Dimension“ enthalte (S. 157 f.). Beide dieser „Makrostrukturen“ besäßen, so Steg, „unverrückbare Grundprinzipien, elementare Funktionslogiken sowie zentrale Wesens- und Funktionsmerkmale“ und es „gibt Rückkoppelungseffekte zwischen Staat, Kapitalismus und Demokratie“, wobei eine „konfliktive und eine komplementäre Komponente“ existiere (S. 158 f.). Neuralgischer Punkt sei sozioökonomische Ungleichheit, und das „Ausmaß der Ungleichheit“ dann das „Resultat des historisch-spezifischen Verhältnisses zwischen Demokratie und Kapitalismus“ (S. 161).
Das Kapitel Krisenbegriff und Krisentheorie hebt wesentlich auf Krisen in modernen Gesellschaften, Krisentheorie und den Krisenbegriff von Marx und Gramsci sowie der Regulationsschule und Fragen der Transformation und Transformationskrisen ab, um Krisen als zentrale Faktoren für politischen und ökonomischen Wandel zu inspizieren und zugleich zu erklären, wodurch und wann sie zu Transformationskrisen werden können: Es müsse zu einem „Paradigmenwechsel im Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus und damit zu einem substanziellen Wandel von Form und Struktur der polit-ökonomischen Prozesslogik kommen, damit sich eine Krise zu einer Transformationskrise auswächst“ (S. 274). Erst einmal sind Krisen sich „zuspitzende Entscheidungsphasen“ (S. 247), deren Ausgang offen ist. Wenn Große Krisen, Wirtschaftskrisen, als „strukturell bedingte, nicht-intendierte Störungen und Stockungen des Akkumulations- und Kapitalverwertungsprozesses“ zu definieren sind und der möglichen Tendenz nach „Transformationskrisen“, dann können sie auf die „Ablösung des alten durch ein neues Entwicklungsmodell“ verweisen, wobei die „Prozessstruktur (…) den Grundwiderspruch zwischen Demokratie und Kapitalismus“ reflektiere (S. 248 f.).
Das Kapitel Polit-ökonomische Entwicklungsmodelle und Große Krisen: Eine historisch-soziologische Analyse ist dem liberalen, dem sozialliberalen und dem neoliberalen Entwicklungsmodell sowie den diesen Modellen zuzuordnenden Krisen gewidmet, als da sind die Great Depression, die Stagflationskrise und die letzte globale Finanz- und Wirtschaftskrise. Sie waren „Weichenstellungen und Knotenpunkte der polit-ökonomischen Entwicklung“ und Steg zeigt, „in welche Richtung sich in den Großen Krisen das Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus verändert hat“ (S. 251), wozu er vergleicht, um in Bezug auf das „neoliberale Entwicklungsmodell“ festzuhalten, dass es durch die „Subordination der Demokratie unter den Kapitalismus, die Unterordnung der demokratisch-gesellschaftlichen Bedürfnisse unter die kapitalistischen Bedürfnisse charakterisiert“ ist und daher rührend durch ein „hohes Ausmaß sozialer Ungleichheit durch eine besonders ausgeprägte Einkommens- und Vermögensungleichheit“ (S. 341 ff.). Davon und von den politischen Weichenstellungen würden „insbesondere Vermögende profitieren“ (354). Angesichts der letzten Krise hält der Autor prognostisch fest, „so lange die chronische Überakkumulation anhält, so lange die Ungleichheitsverhältnisse in diesem Zustand verharren, so lange ist eine erneute globale Finanz- und Wirtschaftskrise bzw. ein erneutes manifestes Ausbrechen der Krise weitaus wahrscheinlicher als das endgültige Überwinden der Großen Krise“ (S. 387).
Das Kapitel Zwischen Reproduktion und Transformation: Krisen als dialektische Doppelinstanz zielt darauf, ein „zeitgemäßes soziologisches Krisenverständnis zu (re-)formulieren“ (S. 25); thematisiert werden mögliche progressive Folgen von Krisen wie auch regressive, also Krisen als kontingente und komplexe Phänomene mit Stabilisierungs- wie Transformationseffekten und so in ihrer (doppelten) Dialektik zwischen Reproduktion und Transformation wie zwischen Regression und Progression, was der Autor in Unterkapiteln detailliert ausbuchstabiert. Auf der Folie seiner kritischen Darstellung dringt er zur Frage vor, ob wir uns auf der Schwelle von einem neoliberalen zu einem nationalistisch-neoliberalen Entwicklungsmodell befinden. Der Autor stellt fest, in „polit-ökonomischer Perspektive“ sei die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007 ff. „bislang keine Transformationskrise“, es habe sich bisher kein neuer „historischer Block“ herausgeschält, der „die Etablierung eines neuen Entwicklungsmodells forcieren konnte“, vielmehr sei der Liberalismus „zur Implementierung einer sich selbst regulierenden kapitalistischen Marktwirtschaft auch nach der Krise weiterhin dominant.“ Für eine „progressive Transformation“ bedürfe es eines deutlich spürbaren Problemdrucks und einer massenhaften kritischen Einstellung in der Bevölkerung, allerdings existiere solche „tragfähige und gesellschaftlich mehrheitsfähige Alternative zum Neoliberalismus“ gegenwärtig nicht (S. 419), da die „gesellschaftlichen Gegenkräfte (…) offensichtlich zu schwach (sind), zu disparat und zu fragmentiert, um ein neues hegemoniales polit-ökonomisches Entwicklungsparadigma zu entwickeln, das Teile der politischen und ökonomischen Machteliten integriert“, was ob deren „institutionelle(r) Macht“ notwendig für „transformativen Wandel“ sei (S. 423). Diese Eliten aber setzten zurzeit „auf ein Weiter-So“. Ein „Rechtsruck“ sei zu konstatieren, „sodass gegenwärtig ein Amalgam oder ein Hybrid aus Neoliberalismus und autoritärem Rechtspopulismus bzw. Nationalismus – verdichtet und zusammengefasst als nationalistisch-neoliberales bzw. neonational neoliberales Entwicklungsmodell – die wahrscheinlichste polit-ökonomische Entwicklungsoption für die nähere Zukunft zu sein scheint“ (S. 431).
Das Abschlusskapitel Theoretisch-konzeptionelles Fazit und Ausblick bündelt die Erkenntnisse und Einschätzungen, die Steg aus seiner historisch-soziologischen Analyse der Krisen des Kapitalismus auch für den Zweck gewonnen hat, „ein zeitgemäßes soziologisches Krisenverständnis zu (re-)formulieren“ (s.o.). Deutlich wäre auszuweisen, so Steg, dass moderne Gesellschaften „sich regelmäßig im Krisenmodus“ befinden (S. 434), die das ohnedies spannungsgeladene Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus strapazierten und eine Transformationsphase einläuten können oder könnten. Relevant wird nach Krisenausbruch das Kräfteverhältnis zwischen ökonomischen, politischen und sozialen, auch psychologischen und kulturellen, insofern diskursiven, medialen und ideologischen Einflussfaktoren, wobei Krisennarrativen besondere Bedeutung zukomme, sofern sich in ihnen Diskurse zu Diagnosen, Ursachen und Bewältigungsstrategien verdichten. Entscheidend sei das Kräfteverhältnis: „In Krisen und Transformationsprozessen gibt es keinen Automatismus und keine zwangsläufige Entwicklung. Transformativer Wandel erfordert eine aktive politische Strategie und Intervention“, wobei, so die Schlussfolgerung von Steg, die „Transformation eines Entwicklungsmodells“ nur erfolgt, „wenn nach einer Krise ein neues Entwicklungsmodell mit einer neuen polit-ökonomischen Prozesslogik politisch implementiert und institutionalisiert wird“, wozu es als Folge einer „Großen Krise“ aber nur komme, „wenn sich auch die kulturellen und ideologischen Ordnungsmuster, das polit-ökonomische Narrativ sowie die gesellschaftlichen Handlungsweisen substanziell wandeln.“ Insoweit schließt Steg hier an seine einleitende Skizze an.
Seine Analyse, so der Autor, zeige, dass eine „Bereitschaft zur grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Bewusstseins- und Praxisformen (…) zu steigen (scheint), wenn Erwartungen enttäuscht werden, etwa wenn die erwartete oder versprochene Verbesserung der Lebenslage nicht erfolgt, obwohl die ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen günstig sind“ (S. 435). Als „Inkubator progressiver Transformationen“ sei der „Druck von unten“ entscheidend, der so stark sein müsse, „dass eine weitere Fortsetzung des bisherigen polit-ökonomischen Entwicklungsmodus schlicht nicht mehr möglich ist und von einer gesellschaftlichen Mehrheit auch verhindert wird“ – „klassentheoretisch formuliert: Wenn die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nach einer Krise zu Gunsten der Linken bzw. der Arbeit ausschlagen, dann erfolgt eine Krisenlösung, die auf Ausweitung der demokratisch-gesellschaftlichen Logik und auf Begrenzung der Marktlogik ausgerichtet ist“ (S. 438). Zudem: Eine Krise muss auch als „Versagen des Staates wahrgenommen werden, damit sich Rolle und Funktion des Interventionsstaates wandeln“ (S. 373), und „Transformationen im Verhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus stellen sich nur ein, wenn sich die Kräfteverhältnisse zwischen demokratisch-gesellschaftlicher und kapitalistischer Logik verschieben“ (S. 436).
Diskussion
Zu kurz gegriffen wäre ein Resümee dem Tenor nach, Demokratie und Kapitalismus (in ihren gegenwärtigen Erscheinungsformen) müssten beide in Krisen Federn lassen, die nach immer nur auf Zeit ausgependelter Krise – so oder so – nachwachsen würden. Statthaft hingegen und ohne inquisitorischen Zungenschlag ist eine zu reklamierende Begriffsklärung, was unter Transformation und dann des Systems zu verstehen ist oder verstanden werden soll. Transformation, theoretisch wie praktisch gesehen, konnotiert anders von einer dann auch politisch ‚an die Wurzeln gehenden‘ Position her. Ob im Begriff des ‚transformativen Wandels‘ eine eher friedlich schiedliche Auseinandersetzung vor größeren Revolten oder gar revolutionären Kämpfen avisiert ist, ob ‚grundlegende Veränderungen‘ durch ‚Begrenzung der Marktlogik‘ zu erreichen sind, ist angesichts vergangener Transformationskrisen innerhalb bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften zu bezweifeln. Sicherlich war und ist der Ausgang nicht nur, aber wesentlich in den ‚Kräfteverhältnissen‘ zu suchen, von direkter, kultureller und struktureller Gewalt und Gegengewalt, wobei die Mittel jener Gegengewalt festgeschrieben und dadurch domestiziert sind. Das dürften sie auch erst einmal bleiben, entstünde infolge empfindlicher Krisenbeutelung eine Mehrheit in der Bevölkerung resp. ein „historischer Block“ (s.o.), der auf Forcierung eines „neuen Entwicklungsmodells“ (s.o.) drängte. Beobachtet man derzeit jedoch, wie aktuell etwa die sogenannten neoliberalen Anrufungen an die Subjekte durch ein psychohygienisches Gebot zumindest flankierender Resilienz ergänzt wird, ist auch das als eben auch Abwehr-Strategie auf einer noch sehr weit unten angesiedelten Prophylaxe zu interpretieren, als ideologisches Bollwerk gegen den gar nicht mehr ernstlich ins Kalkül gezogenen Eventualfall systemtranszendierender Krisenentgleisung – nächst „Fatalismus, Apathie und Resignation in der Gesellschaft“ (s.o), die Steg ins Feld führt. Und wo er oberhalb dieser Schwelle passiver Duldung einen „Rechtsruck“ aufkommen sieht und darin eine sozialpsychologische Tendenz ausmacht, ist man beide Male, was die Form der Subjektivität und die Tendenz zum Totalitarismus betrifft, an kritische Theorie à la Horkheimer und Adorno erinnert, was der Autor ausspart, sich dafür aber anleihend bei Streeck (vgl. u.a. auch S. 13, Anm. 6; S. 343, Anm. 170) gegenüber der geläufigen Argumentation Habermas’ zu System und Lebenswelt an der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie orientiert, wie sie auch Referenz der Kritischen Theorie war.
Steg stellt vor und diskutiert alle relevanten Punkte in der Entstehung und (immer vorläufigen) Bewältigung von Krisen und nimmt dabei selbstredend auch den Staat und seine Funktion(en) in den Blick, wie sie diskutiert wurden und werden. Auch das gehört in eine Diskussion über vergangene und womöglich resp. wahrscheinlich kommende Krisen und kann einem Mangel abhelfen, wie ihn der Autor mit Dörre benennt und wie er eben auch für eine kritische Soziologie gilt: „‚Offensichtlich verfügt die professionelle Soziologie gegenwärtig über keinen Krisenbegriff, der es ihr ermöglichen würde, die im Gange befindlichen Umbrüche zu deuten‘“ (zit. S. 10). Zu bescheiden ist der Autor, wenn er nur anzubieten meint, ein zeitgemäßes Krisenverständnis zu „(re-)formulieren“ (s.o.). Mit Nachdruck holt er die ökonomischen Ursachen von Krisen und ihre Auswirkungen ein und macht sie prominent. Damit löst er – in einem ersten und wesentlichen Ansatz – den Nebel um den Krisenbegriff auf. Seine Verweise auf ‚Wandel‘, gar auf ‚transformativen‘, und zwar beiderseitig von Kapitalismus und Demokratie, also der „Makrostrukturen“ (s.o.), bleiben jedoch diskussionswürdig: Der Kapitalismus schafft es seit ein paar Jahrhunderten die Produktivkraft zu steigern, zwar mit großen Opfern und immer im Sinne einer Indienstnahme für Werteverwertung, für Steigerung des Profits, was er dabei auch immer mitschleifte, war jener „fundamentale Widerspruch zwischen Gleichheit und Ungleichheit – zwischen der formellen politisch-rechtlichen Gleichheit, dem Anspruch auf gleiche Lebens- und Teilhabechancen“, die umkämpft waren und sind, die als „real existierende() sozioökonomische() Ungleichheit“ (S. 159 f.) weltweit fortdauern und sich verschärfen, letzten Endes auf dem Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital beruhend. Dabei erkennt Steg, dass „Freiheit und Gleichheit, genauer: auf der politischen bzw. wirtschaftlichen Freiheit und der formellen, politisch-juristischen Gleichheit, nicht aber auf der sozioökonomischen Gleichheit“ aufsatteln (ebd.). Dass Freiheit immer zugleich Unfreiheit in der bürgerlichen Gesellschaft ist und bedingt im Kapitalismus, darauf machen kritische PhilosophInnen aufmerksam und zeigen, dass diese Widersprüche nach den Modalitäten einer kapitalistischen Ökonomie, auch einer eingehegten nicht, nicht aus der Welt zu schaffen sind. Lebensnah geht es um Hunger und Armut, um Verelendung und weltweit desaströse, krisenhafte Entwicklungen katastrophalen Ausmaßes. Insoweit leitet der Autor in eine nicht nur für kritische Soziologie wegweisende Richtung, nämlich die ökonomische Bedingtheit resp. ‚kapitalistische Urschrift‘ aller und in allen Krisenerscheinungen (ironisierend, doch cum grano salis: von Beziehungskrisen bis Pandemien) aufzudecken und zugleich zu zeigen, wie solche nicht ursprünglich ökonomisch verursachten Krisen dann Bewältigungen nach gehabten strukturellen Bedingungen und somit neue Krisen verursachen. Das leitet zu einem anderen inhaltlichen Begriff von ‚Transformation‘ und zu Fragen praktischer Umsetzung, wohin auch der Autor kommt.
„Weiter-So“ (s.o.)? Da kommt man – immer mal wieder – ins Nachdenken: „Wir hoffen immer, und in allen Dingen/Ist besser hoffen als verzweifeln. Denn/Wer kann das Mögliche berechnen?“, heißt es in Goethes „Torquato Tasso“. Dort findet sich aber auch die Zeile: „Es ist gefährlich, wenn man allzu lang/Sich klug und mäßig zeigen muss.“ Hier geht es vordergründig um krisenhafte Hof- und Liebesverhältnisse, exemplarisch aber auch um eine letztendliche, nicht herzustellende Einheit von Geist und Tat. Über solche Problematik hinaus, die sich nicht erst, aber zugespitzt in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften stellt (und die eine Suche nach Parallelen in insbesondere Goethes „Faust“ und Marxens Werken anregte), verdichtet sich diese Problematik zu Fragen um ethische Grundsätze, um Moral und politischen Notwendigkeiten, die – so auch bei Steg – in Richtung praktischen Handelns beantwortet sein wollen. Die Theorie-Praxis-Debatte ist älteren Datums und flammt immer wieder erneut auf, wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse wie derzeit weltweit prekär bis bedrohlich werden, und sich wie bei Gramsci ein „‚Pessimismus des Verstandes, Optimismus des Willens‘“ (zit. S. 441) entwickelt. Da scheint zu Seiten emanzipatorisch agierender oppositioneller Bewegungen gleichsam ein notorischer Zweckoptimismus vonnöten, der angesichts einer Welt, die so wie sie ist, nicht sein soll, notwendig scheint, gerade in einer historischen Epoche oder Jetztzeit, die nur das Prozessieren kennt und Gegenwart und Zukunft in einen zirkulären Zusammenhang presst. Das scheint auch auf mit Blick auf nahe Zukunft „gefährlich“ im Sinne des Dichterwortes und sich „mäßig zeigen“ kann in falsche Versöhnung entraten. Auch das „Mögliche“ bleibt ein Problem.
Angesichts des Für und Wider in den Diskussionen um z.B. die sogenannte Vierte Industrielle Revolution und Industrie 4.0 wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz, ihren erwarteten Vorteil und sich im Hier und Jetzt mit Hoffnung auf Kompensation schon auswirkenden Nachteile, wird einerseits auf Vorteile aus Produktivkraftentwicklung gehofft und andererseits die nächste Krise erwartet, eine wirtschaftliche, die wahrscheinlich ist. Fragt sich, welches vielleicht längst überfällige „Entwicklungsmodell“ (s.o.) im Vorab einer solchen Entwicklung gegenübergestellt und gar jetzt schon realisierungsfähig ist. Fragt sich auch, welcher „historische Block“ (s.o.) da in die Bresche springt oder in die Entwicklung grätscht, wobei eine ‚Blutgrätsche‘ wenig Sympathisanten finden dürfte, zumindest in den Metropolen nicht. Dabei ist an Horkheimers Wort zu erinnern (der sich mit ähnlichen Bemerkungen den Vorwurf des ‚Reformormistischen‘ einhandelte), dessen Zutrauen in fortschrittliche Aktivitäten nicht umschlug, der aber nach den Erfahrungen mit Stalinismus und Nationalsozialismus für die Zukunft skeptischer wurde und eine Gefahr darin sah, „daß die Menschen, gerade wenn sie die gesellschaftlichen Tendenzen als überindividuelle, gesellschaftliche Tendenzen erkennen, sich vom Handeln überhaupt abhalten lassen. Ich glaube, es ist das Wichtigste, daß wir den Menschen klarmachen, daß dies nicht geschehen soll. Die gesellschaftlichen Tendenzen sind auch solche, die von einzelnen Menschen in letzter Linie getragen werden. Und wenn uns immer gesagt wird bei allem Tun: ‚Ja, ihr könnt aber den Gang der Welt nicht ändern‘, dann sollen wir antworten: ‚Vielleicht können wir den Gang der Welt nicht ändern, aber wir können jedenfalls das tun, was uns als Einzelnen möglich ist.‘ Und wenn dieses Tun, diese Einstellung, einmal exemplarisch geworden ist, dann werden sich auch die gesellschaftlichen Tendenzen ändern, denn sie sind in Wahrheit nichts Übermenschliches, sondern etwas Menschliches.“ So weit weg von dem, worauf Steg mit seinem Begriff der „Progression“ (s.o.) hofft, ist das nicht. – Das „Mögliche berechnen“ ist für politische Praxis äußerst schwierig und allemal ist „besser hoffen als verzweifeln“ und „gefährlich“ scheint inzwischen doch recht deutlich, sich nur „klug und mäßig“ zu zeigen (s.o.) und nicht gegen das „Weiter-So“ zumindest ein unmissverständliches ‚So-Nicht-Weiter‘ zu halten: Theoretisch gewappnet muss man sich zielorientiert entscheiden.
Fazit
Mit „Krisen des Kapitalismus“ legt Steg eine interdisziplinär angelegte „historisch-soziologische Analyse“ vor, wie im Titel versprochen. Der Autor greift auf einen bemerkenswert großen Umfang an Material zurück, was er in seine Thematik und seine Fragestellungen argumentativ ausgewogen einzuflechten versteht und durchweg kritisch aufnimmt. Was das Problem ist und welche Fragen aufzugreifen bzw. aufzuwerfen sind, darüber gibt er gleich im Vorwort und in der Einleitung sehr klar Auskunft. Sicherlich ist das Buch allen Soziologiestudent*innen zu empfehlen, doch auch all jenen, die mehr über die jüngeren Krisen-Zeiten und darüber erfahren möchten, wie die gegenwärtige Situation einzuschätzen ist. Gerade das letzte Kapitel, Fazit und Ausblick, bietet Anlass und Stoff für politische Diskussionen.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 28.05.2020 zu:
Joris Alexander Steg: Krisen des Kapitalismus. Eine historisch-soziologische Analyse. Campus Verlag
(Frankfurt) 2019.
ISBN 978-3-593-51149-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25900.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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