Céline Barry: Toubabesse
Rezensiert von Tanja-Bianca Schmidt, 28.08.2019

Céline Barry: Toubabesse. Wie Bildung Frauen koloniale Macht verleiht : Alltagssoziologische Analysen aus Berlin, Dakar und Dazwischen. edition assemblage (Münster) 2019. 312 Seiten. ISBN 978-3-96042-052-1. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR.
Thema
In Dakar sind Chancen auf das Glück der gebildeten Frau ungleich verteilt. In Abhängigkeit zur Klassenzugehörigkeit ist der Zugang zu formaler Bildung begrenzt. Für Frauen aus Medina, Grand Dakar, HLM, also ökonomisch schwachen Bezirken in Dakar, löst sich das meritokratische Bildungsversprechen nicht ein.
Die Lektüre „Toubabesse – Wie Bildung Frauen koloniale Macht verleiht“ ist eine Grounded Theory, die die Soziologin Céline Barry aus einem komplexen und vielfältigen Quellenkorpus heraus entwickelt. Dabei bietet sie eine detailreiche und theoretisch anspruchsvolle Reflexion auf das Glück der Schwarzen belesenen Frau. Im Mittelpunkt der Untersuchung, die zwischen 2011 und 2016 erfolgte, stehen junge Aktivistinnen aus Medina. Dialogisch geführte Interviews über Bildungslaufbahn und Zukunftsziele der Frauen bettet die Soziologin in einen mehrdimensionalen soziopolitischen Kontext, den sie anhand von „persönliche[n] Tagebucheinträge[n], Fotos, Abrisse von Alltagsgesprächen und -situationen, Notizen zu Policy-Papers, Reportagen, Diskussionsrunden über Kultur, Kunst und Wissenschaft in Unis, Romanen, Filmen, Serien oder Radio-Sendungen, […] Web-Auftritten von Firmen, NGOs; Staaten, Sozialen Bewegungen, Trend-Blogs“ (Barry 2019, 12) nachzeichnet. Ihr Ziel ist es, die intersektionale Dimension der neokolonialen Gesellschaftsstrukturen im postkolonialen Kontext anzuführen und die Diskursivität der Rassifizierungs- und Vergeschlechtlichungskategorien zu adressieren.
Autorin
Céline Barry forscht zu Rassismus, Feminismus und Intersektionalität in postkolonialen Zusammenhängen. Sie setzt sich für eine politisierte Forschungspraxis ein, die am Alltag von Unterdrückten ansetzt und akademisches Wissen provinzialisiert. Sie ist davon überzeugt, dass im postkolonialen Zusammenhang das Glücksmodell der gebildeten Frau auf Normen aufbaut, die kolonial und patriarchal geprägt sind und Afrikanische Frauen strukturell benachteiligen. Um den Machtverhältnissen auf den Grund zu gehen, befragt Barry die asymmetrische Verteilung der Bildungszugänge ebenso wie die starren Geschlechterbilder, die das Alltagsleben in Dakar bestimmen. Zentral ist für sie die Frage: Wie manifestiert sich die Suche der gebildeten Frau im postkolonialen Kontext von Dakar?
Aufbau und Inhalt
Die umfassende Analyse entfaltet sich über sechs Kapitel und ist in drei Abschnitte gegliedert. Der erste Teil (Kap. 1 bis 3) widmet sich der Diskrepanz zwischen dem versprochenem Glück der gebildeten Frau und den gelebten Erfahrungen diplomierter Frauen aus Medina. Beginnend mit einer historisch gerahmten Darstellung der Sozialstruktur Dakars verdeutlicht Barry die Persistenz kolonial-rassistischer Strukturen und macht deren Verstrickung mit den Kategorien class und gender sichtbar. Eine intersektionale Ungleichheitsanalyse zeigt hier, dass die Chancen auf das Glück der gebildeten Frau durch zusammenwirkende Ebenen der Diskriminierung bestimmt werden. Diskriminierungserfahrung ist, so ein entscheidender Befund der Autorin, als Effekt postkolonialer Rassifizierungsprozesse zu verstehen, die Handlungsspielräume entweder eröffnen oder verschließen. Sie definieren die Formen kolonialer Macht und rücken das an westliche Normen orientiertem Glücksmodell für die Frauen aus Medina in unerreichbare Ferne. Dieses Entrücktsein beschreibt Barry als eine Alltagserfahrung, die Schwarze Frauen auf transnationaler Ebene miteinander vereint.
Der zweite Teil der Arbeit erfasst die Perpetuierung kolonialer Herrschaftsstrukturen im postkolonialen Raum und macht die epistemische Gewalt der an den Westen orientierten Bildungsideologie nachvollziehbar. Über zwei sehr umfangreiche Kapitel (Kap. 4 und 5) verdeutlicht Barry die Grenzen des Konzeptes „Bildung als Garant für ein glückliches Leben“. Ausgehend von einer Historisierung des Buch- und Papierdiskurses stellt die Soziologin Bildung in den Zusammenhang des westlichen Zivilisierungsbestrebens und zeigt, dass das Glück der gebildeten Frau ein ebenso exklusives wie diskriminierendes Glücksmodell ist. Aus einer kolonialismus- und rassismuskritischen Perspektive heraus beschreibt sie die Engführung des Buchdiskurses in Afrika und seine bibliophile Ausrichtung als Ausdruck kolonial-rassistischer Gewalt – als eine ideologische Zivilisierungs- bzw. Verwestlichungspraxis, die Strukturen geschaffen hat, die bis in das zeitgenössische Dakar zurückwirken. Mit Hilfe einiger Wortbeiträge zur Rolle des Buches in Afrika kritisiert die Autorin die Dominanz anhaltender Hierarchisierungsprozesse und Grenzziehungen, die sich auch in der Alltagssprache niederschlagen haben und so die koloniale Differenz zwischen dem „Westen und Afrika“ ebenso markieren wie reproduzieren.
Diskussion
Barrys historischer Exkurs über die „Kultur des Papiers“ (Barry 2019, 130) veranschaulicht die Beschränkung des Zugangs zu formaler Bildung durch dominante Buch- und Papierdiskurse und demonstriert die „Wirkmächtigkeit des Kolonialen, das durch ein komplexes, historische gewachsenes, institutionelles Regelwerk aufrechterhalten wird und im Kontext des wissensökonomisch geführten new imperialism, bei dem Herrschaft über Diplome, Universitäten und wissenschaftliche Produktion ausgeübt wird, an Relevanz gewinnt“ (Barry 2019, 128). Um die Prekarität und Ambivalenz zu verdeutlichen in der sich die Schwarze belesene Frau wiederfindet, greift Barry auf einen strategischen Essentialismus zurück. Unerwähnt bleiben dadurch aktivistische Projekte von toubab-esse-s, die einen ebenso partizipativen wie gleichberechtigten Ansatz verfolgen. Als Beispiele sind hier die Projekte des Nachbarschaftszentrums kër thiossane oder das Kulturprojekt At Work zu nennen.
Im weiteren Verlauf ihrer Argumentation zeigt Barry, dass eurozentrische Buchdiskurse den Buchmarkt dominieren und so die Un/Sichtbarkeit afrikanischer Autor*innen regulieren. Als problematisch erweist sich demnach nicht nur die Begrenzung der Bildungszugänge, sondern auch das westliche Monopol des Buchmarktes, das die Ein- und Ausschlusskriterien für afrikanische Autor*innen festlegt und so Wissen eurozentriert. Barry führt hier einen wichtigen Aspekt der bewussten Marginalisierung Schwarzer Subjekte durch hegemoniale Strukturen an, den sie aber nicht weiter ausführt.
Der dritte und letzte Teil der Forschung (Kap. 6), der im Vergleich zu den voranstehenden Abschnitten recht knapp ausfällt, ist eine Auseinandersetzung mit Formen der Assimilationskritik im postkolonialen Kontext. Barry thematisiert darin das Dilemma, in dem sich die Schwarze belesene Frau wiederfindet. Entlang der Darstellung von Geschlechterbildern, den Zugangsvoraussetzungen zu formaler Bildung und den Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die Barry aus ihrem Quellenmaterial extrahiert, wird die Wirksamkeit patriarchaler, klassistischer und kolonial-rassistischer Strukturen im postkolonialen Raum deutlich. Aus feministischer Perspektive heraus, offenbart die Autorin die Unterdrückung der (Schwarzen) Frau durch patriarchale Strukturen und männliche Dominanz. Bildung markiert hier nicht nur die Grenze zwischen Schwarz/weiß, reich/arm sondern auch zwischen Mann und Frau. Sich den heteronormativen Strukturen und Rollenzuschreibungen entgegenzustellen, bedeutet für junge Dakarer*innen sich gegen den Vorwurf der toubabisierung, der Assimilierung an westliche Normen zu wappnen und Strategien zu entwickeln einen selbstbestimmten, unkonventionellen Weg zu gehen. Aus assimilationskritischer Sicht heraus stellt sich die Frage nach alternativen Glücksstrategien.
Die repressive Dimension des Bildungsglücks wird entlang der jungen Frauen greifbar, die sich auf der Suche nach dem Glück der belesenen Frau in die Prekarität und Ambivalenz des Verhältnisses von Bildungsideologie, Geschlechterrolle und kultureller Zugehörigkeit begeben. Die Gedanken von Frantz Fanon (1952; 1961) und Sara Ahmed (2010), auf die sich Barry in ihren Ausführungen bezieht, erscheinen als ebenso wichtige wie fruchtbare theoretische Auseinandersetzungen mit dem Konzept der toubabité. Dieses verleiht den räumlich und zeitlich spezifischen Artikulationen des Kolonialismus und des ihm zugrundeliegenden Rassismus Gestalt und adressiert Formen des intraafrikanischen Rassismus.
Barrys intersektionale Perspektive auf das Bildungsversprechen der toubabité verdeutlicht: Das Streben nach dem Glück der belesenen Frau ist weniger ein Effekt der Assimilierung an die westliche Welt als vielmehr eine Aneignungsstrategie, die in das symbolische Kapital investiert. Die Suche der Schwarzen belesenen Frau ist von dem Wunsch angetrieben, die Grenzen des Frauenbildes neu zu verhandeln und auf andere Art eine Schwarze Frau zu sein. Durch die Aneignung von formaler Bildung schaffen sich die jungen Frauen aus Medina Handlungsspielräume innerhalb der heteronormativen, rassisierten Strukturen Dakars. „Der Blick auf das, was brüchig, dazwischen, gemischt, widersprüchlich erscheint, zeigt, dass die Lebensmodelle, die Schwarze Frauen anstreben oder führen, die Grenzen zwischen toubabité und Africanité immer wieder überschreiten.“ (Barry 2019, 273) Bildung wird hierbei zum Dreh- und Angelpunkt für die Emanzipation von Frauen im postkolonialen Kontext.
Fazit
Die Lektüre des Buches zeigt, dass vielfältige Diskriminierungserfahrungen die Zukunftsvisionen und Hoffnungsbilder der jungen Frauen bestimmen und zugleich als Ausgangspunkt für aktivistische Interventionen dienen. Da in der postkolonialen Ökonomie Bildung Subjekte dazu ermächtigt, autoritative Sprecherpositionen einzunehmen, ist der Erwerb von formaler Bildung als Strategie der Selbstermächtigung und des Empowerments zu verstehen – als Form des Widerstands, die sich, wie die Autorin auch an ihrer eigenen Positionierung darstellt, in Abhängigkeit zur räumlichen Verortung verändert. Barrys multiperspektivische Analyse führt für Dekolonisierungsprozesse wichtige Argumente ins Feld. Ihre vielfältigen Quellen analysiert sie jeweils aus verschiedenen Forschungsperspektiven heraus, wodurch sie einen multidimensionalen Raum öffnet, der die Leser*in einlädt vielfältige Ideen, Strategien und Konzepte als Antwort auf das Fortleben struktureller Ungleichheiten zu entwickeln. Darüber hinaus enthalten vor allem die Kapitel 2, 4 und 5 grundlegende Einblicke, die für eine kritische Weißseinsforschung maßgeblich sind. Die vielfach freigelegten losen Enden, mit denen Barry die prekäre Stellung der Schwarzen belesenen Frau beschreibt, lassen sich zu einem utopischen Zukunftsbild verknüpfen und geben darüber hinausgehend einen umfassenden Blick auf zu schließende Forschungslücken.
Rezension von
Tanja-Bianca Schmidt
M.A, Kunsthistorikerin und Kuratorin
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