Marion Reinhardt, Bernd Umbach (Hrsg.): Von Altlasten und Neuanfängen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.07.2019
Marion Reinhardt, Bernd Umbach (Hrsg.): Von Altlasten und Neuanfängen. Die ersten Jahrzehnte des Internationalen Bundes. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2019. 240 Seiten. ISBN 978-3-7344-0815-1. D: 21,90 EUR, A: 22,60 EUR.
Zeit der Toleranz
„Gerade um der Toleranz willen ist es geboten, jenen gegenüber, die die Herrschaft der Intoleranz für den Fall ihres Sieges auf ihre Fahnen schreiben, intolerant zu sein, …ihnen rechtzeitig das Handwerk zu legen“. Diese passgenau für die heutigen, lokalen und globalen, populistischen, ego-, ethnozentristischen, nationalistischen und rassistischen Entwicklungen anwendbaren Positionen sind 70 Jahre alt. Der von 1946 – 1953 an der Universität Tübingen lehrende Wissenschaftler, einer der Väter des Grundgesetzes und Politiker, Carlo Schmid, veröffentlichte den Aufsatz „Über die Toleranz“ im Heft 5-6/1949 der „Zeitschrift für Internationale Kultur- und Sozialarbeit“. Er war es auch, der, zusammen mit dem französischen Jugendoffizier Henri Humblot und dem ehemaligen Hauptabteilungsleiter im Kulturamt der Reichsjugendführung der Hitlerjugend, Heinrich Hartmann, am 11. Januar 1949 den „Internationalen Bund“ gründeten.
Der Blick in die Geschichte, als Vergewisserung, wie wir geworden sind, was wir sind, ist ein notwendiger, anstrengender, intellektueller, humaner Anspruch. Er besteht aus Aha-Erlebnissen und Fallstricken. Zum einen sind es Anregungen und Bestätigungen beim Mühen um die Frage „Wer bin ich?“ zum anderen können sie Führen und Verführen. Es ist deshalb wichtig und unerlässlich, historische Analysen kritisch zu betrachten, weil nicht selten Geschichtserkundung zur Geschichtsverklitterung werden kann.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
Das was die Initiatoren vor 70 Jahren als Neuanfang hin zu einer freien, demokratischen Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit auf den Weg brachten, hat bis heute Wirkung: Und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen als der notwendige Perspektivenwechsel, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ bereits 1995 anmahnte, nämlich als „Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“; zum anderen als Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung der Imponderabilien und Lebenslagen der Menschen (siehe dazu auch: Jan Assmann, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25040.php).
Nachdem die Sozialwissenschaftlerin und Sozialarbeiterin Marion Reinhardt 2017 die Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes aufgearbeitet hat (siehe dazu: Gründungsgeschichte des Internationalen Bundes. Themen, Akteure, Strukturen, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22150.php), wurde im sozialwissenschaftlichen Diskurs das Interesse geweckt, wie in der Nachkriegszeit der Auf- und Ausbau der Jugend-, Bildungs- und Sozialarbeit angegangen wurde. Dabei zeigt sich, dass bei der Gründung des Internationalen Bundes im damaligen Württemberg-Hohenzollern zwei Gruppierungen wesentlich aktiv waren: Zum einen die demokratisch und politisch Agierenden; zum anderen die aus der ehemaligen Nazi-Diktatur Dazugekommenen. Die Integration der Führungskräfte und Jugendlichen aus der Hitler-Jugend in das demokratische System vollzog sich eher nebenbei und wurde weitgehend tabuisiert. Es ist deshalb wichtig, die sich dabei vollziehenden, sowohl öffentlich ausgetragenen als auch indirekt vollzogenen Auseinandersetzungen zu analysieren.
Marion Reinhardt und der Politikwissenschaftler und Geschäftsführer des IB Süd, Bernd Umbach, fragen im Sammelband nach den „Altlasten und Neuanfängen“ bei der Entwicklung des Internationalen Bundes. Sie lassen dazu Theoretiker und Praktiker zu Wort kommen, die sich mit pädagogischen, demokratischen und ideologischen Fragen zur Gründungs- und Verlaufsgeschichte des IB auseinandersetzen.
Aufbau und Inhalt
Die Studie wird in fünf Kapitel gegliedert. Im ersten Teil referiert der Marburger Erziehungswissenschaftler und Mitglied des IB-Stiftungsrates „Schwarz-Rot-Bunt“, Benno Hafeneger, über die pädagogischen Aspekte des IB in den ersten Jahrzehnten: „Erziehung durch Arbeit und Gemeinschaft“. Die gesellschaftspolitische Aufmerksamkeit richtete sich anfangs auf die ökonomischen und demokratischen Herausforderungen des Wiederaufbaus. Bildung, Ausbildung und Arbeitsplätze sollten die „Jugendnot“ beseitigen und die Integration der Flüchtlingskinder und -familien in den demokratischen Alltag bewältigen. Dass in diesem Prozess in den Nachkriegsjahren vor allem ehemalige HJ-Funktionäre engagiert waren, ist eine neue und irritierende Entdeckung.
Mit dem Kapitel „NS-Belastungen“ setzen sich drei Zeitzeugen auseinander. Mit der Frage „Der IB und seine Gründung – dauernde Belastung und fortdauernde Verpflichtung?“ nimmt die Politikerin und Rechtsanwältin Herta Däubler-Gmelin ihre persönlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Erfahrungen mit Gründungsmitgliedern und Engagierten, und mit den anfangs formulierten, sozialen Zielen des IB auf. Sie will dabei, angesichts des unleugbaren ideologischen Einflusses von nationalsozialistisch Belasteten auf die Gründungsgeschichte des IB nicht von einem „Geburtsfehler“ sprechen; vielmehr arbeitet sie die demokratische Entwicklung heraus, „den jungen Leuten in zeitgemäßer Weise immer wieder die Bedeutung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechten und Freiheit für jede friedliche und zukunftsfähige Gesellschaft zu vermitteln“.
Der Historiker beim Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Universitätsklinik RWTH in Aachen, Jens Westemeier, berichtet mit dem Beitrag „NS-Täter im Management des jungen IB“ über neue Recherchen zu Biographien ehemaliger SS-Führer. Mit Fallbeispielen zeigt er Nazi-Karrieren von Mitarbeitern des IB auf. Er charakterisiert das Ignorieren und Wegschauen der IB-Gründer nicht als Versehen oder Unwissen, sondern im gesellschaftlichen Mainstream als durchaus bewusste, auffindbare Einstellung.
Der Politikwissenschaftler, Soziologe und Theologe Stefan Zowislo thematisiert mit dem Beitrag „Aus dem Nationalsozialismus in die deutsche Nachkriegsgesellschaft und in den IB“ die Wandlungsprozesse der ersten, institutionellen Akteure des IB. Sein Blick richtet sich insbesondere auf die Bemühungen des ehemaligen Mitglieds der Reichsjugendführung der Hitler-Jugend, Heinrich Hartmann. Als treibende Kraft bei der IB-Gründung gelang es Hartmann, die Aufmerksamkeit und Anerkennung von Humblot und Schmid zu gewinnen; die Einflüsse der nazi-belasteten Führungskräfte im IB, wie auch die Tabuisierung einer notwendigen, historischen Auseinandersetzung in der Institution, können als Versäumnis und Verweigerung verstanden werden, die erst jetzt und zögerlich aufgebrochen werden.
Im dritten Kapitel geht es um „Französische Alliierte“. Mit Anmerkungen zur Jugendpolitik und Jugendarbeit in der französischen Zone reflektiert Benno Hafeneger „Demokratisierung durch europäischen Jugendaustausch“. Aus dem Nachlass des französischen Offiziers für Jugendfragen, Henri Humblot, filtert Hafeneger heraus, wie das Konzept der internationalen und kulturellen Arbeit unter Berücksichtigung der französischen gesellschaftspolitischen Erfahrungen und der deutschen pädagogischen Vorkriegstraditionen entstanden ist und zu Begegnungs- und Partnerschaftsprogrammen zwischen deutschen und französischen (europäischen) Jugendlichen führte.
Marion Reinhardt analysiert die „Kulturarbeit im IB“, indem sie die Anfänge des Internationalen Bundes im Spiegel der Zeitschrift „steinach“ betrachtet. Die periodische Publikation, die sowohl die Gründung des „Jugendsozialwerks“ vorbereitete und dessen Arbeit begleitete, ging nach mehreren Versuchen der Aktualisierung der Jugendsozialarbeit schließlich in die bis heute existierende „IB intern“, der Zeitschrift für die Mitarbeitenden und Vereinsmitglieder des IB, über.
Mit „Institutionelle Verbindungen“ werden im vierten Kapitel die Aktivitäten diskutiert, die für den IB gewissermaßen als selbstverständliche und „geborene“ Partner waren. Die Jenenser Sozialwissenschaftlerin Kristina Meyer informiert mit dem Beitrag „Idealismus, Pragmatismus, Versöhnung“ über die Aktivitäten der Nachkriegs-SPD zur Nazi-Vergangenheit und zum Jugendsozialwerk. Carlo Schmid stieß bei seinen Bemühungen, die ehemaligen Nazis und Mitläufer möglichst reibungslos in das demokratische System zu integrieren, bei den Genossen nicht nur auf Zustimmung. Schmids Überzeugung, dass Menschen aus ihren Verirrungen Lehren ziehen könnten und aus Demokratiefeinden -befürworter werden könnten, ist bis heute nicht verifiziert.
Die Historikerin Petra Liebner spricht über das Werden und Wirken der Zusammenarbeit: „Das Deutsche Rote Kreuz und der Internationale Bund“. Bei der sich ebenfalls anbietenden Kooperation zwischen der internationalen und nationalen Hilfsgesellschaft und dem Spitzenverband der Freien Wohlfahrtspflege, dem Roten Kreuz, mit dem IB, zeigen sich Parallelen, die sogar zu Zusammenschlüssen führen. Es sind „die Prinzipien der Freiwilligkeit und Selbsthilfe… (als) geistig-moralische Grundlage für die jungen Menschen“, die beide Einrichtungen verbindet.
Im fünften Kapitel „Entwicklung des Selbstverständnisses“ richtet der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer den „Tübinger Blick auf die Gründungsgeschichte des IB“. Warum in Tübingen? Es braucht keinen Lokalpatriotismus, und schon gar kein egozentrisches Herbeiholen, oder gar eine Seilschaftmentalität, sondern einfach nur das Bewusstsein, dass es richtig und wichtig ist, „die Vergangenheit aufzuarbeiten und nicht einfach auf sich beruhen zu lassen“. Bernd Umbach fordert auf, die Chancen zu nutzen und die Entwicklung des IB als Exempel für Zeitenwandel zu begreifen. Mit den pädagogischen Prämissen – Fördern und Fordern – tritt der IB an, um z.B. Jugendlichen, die in der traditionellen Schule durch alle Maschen gefallen sind, den Unterricht schwänzen, die Schule ohne Abschluss verlassen, auf dem so genannten zweiten Bildungsweg einen Abschluss nachholen und eine Berufsausbildung aufnehmen können (Mit einem Einschub sei dem Rezensenten gestattet, dieses Angebot mit einer eigenen Erfahrung zu würzen: Durch ehrenamtliche Mitarbeit bei der Hildesheimer Jugendwerkstatt LABORA https://www.caritas.de/adressen/labora-jugendwerkstatt-hildesheim-holztechnik-u.-a/jugendwerkstatt-hildesheim/31137-hildesheim/94163> lässt sich sagen, dass dieses Prinzip äußerst hilfreich und erfolgreich ist). Die parteipolitisch neutrale, sozial, demokratisch und eher links orientierte Positionierung des IB erlaubt die Feststellung, dass die Einrichtung in ihrem Werden und Verändern zu einem festen und verlässlichen Bestandteil der Demokratie in Deutschland geworden ist. Den Abschluss des Sammelbandes bildet ein Kaleidoskop, mit dem die führenden MitarbeiterInnen des IB in einem Interview ihre Motive, Zielsetzungen und Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Es ist ein Beispiel dafür, welche Bedeutung Führungskräfte und Engagierte in sozialen Einrichtungen haben können, und wie es ihnen gelingt, Führungskompetenzen und Innovationen auf viele Schultern zu legen. Petra Merkel / Thiemo Fojkar / Heidrun Winkler: „Wir müssen aufmerksam bleiben und uns unserer Vergangenheit bewusst sein“.
Im Anhang werden der Aufsatz von Carlo Schmid „Über die Toleranz“ (1949), der Redetext von ihm anlässlich der Festveranstaltung zum 25jährigen Bestehen des IB, und die Biographie von Carlo Schmid abgedruckt; und annotiert das Herausgeberteam und die Autorinnen und Autoren genannt.
Fazit
Die Bedeutung von Geschichte und von Vergangenem wird im Diskurs -Wie wir geworden sind, was wir sind – in vielfacher Weise ausgedrückt: Als Strom und Wirbel, als Schicksal, Zufall und Kreativität ( vgl. dazu auch: Hans Lenk, Kreative Aufstiege. Zur Philosophie und Psychologie der Kreativität, 2000 ). Ohne historisches Bewusstsein ist der Mensch eine leere Hülle, weil Gegenwart und Zukunft ohne Vergangenheit nicht denkbar ist. So ist es verdienstvoll, die Geschichte des Internationalen Bundes auf den Prüfstein von Wirklichkeiten zu stellen und die Geschichte und Aktualität des Jugendsozialwerks darzustellen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.07.2019 zu:
Marion Reinhardt, Bernd Umbach (Hrsg.): Von Altlasten und Neuanfängen. Die ersten Jahrzehnte des Internationalen Bundes. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2019.
ISBN 978-3-7344-0815-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25933.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.
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