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Gerhard Gnauck: Polen verstehen

Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 15.11.2019

Cover Gerhard Gnauck: Polen verstehen ISBN 978-3-608-96296-3

Gerhard Gnauck: Polen verstehen. Geschichte, Politik, Gesellschaft. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2018. 318 Seiten. ISBN 978-3-608-96296-3. D: 9,95 EUR, A: 10,30 EUR.

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Thema

Polen ist ein strategisch positioniertes Land im Zentrum Europas. Um die polnische Seele zu verstehen, muss man u.a. Frédéric Chopins (1810-1849) Musikwerke, z.B. seine Nocturne im Łazienki-Park, einer Parkanlage in Warschau, erleben. Die Werke des großen polnischen Schriftstellers Adam Mickiewicz (1798-1855) zeigen die polnische Sprache in ihrer Blüte, z.B. sein Roman „Pan Tadeus“ (deutsch: Herr Tadeusch). Maria Skłodowska Kiri (1867-1934) erhielt einen Nobelpreis in Physik und ist damit der Stolz der Polen. Der gebürtige Pole Papst Johannes Paul II (1920–2005) hat stark dazu beigetragen, dass Polen zu einem freien Land wurde, dass Polen und Deutschland freundschaftlich und partnerschaftlich miteinander leben können.

Autor

Gerhard Gnauck, geboren 1964, ging 1999 als Korrespondent für die »Welt« nach Polen.

Gliederung

In seinem Werk antwortet Gnauck in 10 Kapiteln und einem umfangreichen Anhang auf eine Reihe von Fragen:

  • Wie ist Polen als Staat entstanden?
  • Welche historische Wahrheiten müssen erörtert werden?
  • Gibt es undemokratische Entwicklungen in Polen?
  • Was zeichnet Polen politisch aus?
  • Woher kommt der negativ besetzte Begriff „Polnische Wirtschaft“?
  • Warum müssen Deutsche und Polen für eine gemeinsame Zukunft kämpfen?

Inhalte

In den einzelnen Kapiteln geht es um folgende Inhalte:

„Von Freiheitskämpfern zu Kleinhändlern“

Für Deutsche sind Polen „mental“ andere Menschen. Eine deutsche Journalistin schrieb: „Wir suchten bei unseren östlichen Nachbarn diese Leichtigkeit, Spontaneität und Herzlichkeit, diesen Geist des Widerstands und der Aufopferung, den wir an unseren Landsleuten, die im Geist des Rationalismus, des Kalküls und der Effizienz erzogen waren, so schmerzlich vermissten. Bei uns entscheiden über Anerkennung (eines) Menschen sein Einkommen und seine berufliche Stellung, in Polen dagegen sein Mut und seine Unbeugsamkeit“ (S. 10). Dieses Polenbild war aber nur von kurzer Dauer. Nach dem Zerfall des Kommunismus und des Ostblock wurde Polen demokratisch. Dabei passierte in der Wahrnehmung Polens aus deutscher Sicht etwas Überraschendes: „Ein Polen, das nicht mehr leidet, ist uns innerlich fremd geworden“ (S. 11). Polen hat sich schnell verändert: Aus Freiheitskämpfern wurden europaweite „Kleinhändler“. Zudem wurde Polen 1999 NATO-Mitglied und 2014 EU-Mitglied. Nachdem Jarosław Kaczyński in Polen an die Macht kam (2005 und 2015), verschlechterte sich das Verhältnis Deutschlands zu Polen (vgl. S. 14). Gnauck stellte fest: „Es knirscht also zwischen beiden Ländern. Das hat mit deutlichen Unterscheiden in den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen zu tun, aber auch, was die deutsche Seite betrifft, mit mangelnder Einfühlung in die Geschichte des Nachbarlandes“(S. 17).

Zur deutschen Migrationspolitik konstatiert Gnauck Folgendes: „Wir beobachten in Europa ein sehr seltenes historisches Ereignis: Eine Region verteidigt ihre Außengrenzen nicht, sondern öffnet sie stattdessen. Das hat es seit einigen tausend Jahren nicht mehr gegeben. (…) Ein solch historischer Vorgang wie diese Flüchtlingswelle hat Auswirkungen auf Gesellschaften“ (S. 21).

Polen hatte eine eigne Meinung zur Migrationspolitik, Mehrheitsgesellschaft und Machtverteilung. Bereits Parteichef Gomułka (1956-1970 erster Sekretär der PZPR) postulierte, einmal, eroberte Macht sei nie wieder herzugeben (vgl. S. 23).

„Auferstanden aus Ruinen“

Im Unterkapitel „Hoffen auf den großen Krieg der Völker“ ist zu lesen: „Um den allgemeinen Krieg für die Freiheit der Völker bitten wir dich, Herr“ (S. 24). Es sind Worte des größten polnischen Schriftstellers Adam Mickiewicz, die er 1832 schrieb als Aufruf gegen die russische Besatzungsmacht. Seine Worte fanden Erfüllung erst 1918 nach der Neugründung des polnischen Staates.

Jozef Piłsudski (1867-1935) war Sozialist und ab 1918 Präsident. Ihm ging es um die Sicherung der Unabhängigkeit Polens. Folglich sah Piłsudski Russland als größte Gefahr für Polen (vgl. S. 37). Bei der Friedenskonferenz 1919 in Versailles wurden bis dahin deutsche Gebiete in der Größe von 43 000 Qudratkilometern Polen zugestanden. Die drei Schlesischen Aufstände ab 1919 brachten bewaffnete Grenz-Kämpfe zwischen Deutschen und Polen. Erst die Alliierten (Franzosen, Briten und Italiener) erreichten ein Ende der Kämpfe (vgl. S. 41). 1919 kämpfte Polen außerdem gegen die Ukraine, u.a. um die Stadt Lemberg und um die Gebiete des ehemals österreichischen Galiziens (vgl. S. 43). Dem folgten Kämpfe gegen die Rotarmee, die mit dem Friedensvertrag von Riga endeten. Polen bescherten sie feste Staatsgrenzen auch im Osten.

„Demokratie – der erste Versuch (Die Zweite Republik)“

1918 gilt als Jahr des Wiedergeburts des polnischen Staates. Zu Beginn in der Gründungsphase erforderte es große Anstrengungen, Staatsverwaltung, Bodenreform, Behörden und soziopolitischen Infrastruktur u.a. zu organisieren. Das Privateigentum wurde geschützt. Die römisch-katholische Kirche bekam in Polen eine privilegierte Rolle. Das vorläufige Grundgesetz von 1921 wurde 1935 durch die erste polnische Verfassung abgelöst. Eine wichtige Aufgabe wurde für Polen die Minderheitspolitik. Ukrainer bildeten die größte Minderheit, dieser folgten Juden und Deutsche. 1921 lebten in Polen (hauptsächlich im von Deutschland abgetretenen Posen-Westpreusen) bis zu 1,3 Millionen Deutsche (vgl. S. 57). Piłsudski hatte zu den Minderheiten in Polen ein pragmatisches und sogar wohlwollendes Verhältnis (er war selbst in Weißrussland geboren). 1926, während politischer Unruhen riss Piłsudski mit Hilfe der Armee die Macht im Staate an sich. Durch diesen Putsch machte er sich quasi zum Diktator. Nach Piłsudski Tod kam es erneut zu politischen Unruhen, in denen Tausende ohne Gerichtsurteil inhaftiert wurden. Außenpolitisch dominierten weitgehende Expansionbestrebungen: U.a. versuchte Polen 1933 vergeblich, Frankreichs Rückendeckung für die Annexion der seit dem Versailler Vertrag Freien Stadt Danzig zu gewinnen, nachdem die polnische Minderheit mit Polens Hilfe Großdemonstrationen organisiert hatte (vgl. S. 71).

„Das Inferno“

Piłsudski hatte schon 1933 ein präventives Vorgehen gegen Hitler der die Revision des Versailler Vertrages forderte, erwogen. Die polnische Politik handelte kurz vor Kriegsausbruch keineswegs klug und vorausschauend (vgl. S. 75). Eine unglückliche Rolle spielte dabei der polnische Außenminister Jozef Beck. Andererseits gab es auch friedliche Bestrebungen: „Der gegenseitige Nichtangriffsvertrag Polens mit der Sowjetunion und die mit Deutschland geschlossene Nichtangriffserklärung hatten die Lage im Osten Europas für einige Zeit beruhigt. Berlins wiederholte Versuche, die Polen als Verbündete gegen die Sowjetunion zu gewinnen, wurden von Warschau (aber) immer wieder abgelehnt“ (S. 75). Allerdings lehnte Polen auch die Sowjetunion als Verbündeten gegen Deutschland ab, sodass sich die beiden Diktatoren in Deutschland und der Sowjetunion schließlich auf Kosten Polens einigten. Angesichts der drohenden Gefahr eines Krieges zwischen Deutschland und Polen (mit dessen Verbündete Frankreich und England) unterzeichneten die Außenminister Deutschlands und der Sowjetunion im August 1939 in Moskau in Anwesenheit Stalins einen Nichtangriffsvertrag. Das Wesentliche dieses Vertrages stand jedoch im geheimgehaltenen Zusatzprotokoll: „Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staate gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen, und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden. In jedem Falle werden beide Regierungen diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen“ (S. 79). Am 1. September 1939 begann der II-Weltkrieg mit dem Angriff auf Polen. Die militärische Überlegenheit der deutschen Verbände war eindeutig. Erst kurz vor der Kapitulation lies Stalin rund eine halbe Million Rotarmisten in Polen bis zur verabredeten Demarkationslinie einmarschieren, zur bösen Überraschung Polens und seiner westlichen Verbündeten (vgl. S. 80).

Die Beistands-Zusagen der Franzosen und Briten ließen auf sich warten. Polen wurde besiegt und besetzt (vgl. S. 82). Die Rotarmee betrieb ab 1939 ihre eigene Polen-Politik. 1943 wurden in Katyn (Westrussland) die Leichen von 4400 polnischen Offizieren entdeckt (vgl. S. 85), die von den Sowjets umgebracht worden waren. Im weißrussischen Minsk „(…) darf am vermuteten Ort bis heute nicht nach den Opfern gegraben werden“ (S. 85). Deutschland besetzte seinen Teil Polens innerhalb von zwei Wochen. Schon im April 1940 wurde das Konzentrationslager Auschwitz errichtet. Die Einrichtung der Ghettos ab 1942 mobilisierte den Widerstand in Polen gegen die deutschen Besatzer. Am 19.April 1943 begann der Aufstand im Warschauer Ghetto. Warschau hatte vor dem Krieg 1, 3 Millionen Einwohner. Am Ende des Aufstands lebten davon nur noch 350 000 (vgl. S. 101). Außerhalb ihres Territoriums kämpften Polen zu Hunderttausenden in fremden Uniformen gegen Deutschland, z.B. in Italien, Frankreich und England und der Sowjetunion. Das militärische Engagement Polens im Krieg nutzte dem Land wenig; 1945 zur ersten UN-Konferenz wurde keine Delegation aus Polen eingeladen. Die Sowjetunion dagegen wurde von den Mächten als Gast bei der UN ausdrücklich begrüßt, obwohl sie an der Zerschlagung und Entrechtung Polens ebenso beteiligt war (vgl. S. 107). Im Jahr 1947 wurde bekannt, dass sich die polnischen Opfer auf rund 6 Millionen Tote (darunter eine hohe Zahl polnischer Juden) beliefen (vgl. S. 107 f.).

„Befreit und doch nicht frei“

Der Warschauer Dichter Miron Białoszewski schrieb einmal mindestens fünf Jahre lang nach Kriegende habe in der Hauptstand noch der Brandgeruch in der Luft gehangen (vgl. S. 110). Polen hat im Kriege sehr gelitten. Dem folgte die Vertreibung der autochthonen (dt.) Bevölkerung: „Die unheilvolle Logik dieser Grenzverschiebungen zog fast zwingend eine ethnische 'Flurbereinigung' nach sich, mit anderen Worten: die Aussiedlung beziehungsweise Vertreibung ganzer polnischer und deutscher Provinzen“ (S. 110). Bis Ende 1946 mussten „(…) 1, 3 Millionen Polen und Juden ihre Heimat in den einstigen polnischen Ostgebieten verlassen (…)“ (S. 114–115). Bis Ende 1949 kehrten „ (…) 266 000 Polen aus ferneren Gebieten der Sowjetunion, großteils Deportierte der Kriegsjahre“ zurück (S. 115). 1947 begann eine letzte Vertreibung als „(… )140 000 Ukrainer aus dem Gebirgsvorland im Südosten in die fast menschenleeren, ehemals deutschen Gebiete verpflanzt wurden“ (S. 115). Des weiteren fehlten am Ende der Vertreibungen „ … auf dem Gebiet des neuen polnischen Staates acht bis neun Millionen Deutsche, während aus dem Osten nur etwa 2, 1 Millionen Polen gekommen waren. So mussten für Schlesien, Pommern, Ostpreußen und Danzig weitere Neusiedler gewonnen werden. Etwa eine Millionen kam aus den bisherigen zentralen Landesteilen. Gut eine Million deutsche Staatsbürger hatte außerdem in den ehemals deutschen Ostgebieten und jetzt polnischen Westgebieten ausgeharrt vor allem Oberschlesier, Masuren und Ermländer“ (vgl. S. 115–116), traditionell Katholiken. Deren Dialekte und Kultur ließen sich als 'slawisch'- deutsch definieren, was die Behauptungen Polens, alte polnische Siedlungsgebiete 'wiedergewonnen' zu haben, wirkungsvoll unterstrich. Die Kommunisten versprachen der Bevölkerung ein besseres Leben. Sie beherrschten die Schlüsselpositionen des Staates und mussten jetzt das wirtschaftliche und politische Leben neu organisieren: „Die Lokomotive des Kommunismus fuhr unter Volldampf – nicht zuletzt auf Wunsch des sowjetischen Hegemons (…)“ (S. 120). Daneben wurde die Kirche in Polen zum Machtfaktor: „Die römisch-katholische Kirche war, da ihr nach Holocaust, Grenzverschiebungen und Vertreibungen nunmehr etwa 95 Prozent der Bürger angehörten, für das Land wohl noch wichtiger als vor dem Krieg“ (S. 132). Kardinał Wyszyński wurde verhaftet, weil er sich den Kommunisten widersetzte. So begann dann in Polen eine „kirchliche Opposition“ gegen den Kommunismus.

„Eine fröhliche Baracke im Lager“

1956 begann mit der Rede des sowjetischen Parteichefs, Nikita Chruschtschow und der Abrechnung mit Stalin der politische Wandel im Ostblock. Zur gleichen Zeit starb Bierut, Parteisekretär der PZPR (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei). Bierut war ein Verfechter der Politik Stalins. Gomułka wurde erneut als Parteichef berufen und war seinerzeit (1956) populär wie kaum ein anderer Politiker in Polen. Folglich erlaubten die Kommunisten Polen, mehr Kirchen zu bauen. So entstand ein unausgesprochener „(…) Konflikt der Autoritäten“: Kirche versus Kommunismus. Die Kirche in Polen hatte die Friedensinitiative ergriffen; sie war die eigentliche geistige Führung. In der Wirtschaft, und zwar in der Planwirtschaft, hatte dagegen die Partei das Sagen; was daraus wurde, wissen wir allzu genau; leere Lebensmittelgeschäfte, Armut und Tristesse und allgemeiner Niedergang (vgl. S. 152).

„Die wunderbaren Jahre“

Am 18. Oktober 1978 wurde ein Pole zum Papst gewählt. Parteichef Edward Gierek (Erster Parteisekretär 1970–1980) sagte aus diesem Anlass, es sei ein großartiges Ereignis für das polnische Volk und große Komplikationen „für uns“; damit meinte er die Partei (vgl. S. 166). Dass der Pole Karol Wojtyła zum Oberhaupt der Weltkirche gewählt wurde, löste politische Ängste in Ost-Berlin und Moskau aus (vgl. S. 167). Papstreisen nach Polen erzeugten bei den Gläubigen eine Welle der Euphorie, bei den Politikern dagegen existenzielle Ängste und Ohnmacht (vgl. S. 167). In Polen waren es die Werftarbeiter, die seit 1970(Danzig) machtvoll gegen das politische System protestierten (vgl. S. 1970 f.). Die Entstehung der Gewerkschaft „Solidarność“ und die starke Ausstrahlung des Papstes läuteten das Ende des Kommunismus in Polen ein. General Jaruzelski übernahm im Februar 1981 das Amt des Ministerpräsidenten und verhängte am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht über Polen. In der Folge wurden zahlreiche Oppositionelle in Internierungslagern festgehalten: „Vielen internierten oder inhaftierten Oppositionellen machte die Regierung ein Angebot, das man schlecht ablehnen konnte: die Freilassung, wenn sie anschließend das Land für immer in Richtung Westen verlassen würden. Stellvertretend für viele schrieb der Bürgerrechtler Adam Michnik aus dem Gefängnis einen offenen Brief an den Innenminister, Generał Kiszczak, mit welchem er das Angebot ablehnte: „Er werde sich trotz seines bevorstehenden Prozesses nicht vom 'kapitalistischen Luxus' korrumpieren lassen, denn er habe den Glauben an ein 'demokratisches und freies Polen' nicht aufgegeben“ (S. 181).

1986 wurde Gorbatschow zum Parteichef gewählt. Mit seiner Perestrojka bewirkte er den Zerfall der Sowjetunion und schließlich des gesamten Ostblocks.

„Demokratie – der zweite Versuch (Die Dritte Republik)“

Gnauck schreibt: „Mit dem Jahr 1989 begann für Polen die beste Zeit in seiner Geschichte seit einem Vierteljahrtausend. Der Bann, zwischen zwei feindlichen Mächten eingekeilt oder sogar unfreiwillig Teil eines solchen Machtblocks zu sein, war gebrochen“ (S. 192). 1988 kam Gorbatschow nach Polen und wurde von der Bevölkerung freundlich empfangen. Die Reformen in den beiden Ländern, widersprachen sich nicht, sondern wurden im Sinne des Machbaren durchgeführt. Rakowski, der letzte Parteichef Polens, sagte 1990: „Es ist die sehr merkwürdige Situation entstanden, dass wir uns selbst nicht mögen. Diese Partei, die jetzt bereits ehemalige Partei, mögen wir nicht mehr. Aber man würde doch gerne mit erhobenem Haupte gehen“ (S. 194–195). Noch vor der Wiedervereinigung Deutschlands verhandelten der neue polnische Ministerpräsident Mazowiecki und Bundeskanzler Kohl über den Grenzvertrag zwischen Deutschland und Polen über die seit 1945 offene Frage der deutschen Ostgebiete (de facto polnische Westgebiete). Erst nach der Zusage, das wiedervereinigte Deutschland werde die Westgrenze Polens anerkennen, war sich die polnische Seite beruhigt (vgl. S. 197 f.).

Es ist festzuhalten: „Die deutsche Vereinigung bereitete in Moskau bis zuletzt Kopfschmerzen – ebenso wie in Warschau die Frage der endgültigen Grenzregelung“ (S. 200). Zugleich begann Polen im Jahr 1989 mit Wirtschaftsreformen; Leszek Balcerowicz, Ökonom mit Erfahrungen im Westen, wollte wichtige Wirtschaftsbereiche privatisieren. Nach dem Triumph der „Solidarność “ – Bewegung wurde Lech Wałęsa Staatspräsident. 1995 gab es in Polen politische Turbulenzen um die Macht; zugleich erlebte Polen eine sehr hohe Inflation. In dieser Situation wurde der Ex-Kommunist Kwaśniewski wurde 1995 zum Präsidenten gewählt und konnte sich sogar bis 2005 halten. In seiner Amtszeit trat Polen der NATO bei und 2004 der EU bei.

„Smolensk und die zweite Kaczyński-Zeit“

Lech Kaczyński (PiS) war 2005 zum Präsidenten gewählt worden und starb am 10.4.10 tragisch bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Smolensk (Russland). Vergleiche zwischen Katyn (1940) und Smolensk werden bis heute ständig gezogen: „Wer zur Gedenkstätte in Katyn wollte, dem bekanntesten Ort der sowjetischen Massaker von 1940, der landete in der Regel auf dem kleinen Flugplatz Smolensk-Nord. Auch am 10. April 2010 wollte die Republik Polen an den runden Jahrestag des Massakers erinnern“ (S. 225). Über die wahren Gründe des Flugzeugabsturzes gibt es diverse Legenden: Das Flugzeug sei absichtlich zum Absturz gebracht worden durch den russischen Geheimdienst oder polnische Oppositionelle. Vergleiche werden gezogen zum mysteriösen Flugzeugabsturz General Sikorskis, des Chefs der polnischen Exilregierung, vor Gibraltar (1943).

Zwar wurden technische Ursachen (dichter Nebel, verfehlte Landebahn, Zusammenstoß mit einem Baum) ermittelt. Doch der Bruder des Präsidenten hielt an der Sabotage-Fiktion fest indem dieser behauptete: „Sie (die Russen) (…) haben meinen Bruder umgebracht“ (S. 227). Donald Tusk wurde 2014 zum Präsidenten des Europäischen Rates gewählt. Bei den Wahlen im Oktober 2015 siegte Jaroslaw Kaczyńskis Partei (PiS). Seit dieser Zeit hat sich im Lande viel verändert: „Ihr wohl wichtigstes Wahlversprechen, die Einführung des '500+', des Kindergeldes, das im Wesentlichen vom zweiten Kind an gezahlt wird, hat sie binnen weniger Monate verwirklicht. Inzwischen ist die im EU-Vergleich sehr niedrige Zahl der Geburten um etwa fünf Prozent gestiegen“(S. 234). 2017 wurde Mateusz Morawiecki zum Ministerpräsindenten gewählt worden. Über die soziale Marktwirtschaft sagte er, dass Deutschland als Vorbild dienen könne (vgl. S. 235). Eine weitere „Baustelle“ ist die Justizreform. Kaczyńskis Lager behauptet, die Justiz sei in Polen seit 1989 nicht reformiert worden, und die Richter hätten die Interessen der kleinen Leute aus den Augen verloren haben (vgl. S. 239).

Auch Präsident Duda (seit 2015 in Amt, Kandidat der PiS) konnte sich bisher nicht durchsetzten (vgl. S. 239 f.). Konkret geht es um die Unterordnung der Justiz unter Exekutive und Legislative, mit andern Worten: den Umgang mit der Gewaltenteilung.

Dieses problematisch Rechtsverständnis rief seit dem Regierungswechsel internationale Institutionen und Partner Polens in EU und NATO auf den Plan.

Andererseits zählt Polen zu den treusten Partnern der NATO: Das Land beteiligte sich an zahlreichen militärischen Missionen im Ausland (vgl. S. 244). 2016 beschloss die NATO „ … unter maßgeblicher Mitwirkung von Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel, die Verlegung von jeweils etwa 1000 Soldaten des Bündnisses nach Polen und in die drei baltischen Staaten (Enhanced forward presence)“ (S. 244). Polen beteiligt sich auch aktiv an der EU-Grenzsicherung. Was die Flüchtlingspolitik im Kontext der Verteilung betrifft, beharrt Polen auf der eigenen „Position der Abschottung“ und der Nicht-Solidarität (vgl. S. 245).

„Der Große Vorsitzende und sein Bruder“

Nach 1989 erschien Polen in Osteuropa als Musterschüler in der Umgestaltung des wirtschaftspolitischen Systems. Es gab kaum Zweifel über den künftigen Weg: „Bis die Partei der Kaczynksis-Brüder (PiS) 2015 mit einem Doppelsieg zwei Wahlen gewannen und Polen auf den Kopf stellte oder, wie ihre Anhänger meinen, vom Kopf auf die Füße. Ihre Politik vollzog sie über lange Zeit – Stand Sommer 2018 – bei fast gleichbleibender Beliebtheit“ ( S. 249). „Der Vorsitzende der Partei mit dem biblischen Namen 'Recht und Gerechtigkeit' (PiS) ist heute offensichtlich der einflussreichste Bürger Polens“ (S. 251). Es muss hinzugefügt werden, dass Kaczyński sowohl national als auch international als schwieriger Partner gilt (vgl. S. 261). Kaczyński belohnt seine loyalen Weggefährten: „Der engste und treueste Kreis um Kaczyński ist (…) die gerne als 'PC-Orden' bezeichnete verschworene Gemeinschaft von Männern, die sich 1990 und danach der Zentrumsallianz (PC) angeschlossen hatten. Nach den Wahlen von 2015 bekamen Angehörige dieses 'Ordens', die sich selten durch eigene Ideen profiliert haben, hohe Ämter“ (S. 264).

Das Kapitel bilanziert: „Da haben wir ihn nun, den Kaczyński. Er ist der Held der polnischen Wirklichkeit. Und weil er schon dort so dominant ist, ist er seit 2015 auch zum Helden zweier erfolgreicher polnischer Kabarett-Serien geworden. Man spotte gern über ihn. Aber Hand aufs Herz: Haben sich nicht viele von uns – in Polen, in Deutschland, in Europa – oft genug nach solch einem Politiker gesehnt?“ (S. 266).

Diskussion

Gnauck versucht aus deutscher Sicht Polen zu verstehen. Ein Russe, ein Franzose oder ein US-Bürger würden vielleicht einen anderen Blickwinkel einnehmen.

Der Autor benennt offen u.a. die deutsch-polnischen Beziehungen im EU-Kontext. Er gibt sich als Freund Polens zu erkennen und hilft aus dieser Position, Vorurteile abzubauen.

Die Polen selbst sehen bzw. sahen das deutsch-polnische Verhältnis nüchtern bzw. kritisch: „ (…) Ein Deutscher, der vor den Kommunisten für Hitler Reue zeigt – das hat mich immer geärgert, aber so ist nun mal die Ironie der Geschichte“ so die Worte des polnischen Publizisten Stefan Kisielewski anlässlich des Besuches des Bundeskanzlers Helmut Schmidt (1977) auf Einladung des Parteichefs Edward Gierek (S. 165).

In Deutschland debattiert man intensiv über die deutsch-jüdischen Beziehungen. In Polen dagegen ist das Verhältnis zu den Juden weniger belastet. 1968 kam es in Polen sogar zu offener Konfrontation mit den dort lebenden Juden. Diese bezichtigte man öffentlich der Urheberschaft für die politischen Unruhen. „In zahllosen Parteiversammlungen wurde – auch von Gomułka persönlich – gefordert, die jüdischen 'Unruhestifter' sollten, wenn sie schon mit Israel 'sympathisieren', das Land verlassen. So kam es dann auch: Viele Personen, die mit dem Judentum oft nur noch durch ihre Herkunft verbunden waren, verloren bis zum September 1968 ihre Stellen, darunter fünf Minister, 17 Generäle, 2000 Offiziere, Hunderte von Journalisten, Wissenschaftlern und Künstlern. Infolge der Kampagne sahen 13 000 Menschen für sich keinen anderen Weg als die Emigration“ (S. 156).

Wie wird es in Polen weitergehen?

Zwei Aspekte müssen berücksichtigt werden, und zwar die Innenpolitik und die Zusammenarbeit mit den Nachbarn und den USA. Auch die Innenpolitik muss sich mit den EU-Normen und Regeln „arrangieren“ bzw. sich angleichen. Die gegenwärtige Justiz Polens sorgt für Kopfschütteln: „Die umstrittene Zwangspensionierung von Richtern in Polen ist nicht mit EU-Recht vereinbar. Das urteilte der europäische Gerichtshof. Die Herabsetzung des Ruhestandalters für die Richter am Obersten Gericht des Landes verstoße gegen die Grundsätze der Unabsetzbarkeit der Richter und der richterlichen Unabhängigkeit. Die EU-Kommission hatte das Verfahren angestrebt. Sie wirft der nationalkonservativen Regierung vor, die Unabhängigkeit der Justiz zu beschneiden und die Gewaltenteilung zu untergraben“ (Quelle: Urteil gegen Polens Justiz, ARD Text Mo. 24.06.2019).

Frasyniuk, einer der Helden des Solidarność -Widerstands sagte auf einer Demonstration gegen die Justizreform: „Das Schicksal Polens wird nicht in internationalen Institutionen entschieden. Es wird von unserer Entschlossenheit und von unserem Widerstand abhängen, ob wir siegen oder nicht“ (vgl. S. 248).

Die Wirtschaftserfolge in Polen sind beträchtlich, die Ursachen dafür sind unterschiedlich. Polen profitierte am meisten von den EU-Zuschüssen, deutsche Firmen in Polen helfen ebenfalls. Polen sucht nach einem starken strategischen Partner, z.B. USA und England. Die totale Abschottung Polens gegenüber Russland kann sich für Polen wegen mangelnder Ressourcen, z.B. Öl und Gas, langfristig als wirtschaftliche Fehlentwicklung herausstellen. Auch die Migrationspolitik der Regierung in Polen lässt zu wünschen übrig: Polen verweigert weiterhin die Aufnahme der Kriegsmigranten u.a. aus Syrien und Afghanistan.

Die Argumentation Polens lautet, Polen habe mit der Aufnahme von über einer Million Ukrainern, darunter auch polnische Aussiedler aus der Ukraine, schon mehr als genug geleistet.

In den europäischen Medien wird überhaupt nicht diskutiert, ob das Problem der Wirtschafts- und Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine auf europäischer Ebene gelöst werden sollte. Für die deutsch-polnische Zusammenarbeit dagegen gibt es berechtigte Hoffnungen: „Als Pole kann ich nur wiedergeben, was mein leider verstorbener Bruder Lech Kaczyński immer gesagt hatte: Angela Merkel ist für uns Polen die beste Lösung. Und ich glaube, er hatte recht“ (vgl. S. 262).

Fazit

„Polen verstehen“ ist eine akribische Analyse des polnischen Parteisystems bzw. der Motive der jeweiligen polnischen Machthaber.

Eine gesellschaftliche Analyse im Kontext mit der polnischen Kultur könnte das Buch „beleben“. Lech Wałesa z.B. ist ca. 20 mal erwähnt (als Aktivist und Politiker); kaum dagegen polnische Schriftsteller (außer Adam Mickiewicz). Dabei spielen gerade literarische Werke in der Geschichte Polens eine sehr wichtige Rolle, wie z.B. Stanisław Wyspiański (1869-1907) „Wesele“ (deutsch: „Hochzeit“, 1901) zur nationalen Freiheit und Zofia Nałkowskas „Medaliony“ (deutsch: Medallions) aus dem Jahre 1946 zu Gräueltaten der Nazis in Polen.

Quo vadis, Polonia? Zum 100. Jahrestag der Staatsgründung 1918 kann man Folgendes sagen: Die Zukunft Polens liegt in den Händen der Polen selbst. Polens Zukunft werden nicht mehr Generäle bzw. Parteisekretäre bestimmen können, sondern Demokratie und Freiheit. Dazu müssen Dialogfähigkeit, Kompromisse und Normen aus dem EU-Recht abgeleitet werden und das politische Handeln bestimmen.

Deutschland kann für Polen als Hinweisgeber für wirtschaftliche, soziale und demokratische Entwicklungen dienen. Kaczyńskis Position in Polen darf vom Ausland nicht dämonisiert, sondern sollte allenfalls argumentativ hinterfragt, im Grunde aber respektiert werden. Die Frage nach Kaczyńskis Charisma lässt sich nicht eindeutig klären. Bestimmte Eigenschaften seiner Politik kann man wie folgt charakterisieren: Sein Lebensstil ist bescheiden; er besitzt einen starken Willen und Stehvermögen,ist glaubensstark und handelt moralisch und ist dem Land ergeben. Seine Herrschaft scheint „zementiert“, seine Partei und seine Vertrauten haben sich in der Regierungsarbeit etabliert und die entscheidenden Schaltstellen besetzt.

Die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Polen ist ein Verdienst zahlreicher Politiker aus beiden Ländern, z.B. Willy Brandt und Helmut Kohl deutscherseits, Tadeuscz Mazowiecki und Donald Tusk polnischerseits, nicht zu vergessen dank der Reisefreiheit der Polen in den Westen. Deutschland und Polen liegen im Herzen Europas; sie mögen auch zum Herz und Motor für Europa werden – die Zeit ist reif dafür.

Wirtschaftliche Großzügigkeit Deutschlands und der EU kann in Polen zu positiven und dauerhaft friedensfördernden Veränderungen beitragen. Gnaucks Beitrag bildet ein gutes Fundament für den deutsch-polnischen Dialog.

Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
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Es gibt 18 Rezensionen von Siegmund Pisarczyk.

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Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 15.11.2019 zu: Gerhard Gnauck: Polen verstehen. Geschichte, Politik, Gesellschaft. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2018. ISBN 978-3-608-96296-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25932.php, Datum des Zugriffs 11.09.2024.


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