Silke Birgitta Gahleitner, Katharina Gerlich et al.: Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Frauen aus Gewaltverhältnissen
Rezensiert von Prof. Gabriella Schmid, 22.09.2020
Silke Birgitta Gahleitner, Katharina Gerlich, Roshan Heiler, Heidemarie Hinterwallner, Martha Schneider et al.: Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Frauen aus Gewaltverhältnissen. Ergebnisse aus einer Studie zum Thema Menschenhandel mit dem Zweck sexueller Ausbeutung.
Asanger Verlag
(Kröning) 2018.
217 Seiten.
ISBN 978-3-89334-626-4.
D: 29,50 EUR,
A: 30,40 EUR.
Völschow, Yvette .
Thema
Aus der subjektiven Perspektive Betroffener von Frauenhandel mit dem Zweck sexueller Ausbeutung sowie den Erfahrungen verschiedener Expertinnen und Experten, werden im vorliegenden Fachbuch traumatische Erfahrungen benannt und Herausforderungen in der professionellen Unterstützung auf dem Weg aus den Gewaltsystemen identifiziert. Deren Ziel ist es, das Gewaltsystem durchbrechen zu helfen, den Betroffenen alternative Beziehungen zu ermöglichen und ihnen wirksame Hilfe bei der Wiedererlangung von Sicherheit und Würde und der Überwindung von traumatischen Erfahrungen zu leisten.
HerausgeberInnen
- Silke Brigitta Gahleitner ist Professorin für Klinische Psychologie und Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin für den Arbeitsbereich Psychosoziale Diagnostik und Intervention. Sie ist einer breiten Fachöffentlichkeit bekannt durch zahlreiche Publikationen zum Thema Trauma und Traumapädagogik.
- Katharina Gerlich ist promovierte Soziologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität in Krems.
- Roshan Heiler ist Diplom Regionalwissenschaftlerin Lateinamerika und Leiterin der SOLWODI Beratungsstelle für Betroffene von Menschenhandel in der Prostitution in Aachen.
- Heidemarie Hinterwallner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit an der Donau-Universität in Krems.
- Martha Schneider ist Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Donau-Universität Krems.
- Yvette Völschow ist Professorinfür Sozial- und Erziehungswissenschaften an der Universität Vechta, Soziale Arbeit
Entstehungshintergrund
Grundlage für das vorliegende Fachbuch bildet ein deutsch-österreichisches Forschungsprojekt zum Thema Frauenhandel mit dem Zweck sexueller Ausbeutung als Teilgebiet des Menschenhandels. Aus den Ergebnissen dieser Studie wurden Aufmerksamkeitslinien entwickelt, die sich auf der Basis der Aussagen von 30 Befragten für eine beraterische und polizeiliche Arbeit im Frauenhandel als hilfreich für einen Ausstieg aus dem Gewaltsystem erwiesen haben. Sowohl in Österreich als auch in Deutschland konnte im Laufe des Projektes offenbar erreicht werden, dass innerhalb des Polizeiapparates und auch für psychosoziale Fachkräfte Fortbildungsveranstaltungen zum Thema Menschenhandel zur weiteren Sensibilisierung und Kompetenzerweiterung der Fachkräfte zur Verfügung gestellt werden konnten. Ziel des Buches ist demnach auch die Vermittlung von spezifischem Fachwissen sowie hilfreichen Anregungen für Professionelle, die im Bereich Frauenhandel tätig sind.
Aufbau und Inhalt
In den ersten beiden Kapiteln des Fachbuches wird auf das Phänomen des Menschen- bzw. Frauenhandels eingegangen und dieses theoretisch erläutert. Es werden Formen, Betroffene, Ursachen, Art der Rekrutierung, Strukturen und auch Folgeerscheinungen kurz und prägnant dargelegt, ergänzt durch einen kurzen Exkurs zur aktuellen und äusserst kontrovers geführten Prostitutionsdebatte.
Im dritten Kapitel wird auf Leitmotive, Ziele und auf den Prozess der Beratungsarbeit der Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel eingegangen. Diese sind überregional in der Vereinigung KOK (Koordinierungskreis gegen Menschenhandel) vernetzt und haben sich gemeinsamen Qualitätskriterien unterworfen. In Kapitel vier wird das methodische Vorgehen der Studie erläutert, wobei deutlich wird, dass neben den problemzentrierten Interviews mit 30 Betroffenen von Frauenhandel ergänzend auch Interviews und Gruppendiskussionen mit 20 ExpertInnen durchgeführt und ausgewertet worden sind.
Daraufhin werden im nächsten Kapitel insgesamt acht Falldarstellungen mit vielen Originalzitaten dargestellt, wobei neben den jeweiligen biografischen Hintergründe auch jedes Mal die Wege in das Gewaltsystem, das Leben in den Gewaltstrukturen sowie die Wege daraus hinaus, gefolgt von einem Rück- und Ausblick, beleuchtet werden.
Das 6. Kapitel fasst diese Ergebnisse in einer vergleichenden Systematisierung zusammen und arbeitet die wesentlichen Erkenntnisse heraus. Kapitel sieben stellt die Ergebnisse aus den Einzelinterviews und Gruppendiskussionen mit den ExpertInnen anhand folgender Faktoren dar: Anbahnung der professionellen Unterstützung, zentrale Kernkompetenzen in der Arbeit mit den betroffenen Frauen, weitere Angebote der Organisationen, Bedeutung der Netzwerkarbeit, Kernaspekte der Polizeiarbeit und Stellenwert der eigenen Psychohygiene für die Fachkräfte. Abgeschlossen wird dieses Kapitel mit einer kurzen Systemkritik, die sich hauptsächlich auf die fehlende Sicherheit für Betroffene, die stets drohende Abschiebung, aber auch die unbefriedigenden gesetzlichen Rahmenbedingungen bezieht.
Im achten Kapitel werden die gesamten Ergebnisse anhand von fünf Thesen diskutiert, die Ursachen von Frauenhandel für komplexe Traumatisierungen beleuchtet sowie die Bedeutung von Vertrauensarbeit als Eingangsvoraussetzung für die Arbeit mit Betroffenen betont. Entsprechend werden Bindungs- und Traumasensibilität als grundlegende Kernkompetenzen von Fachkräften im Beratungsprozess herausgestrichen und auch eingefordert. Das Buch endet im letzten Kapitel mit einem Modell für die Diagnostik und Beratung traumabetroffener Frauen aus dem Menschenhandel als eigentlichem Resumee.
Diskussion
Das vorliegende Fachbuch greift ein sehr aktuelles und wichtiges Thema auf, das von der Politik, der Öffentlichkeit und sicher auch von vielen Fachleuten nach wie vor gern ausgeblendet wird. Menschenhandel, und speziell Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung als einer modernen Form der Sklaverei mitten in unserer Gesellschaft, löst Emotionen wie Abscheu, Wut aber auch Ohnmacht und Hilflosigkeit aus, und es ist nicht einfach, sich damit auseinander zu setzen. Auch für Fachleute, die sich schon länger mit Gewalt gegen Frauen und ihren Folgen auseinandersetzen, ist dieses Buch buchstäblich eine „harte Kost“, gibt es doch anhand der acht Einzelfalldarstellungen mit den vielen wörtlichen Zitaten einen vertieften und manchmal schwer auszuhaltenden Einblick in die schonungslose Realität dieser Betroffenen. Vor allem die Beschreibung der jeweiligen Wege in das Gewaltsystem – die bereits in den meisten Fällen geprägt sind von Missbrauch, Ausbeutung und Ungerechtigkeit – und des schwer erträglichen Lebens innerhalb der Gewaltstrukturen, der traumatisierenden Erfahrungen und fehlenden Perspektiven, ist als Leserin manchmal kaum auszuhalten und verlangt immer wieder nach Distanznahme, sodass das Buch nur in Etappen gelesen werden kann. Die vielen wörtlichen Zitate der Frauen in oft gebrochenem Deutsch wirken dabei sehr authentisch und anschaulich, stellen aber auch einen hohen Anspruch an die Geduld und die Aufmerksamkeit der Lesenden. Eingebettet und sinnvoll gerahmt werden diese persönlichen Erfahrungen der Betroffenen durch theoretische Ausführungen zu den Phänomenen Menschenhandel an sich und Frauenhandel im Besonderen und zur psycho-sozialen Beratung und Begleitung von vielfach komplex traumatisierten Betroffenen. Einiges davon lässt sich übertragen auf die generelle psycho-soziale Arbeit mit traumatisierten Menschen, anderes ist sehr spezifisch ausgerichtet auf diese „Hard-to-reach-Klientel“, wo dem Erstkontakt und dem Aufbau von Vertrauen als Eingangsvoraussetzung zur weiteren professionellen Unterstützung der Betroffenen eine noch stärkere Bedeutung zukommt als vielleicht in anderen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Durch die Erfahrungen von Gewalt, Ausbeutung und Abhängigkeit im System der Zwangsprostitution, gepaart mit Rechtlosigkeit in Bezug auf einen legalen Aufenthaltsstatus und gesellschaftlicher Stigmatisierung, bilden Misstrauen und Angst bei den meisten Betroffenen grosse und fast unüberwindbare Hindernisse auf dem Weg der Hilfesuche aus dem Gewaltsystem. Einer empathischen, parteilichen und trauma-sensiblen professionellen Beratung kommt dabei, aber auch im Hinblick auf „korrigierende emotionale Erfahrungen“ (Alexander & French, 1946), eine entscheidende Bedeutung zu. Das am Schluss des Buches vorgestellte differenzierte Modell für die Diagnostik und Beratung traumabetroffener Frauen aus dem Menschenhandel kann dabei entscheidende Hinweise für ein angemessenes Fallverstehen sowie für die Planung eines interdisziplinären, mehrdimensionalen und ganzheitlichen Vorgehens in der Begleitung von Betroffenen generieren. Dabei muss die Herstellung von umfassender Sicherheit für die Betroffenen die grundlegende erste Voraussetzung für alle weiteren Schritte der psychosozialen Intervention bilden, wie das bei allen traumatisierten Menschen notwendig ist. Die behutsam eingesetzten Erkenntnisse aus der Diagnostik können in der psycho-sozialen Beratung mithelfen, das Ziel, ein Mehr an Handlungskompetenz, Selbstkontrolle und Selbstwirksamkeit für die Frauen erreichbar zu machen und konkrete Selbstheilungsmöglichkeiten und neue Perspektiven entwickeln zu können.
Fazit
Das vorliegende Buch, das von Gewalt, Abhängigkeit und Perspektivenlosigkeit geprägte Erfahrungen von Betroffenen aus dem Frauenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung eindrücklich und sehr anschaulich widergibt, kann Professionellen aus dem psycho-sozialen Bereich, und besonders jenen, welche in diesem Feld tätig sind, aber auch Personen in politischer Verantwortung wärmstens empfohlen werden. Durch die theoretischen Ausführungen zu Menschen- und Frauenhandel, aber vor allem auch durch die authentischen und eindrücklichen Schilderungen der betroffenen Frauen selbst, wird dieses komplexe und brutale Phänomen inmitten unserer Gesellschaft, welches gern ausgeblendet wird, auf bedrückende Weise sicht- und wahrnehmbar. Dabei bleibt es aber nicht bei einer Anklage von unhaltbaren Zuständen stecken, sondern zeigt behutsam und engagiert wesentliche Voraussetzungen, professionelle Kompetenzen in der Beratung von Betroffenen und notwendige gesellschaftliche Rahmenbedingungen auf, durch welche diese Frauen erfolgreich einen Ausstieg aus den Gewaltsystemen schaffen und nachhaltig ein neues Leben aufbauen können.
Rezension von
Prof. Gabriella Schmid
Soziologin lic phil. I, Dozentin OST, Ostschweizer Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit, St. Gallen
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Es gibt 3 Rezensionen von Gabriella Schmid.
Zitiervorschlag
Gabriella Schmid. Rezension vom 22.09.2020 zu:
Silke Birgitta Gahleitner, Katharina Gerlich, Roshan Heiler, Heidemarie Hinterwallner, Martha Schneider et al.: Psychosoziale Arbeit mit traumatisierten Frauen aus Gewaltverhältnissen. Ergebnisse aus einer Studie zum Thema Menschenhandel mit dem Zweck sexueller Ausbeutung. Asanger Verlag
(Kröning) 2018.
ISBN 978-3-89334-626-4.
Völschow, Yvette .
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25906.php, Datum des Zugriffs 06.12.2024.
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