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Ursula Kremer-Preiß, Thorsten Mehnert u.a.: Betreutes Seniorenwohnen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 15.11.2019

Cover Ursula Kremer-Preiß, Thorsten Mehnert u.a.: Betreutes Seniorenwohnen ISBN 978-3-86216-548-3

Ursula Kremer-Preiß, Thorsten Mehnert, Britta Klemm: Betreutes Seniorenwohnen. Entwicklungsstand und Anforderungen an eine zukunftsgerechte Weiterentwicklung. Ergebnisse einer empirischen Studie. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) 2019. 50 Seiten. ISBN 978-3-86216-548-3. D: 29,99 EUR, A: 30,90 EUR.
Reihe: ProAlter PraxisWissen. .

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Thema

In Deutschland ist Betreutes Wohnen noch ein relativ junges Angebot im Bereich Wohnen für Betagte, vergleicht man es mit anderen Ländern. Während sich zum Beispiel in England, den Niederlanden und in den USA unterschiedliche Formen des betreuten Wohnens bereits vor über 60 Jahren bildeten, etablierte sich dieses Wohn- und Leistungsangebot in Deutschland erst in den 90er Jahren. Betreutes Wohnen tritt in Deutschland die „Nachfolge“ der Altenheime und Altenwohnheime an, die spätestens seit Einführung der Pflegeversicherung nicht mehr öffentlich gefördert werden (Lind 2005).

Betreutes Wohnen kann versorgungstechnisch als eine „Zwischen- oder auch Übergangswohnform“ zwischen Rüstigkeit und Gebrechlichkeit bzw. Pflegebedürftigkeit klassifiziert werden, also zwischen eigenständigem Privathaushalt und Pflegeheim. Die Zielgruppe sind vor allem die hilfebedürftigen, leicht gebrechlichen und meist auch alleinlebenden Senioren. Dementsprechend werden vorrangig Leistungen der Beratung, Aktivierung und Betreuung und zusätzlich bei Bedarf auch hauswirtschaftliche Hilfen angeboten. Pflegeleistungen hingegen dürfen nur durch externe Anbieter wie ambulante Pflegedienste erbracht werden, andernfalls müsste diese Sonderwohnform in den Geltungsbereich ordnungsrechtlicher Bestimmungen (u.a. Gesetze der Länder über Wohn-, Betreuung- und Pflege in Einrichtungen, ehemals Heimgesetz) treten.

Bei der vorliegenden Veröffentlichung handelt es sich um eine bundesweite Erhebung nebst Auswertung und Interpretation der Daten unter besonderer Berücksichtigung der Problemlagen Pflegebedürftigkeit und Demenzerkrankungen im Betreuten Wohnen.

Autorinnen und Autor

Ursula Kremer-Preiß, Sozialwissenschaftlerin, ist seit 1998 Referentin im Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA). Seit 2010 leitet sie im KDA den Fachbereich „Wohnen und Quartiersentwicklung“.

Thorsten Mehnert, Geograf, arbeitet seit 2009 als Referent im Fachbereich „Wohnen und Quartiersentwicklung“ des KDA.

Britta Klemm arbeitet seit 2011 bei der BFS Service GmbH, einer Tochter der Bank für Sozialwirtschaft AG, und leitet dort das Kompetenzzentrum Sozialwirtschaft.

Aufbau und Inhalt

Die Publikation ist in acht Kapitel untergliedert. 29 Abbildungen und 10 Tabellen illustrieren den Text.

In Kapitel 1 (Einleitung, Seite 1 – 2) wird erläutert, warum gegenwärtig eine Studie zum Betreuten Seniorenwohnen erforderlich ist. Begründet wird dies u.a. mit dem Sachverhalt, dass das Betreute Seniorenwohnen sich neben den vollstationären Pflegeeinrichtungen quantitativ zur „bedeutendsten Sonderwohnform“ für ältere Menschen in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat. In diesen Einrichtungen besteht gegenwärtig Klärungsbedarf bezüglich der Versorgungssicherheit bei zunehmender Pflegebedürftigkeit einschließlich der demenziellen Erkrankungen mit ihrer Progredienz unter dem Aspekt, wann eine Einrichtung ihren Wohncharakter verliert und zu einer Pflegeeinrichtung mutiert.

Kapitel 2 (Hintergrund, Seite 3 – 6) enthält zu Beginn den Versuch einer Definition des Betreuten Wohnens mit den folgenden Merkmalen

  • „Vorhaltung einer eigenständigen – meist barrierefreien – Wohnung eingebettet in eine gute Infrastruktur“ (Seite 3)
  • Gemeinschaftsräume in der Wohnanlage
  • Ansprechpartner in der Einrichtung zwecks Beratung, Vermittlung weiterer Leistungen und Organisation von gemeinschaftlichen Aktivitäten (so genannte Grund- bzw. Betreuungsleistung)
  • Angebot von zusätzlich frei wählbaren Wahlleistungen (hauswirtschaftliche Hilfen, Fahr- und Begleitdienste, Pflegeleistungen u.a.)

Abgegrenzt wird das Betreute Wohnen vom barrierefreien Wohnen (ohne Leistungsangebote) und dem Servicewohnen (Wahlleistungen ohne verpflichtende Grundleistungen). Als Vorläufer des Betreuten Wohnens werden die Altenwohnungen der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts betrachtet, die teils im Rahmen der sozialen Wohnbauförderung errichtet wurden. Bestandsschätzungen gehen davon aus, dass es gegenwärtig ca. 6000 bis 7000 Wohnanlagen mit über 300.000 Wohneinheiten in Deutschland gibt. Angesichts der demografischen Alterung wird ein weiterer Bedarf an dieser Wohn- und Betreuungsform prognostiziert.

In Kapitel 3 (Die Online-Befragung, Seite 7 – 11) wird die Datenerhebung der Studie vorgestellt. 4.500 Einrichtungen des Betreuten Wohnens wurden direkt angeschrieben, mit einem Rücklauf von 501 (ca. 12 Prozent). Mittels einer Onlineplattform beteiligten sich weitere 461 Einrichtungen. Abzüglich der nicht verwertbaren Fragebögen konnten insgesamt 662 Fragebögen ausgewertet werden. Die befragten Einrichtungen entstammten überwiegend städtischen Regionen und waren meist schon 10 Jahre und länger in Betrieb (68,7 Prozent).

Kapitel 4 (Organisationsstruktur, Seite 13 – 15) beinhaltet die Trägerstruktur, die Organisationsformen und die vertraglichen Regelungen der Wohnanlagen. Die Betreuten Wohnanlagen sind meist in den Händen freigemeinnütziger Träger (63,1 Prozent), private Träger verfügen über 28,6 Prozent der Einrichtungen und kommunale Träger 5,4 Prozent. Die Organisationsformen lassen sich unterscheiden in:

  • „Solitäres Betreutes Wohnen“ (eigenständige Einrichtung) mit einem Anteil von 24,6 Prozent,
  • „Heimverbundenes Betreutes Wohnen“ (Anbindung an eine Pflegeheim) mit einem Anteil von 38,4 Prozent
  •  „Integriertes Betreutes Wohnen“ (neben der Wohnanlage sind weitere Dienstleistungen wie z.B. ambulante Dienste, Kurzzeit- und Tagespflege oder eine Pflegeabteilung in die Einrichtung eingebunden) mit einem Anteil von 31 Prozent.

Im Vergleich zu einer Erhebung aus dem Jahr 2004, bei der die „solitären Wohnanlagen“ mit 47,9 Prozent dominierten („heimverbundene Einrichtungen“ 28,2 Prozent und „integrierte Wohnanlagen“ 22 Prozent), geht gegenwärtig der Trend hin zu Verbundmodellen von Wohnen und weiteren Dienstleistungen.

Bei den vertraglichen Regelungen überwiegen „Mietverträge mit gesondertem Betreuungsvertrag“ (67,7 Prozent) vor „Mietverträgen mit integrierten Regelungen zu Betreuungsleistungen“ (26,2 Prozent) und anderen Regelungen wie z.B. Kaufvertrag mit oder ohne Betreuungsvertrag (6,1 Prozent).

In Kapitel 5 (Angebotsstruktur, Seite 17 – 27) wird das Leistungsspektrum der Wohnanlagen dargestellt. Durchschnittlich verfügt eine Betreute Wohnanlage gegenwärtig über 47 Wohneinheiten; bei der Befragung von 2004 betrug die Durchschnittsgröße hingegen nur 38 Wohnungen. Von den insgesamt in der Befragung erfassten 31.765 Wohneinheiten waren 57,7 Prozent Zweizimmerwohnungen, 32,7 Prozent Einzimmerwohnungen und 9,9 Prozent Mehr-Zimmer-Wohnungen. Bei der Erhebung von 2004 waren hingegen 66,3 Prozent Zweizimmerwohnungen, 26,7 Prozent Einzimmerwohnungen und 6,3 Prozent Mehr-Zimmer-Wohnungen. Durchschnittlich haben die Einzimmerwohnungen eine Größe von 34,7 qm, die Zweizimmerwohnungen 53,5 qm und die Mehr-Zimmer-Wohnungen 71,2 qm. Bezüglich der Gemeinschaftsflächen verfügen 71,4 Prozent der Einrichtungen über Begegnungsräume, 60,7 Prozent über Sitzecken; 46 Prozent haben eine Cafeteria bzw. ein Restaurant.

Das Unterstützungsangebot besteht aus Grund- und Wahlleistungen. Folgende Grundleistungen werden in den Wohnanlagen angeboten: Betreuung (91,9 Prozent), Freizeitangebote (82,9 Prozent), Hilfe im Alltag (79,3 Prozent), Notrufsicherung (75,5 Prozent), kleine technische Hilfen (64,7 Prozent), Hilfen im Krankheitsfall (53,3 Prozent), begrenzte Pflegeleistungen (20,4 Prozent) und Weiteres (18,4 Prozent). Bei den Wahlleistungen „Hilfen im Alltag“ bieten 61,1 Prozent hauswirtschaftliche Hilfen und 57,6 Prozent ein Restaurant bzw. einen Mittagstisch an. Bei den „gesundheitlichen Hilfen“ als Wahlleistungen offerieren 49,1 Prozent eine Notrufanlage und 47,2 Prozent „Hilfen bei Erkrankung“. Bei den „pflegerischen Hilfen“ werden folgende Leistungen vorgehalten: häusliche Pflegeleistungen (49,8 Prozent), Kurzzeitpflege (39,2 Prozent), Tagespflege (35,5 Prozent), 24-Stunden-Betreuung (15,5 Prozent), eigene Pflegewohngemeinschaft (9 Prozent) und andere Leistungen (u.a. Betreuungs- und Entlastungsleistungen) (11,5 Prozent). 36,2 Prozent der befragten Betriebsträger gehen davon aus, dass in ihren Wohnanlagen eine Betreuung bis zum Lebensende möglich sei. Und 49,5 Prozent sehen im Betreuten Wohnen eine Alternative zum Pflegeheim.

Die Leistungsgrenzen des Betreuten Wohnens werden wie folgt gesehen: Einschränkungen bei der selbstständigen Haushaltsführung (12,5 Prozent), Einschränkungen bei demenziellen Erkrankungen (52,2 Prozent), Rund-um-die-Uhr-Versorgungsbedarf (58,4 Prozent), Weglauftendenzen, Tag-Nacht-Rhythmus-Störungen (75,2 Prozent) und Weiteres wie z, B. psychische Erkrankungen und Suchtprobleme (5 Prozent). Als Gründe für den Auszug (n = 366) wurden angegeben: gesundheitliche Verschlechterung (68,3 Prozent), mangelhafte Versorgungsmöglichkeiten (15,6 Prozent), andere Erwartungen an das Betreute Wohnen (4,6 Prozent) und Weiteres (Umzug ins Heim oder zu Angehörigen, verstorben) (36,9 Prozent).

In Kapitel 6 (Struktur der Bewohnerschaft, Seite 29 – 36) werden die Bewohner*innen des Betreuten Wohnens detailliert beschrieben. Es handelt sich überwiegend um Alleinstehende (über 75 Prozent der Bewohnerschaft), die zunehmend hochbetagt sind. 56,8 Prozent sind 80 Jahre und älter; 2004 waren es noch 10 Prozent weniger. 37,2 Prozent der Bewohner sind pflegebedürftig, wobei 45,6 Prozent haben den Pflegegrad 2 besitzen. 2004 waren hingegen nur 18,9 Prozent pflegebedürftig. Demenziell erkrankt ist ca. jede*r zehnte Bewohner*in. Dieser zunehmenden Gebrechlichkeit der Bewohner*innen wurde dergestalt Rechnung getragen, dass viele Wohnanlagen zusätzliche Dienste wie die Tagespflege und die Rund-um-die-Uhr-Betreuung in ihr Leistungsspektrum integriert haben.

Kapitel 7 (Kosten und Finanzierung, Seite 37 – 43) enthält die Auflistung der Kosten des Betreuten Wohnens. Beim Kauf einer Wohnung in einer Wohnanlage müssen durchschnittlich ca. 3.000 EUR pro qm aufgewendet werden. Die Kaltmiete beträgt durchschnittlich 9,57 EUR pro qm und die Nebenkosten 3,20 EUR pro qm. Die durchschnittliche Betreuungspauschale liegt bei ca. 90 EUR pro Monat, wobei 11,3 Prozent der Bewohner Sozialleistungen zur Finanzierung der Betreuungskosten erhalten. Ungefähr jede vierte Wohneinheit ist beim Bau öffentlich gefördert worden.

Kapitel 8 (Herausforderungen, Seite 45 – 48) thematisiert die Problemlagen, die durch die verstärkte Nachfrage des Betreuten Wohnens besonders durch die Personengruppe der Hochbetagten und demenziell Erkrankten entstehen. Trotz der Schaffung weiterer pflegerischer und betreuerischer Leistungsangebote besteht für ca. zwei Drittel der Träger noch weiterer Handlungsbedarf, um die Gewährleistung einer angemessenen Versorgungssicherheit zu garantieren. Bezüglich der Versorgung Demenzkranker im Betreuten Wohnen sehen 84,6 Prozent der befragten Einrichtungen noch Bedarf an weiteren Leistungsangeboten. Empfohlen wird in diesem Kontext die verstärkte Einbindung der Angehörigen und auch ehrenamtlicher Helfer bei der Verrichtung so genannter niederschwelliger Leistungsangebote wie z.B. Fahr- und Begleitdienste und hauswirtschaftliche Hilfen. Des Weiteren wird vorgeschlagen, die Betreuungsmitarbeiter für weitere Tätigkeiten wie z.B. Koordinierungs- und Vermittlungsleistungen zu qualifizieren.

Für 56 Prozent der Anbieter des Betreuten Wohnens ist bezüglich einer Planungssicherheit die Frage virulent, welche Leistungskombinationen in Zukunft noch möglich sein könnten, ohne gleich ordnungsrechtlich als stationäre Pflegeeinrichtung eingestuft zu werden. Mehr als die Hälfte der Investoren und Anbieter wünschen sich für die Zukunft mehr Praxisbeispiele zur Orientierung und zugleich auch einen verstärkten Erfahrungsaustausch. Unterstützungsbedarf sehen die Verantwortlichen dieses Leistungsangebotes u.a. auch im Abbau rechtlicher Vorgaben, bei Abgrenzungsfragen zu vollstationären Pflegeeinrichtungen und bei der stärkeren Berücksichtigung des Betreuten Wohnens in der kommunalen Bauplanung.

Diskussion

Die vorliegende Studie vermag durch die Vielzahl an Daten über das Betreute Wohnen einen guten Überblick über den Status quo dieses Wohn- und Leistungsangebotes in Deutschland zu geben. Unwillkürlich kommt bei der Analyse und Interpretation dieses Datenmaterials die Frage auf, wohin sich diese Sonderwohnform wohl entwickeln wird. Die von den Träger der Wohnanlagen und den Wohnungsbaugesellschaften konzipierten Lösungsansätze können auf dem Hintergrund des gegenwärtigen Forschungsstandes aus der Sicht des Rezensenten nicht recht überzeugen. Folgende Wissensstände stehen nicht mit den dargestellten Perspektiven in Einklang:

  • Fakt ist, dass die Einrichtungen gemeinsam mit ihrem Klientel altern und dementsprechend auch nur noch gemäß dem Homogenitätsprinzip Interesse bei leichtgebrechlich Betagten für einen Einzug finden können. Wo der Gebrauch des Rollators den Mobilitätsstandard bildet, da ziehen in der Regel keine recht mobilen und rüstigen Senioren ein, sondern überwiegend Hochbetagte mit Gehhilfen. Die Erfahrungen mit der Entwicklung einer doppelten Alterung der Seniorenwohneinrichtungen (Alterung der Einrichtung und parallel die der Bewohnerschaft) verbunden mit den entsprechenden Nachrüstungen an Leistungsangeboten zwecks Gewährleistung einer rudimentären Versorgungssicherheit wurden bereits in den USA in den 70er Jahren gemacht (Lawton 1985). Dies führte u.a. zur Einrichtungen des Seniorenwohnens mit begrenzten bzw. abgestuften Versorgungsleistungen der Pflege und Betreuung („Assisted Living“ und „Continuing Care Retirement Communities“) (Lind 2005). Ähnliche Institutionen einer gezielten Wohnpflege, also Einrichtungen mit einer Versorgungsdichte zwischen Betreutem Wohnen und Pflegeheim sind in Deutschland bisher jedoch noch nicht geschaffen worden.
  • Das Zusammenleben von rüstigen und gebrechlichen Bewohner*innen in einem Wohnmilieu stellt für beide Gruppen eine psychische Überforderung dar, die mit Ausgrenzungen und auch massivem Rückzugsverhalten verbunden ist (Lind 2005). Untersuchungen in den USA haben gezeigt, dass das Homogenitätsprinzip bezüglich körperlicher und geistiger Rüstigkeit der entscheidende Wirkfaktor für das Wohlbefinden im Betreuten Wohnen darstellt. Wohnen und Pflege oder anders ausgedrückt Autonomie und Sicherheit stehen demgemäß nicht in einem komplementären, sondern in einem bipolaren Verhältnis (Parmelee et al. 1990).
  • Mehr noch als die körperliche Gebrechlichkeit stellt die geistige Gebrechlichkeit (u.a. Demenzerkrankungen) eine Herausforderung für die Gestaltung und Aufrechterhaltung eines auf relativer Selbstständigkeit beruhenden Wohnmilieus im Betreuten Wohnen dar. Empfehlungen, diesbezüglich u.a. eine verstärkte Nachbarschaftshilfe und gemeinsame Aktivitäten von demenzkranken und nichtdemenzkranken Bewohner*innen zu organisieren, entsprechen nicht dem Stand der Forschung (Saup et al. 2004). Demenzkranke im schweren Stadium benötigen ein Gemeinschaftsmilieu u.a. in Gestalt von räumlicher Nähe der Betreuungspersonen wie in den Demenzwohnbereichen der Pflegeheime. Das Alleinleben in einer separaten Wohnung in einer Wohnanlage kann von ihnen nicht mehr angemessen bewältigt werden. Es führt zu ständigem Überforderungs- und Stresserleben zulasten ihrer Gesundheit und zugleich auch zulasten des Wohnmilieus.

Einen eklatanten Widerspruch sieht der Rezensent in den Empfehlungen der verantwortlichen Träger und Baugesellschaften. Einerseits sollen im Versorgungsbereich die Leistungsangebote nachgerüstet werden, da die Bewohner*innen immer gebrechlicher werden. Zugleich aber wird ein Abbau rechtlicher Vorgaben eingefordert. Bei den rechtlichen Vorgaben handelt es sich jedoch letztlich um Schutzrechte wie das Heimgesetz u.Ä. für die Hochbetagten. Die in diesem Zusammenhang gängige Praxis, den Pflegediensten in den Wohnanlagen einen eigenen organisatorischen Rahmen als „ambulante Dienste“ zu geben, um nicht in den Geltungsbereich der rechtlichen Vorgaben (Heimgesetz u.a.) zu gelangen, scheint kein strategisches bewohnerorientiertes Planen und Handeln zu sein, sondern eher ein simpler Taschenspielertrick. Hier sollten sich die zuständigen Sozial- und Gesundheitsministerien verantwortlich fühlen. Dass bloße Qualitätsempfehlungen und DIN-Normen in diesem Zusammenhang keine Wirkung zeigen und damit auch keine Schutzfunktionen besitzen, ist ein allgemein bekannter Tatbestand (Mühlbauer 2008).

Fazit

Das vorliegende Datenmaterial zum gegenwärtigen Stand des Betreuten Wohnens in Deutschland ist in vieler Hinsicht sehr aufschlussreich. Es zeigt einerseits die positiven Aspekte einer altersgerechten Wohnform mit Möglichkeiten der sozialen Einbindung zwecks Minderung der drohenden Einsamkeit im Alter. Die Fakten zeigen zugleich auch eine Reihe von Gefahren für diese institutionell äußert fragile „Zwischenwohnform“. Wenn ein hoher Pflegebedürftigkeitsgrad und eine fortgeschrittene Demenzerkrankung drohen, dann ist Betreutes Wohnen keine Option mehr. Das ist der Stand der Forschung. Die vorliegende Publikation wird daher allen Leser*innen empfohlen, die in diesem Leistungsspektrum leitend und planerisch tätig sind.

Literatur

Lawton, M. P. et al. (1985). The changing service needs of older tenants in planned housing. The Gerontologist, 25, 3, 258 - 264.

Lind, S. (2005). Betreutes Wohnen im Alter. Eine Literaturrecherche und Sekundäranalyse zur Entwicklung des Betreuten Wohnens in Deutschland, Großbritannien und den USA. https://www.gerontologische-beratung-haan.de/pdf/downloads/​Lind_Betreutes_Wohnen_im_Alter.pdf

Mühlbauer, H. (Hrsg.) (2008). Betreutes Wohnen für ältere Menschen. Beuth Verlag (Berlin, Wien, Zürich) www.socialnet.de/rezensionen/6827.php

Parmelee, P. et al. (1990). The design of special environments of the aged. In: Birren, J. & Schaie, K. (ed.): Handbook of the psychology of aging. Third edition (pp 464 - 488). Academic Press, San Diego.

Saup, W. et al. (2004). Demenzbewältigung im betreuten Seniorenwohnen. Verlag für Gerontologie A. Moeckl (Augsburg) www.socialnet.de/rezensionen/1708.php

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 15.11.2019 zu: Ursula Kremer-Preiß, Thorsten Mehnert, Britta Klemm: Betreutes Seniorenwohnen. Entwicklungsstand und Anforderungen an eine zukunftsgerechte Weiterentwicklung. Ergebnisse einer empirischen Studie. medhochzwei Verlag GmbH (Heidelberg) 2019. ISBN 978-3-86216-548-3. Reihe: ProAlter PraxisWissen. . In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25938.php, Datum des Zugriffs 04.10.2023.


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