Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen
Rezensiert von Dr. Yvonne Niekrenz, 07.01.2020
Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler Verlag (München) 2019. 299 Seiten. ISBN 978-3-8275-0110-3. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR, CH: 33,90 sFr.
Thema
Die deutsche Kolonialgeschichte ist ein Kapitel, das lange Zeit vernachlässigt wurde. Die kurze Episode des deutschen Kolonialismus galt vielen in Deutschland als vergleichsweise harmlos – vor allem im Vergleich zu den ungeheuerlichen Grausamkeiten, die mit der Nazizeit begannen. Die 68er-Studentenbewegung setzte zwar wichtige Impulse, aber von einer Aufarbeitung der Kolonialgeschichte sind wir noch heute weit entfernt. Bartholomäus Grill zeigt, wie stark Imperialismus und Rassismus bis heute das Denken über Afrika prägen. Er bezweifelt, dass wir koloniale Denkmuster überwunden haben und zeigt, wie eng Vergangenheit und Gegenwart miteinander verwoben sind.
Autor
Bartholomäus Grill (geb. 1954) ist langjähriger Afrikakorrespondent – ab 1993 für DIE ZEIT und seit 2013 für Der Spiegel. Bereits mit dem 2003 im Siedler Verlag erschienenen Bestseller „Ach, Afrika“ hat Grill eine differenzierte und kenntnisreiche Reportage vorgelegt. Mit dem Buch „Wir Herrenmenschen“ weist er sich als Experte für deutsche Kolonialgeschichte aus.
Entstehungshintergrund
Als Afrikakorrespondent reiste der Autor kreuz und quer durch den Kontinent und stieß immer wieder auf Spuren der deutschen Kolonialgeschichte (vgl. S. 10). Indem er den bis dahin stumm gebliebenen Zeugen zuhörte, verstand er, warum die afrikanischen Länder bis heute mit den Folgen europäischer Fremdherrschaft zu kämpfen haben. Als Reporter reiste er auch nach China und Papua-Neuguinea, um die Folgen der deutschen Kolonialherrschaft in Kiautschou und dem ehemaligen „Deutsch-Neuguinea“ abzubilden.
Aufbau
Das Buch ist in 13 Kapitel gegliedert. Nach einem einleitenden Abschnitt (S. 7–19), der die Relevanz des Buches herausstellt, skizziert Grill in einer historischen Rückschau den Wettlauf um einen „Platz an der Sonne“ (S. 20–28). Darauf folgen Reportagen zur Spurensuche in den ehemaligen Gebieten des viertgrößten Kolonialreichs der Welt.
- Hundert Jahre Einsamkeit. Deutsch-Ostafrika, die Perle des kaiserlichen Kolonialreichs (S. 29–50)
- Unsere treuen Askari. Schwarze Hilfssoldaten und ihre Rolle bei der Unterwerfung Afrikas (S. 51–61)
- Willkommen im Disneyland. Wie wir die Kolonialzeit verklären und was die Afrikaner davon halten (S. 62–71)
- Der Geisterbaum. Auf der Suche nach einem Schädel, den deutsche Kolonialsoldaten raubten (S. 72–89)
- Frohes Leben überall. Togoland, die kleinste deutsche Kolonie in Afrika (S. 90–117)
- Sechs Pullen Rum. Die Gewaltexzesse und Plünderungen in Deutsch-Kamerun (S. 118–152)
- Gewisse Ungewissheiten. Deutsch-Südwestafrika, das dunkelste Kapitel der deutschen Kolonialherrschaft (S. 153–179)
- Heimat, deine Sterne. Deutsche in Namibia und die Frage des Völkermords (S. 180–203)
- Heil Dir im Siegerkranz! Kiautschou, der imperiale Seestützpunkt in China (S. 204–223)
- Ungleich sind die Stunden. Das Sonnenreich in der Südsee, ein wilhelminisches Verlustgeschäft (S. 224–250)
Das Buch endet mit dem Kapitel „Wir Herrenmenschen. Wie uns der koloniale Blick gefangen hält“ (S. 251–274) – ein Fazit, das auch 100 Jahre nach dem Ende des deutschen Kolonialismus die langen Schatten rassistischen Denkens in der Gegenwart aufzeigt.
Inhalt
Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs endete auch die deutsche Kolonialzeit. Das ist nun 100 Jahre her. Und doch ist das koloniale Erbe bis heute präsent – unübersehbar in den ehemaligen Kolonien und auch in Deutschland. Bartholomäus Grills Buch ist eine Mischung aus Reisebericht, historischer Analyse und journalistischem Debattenbeitrag. Es führt uns unter anderem nach Tansania, Togo, Kamerun, Namibia, Nordostchina und Papua-Neuguinea. Überall dorthin, wo die Gier, die Suche nach Reichtum Spuren der Ausbeutung und Plünderung hinterlassen haben. Und auch Spuren der Vernichtung – wie in Namibia, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, wo sich das grausamste Kapitel deutscher Kolonialgeschichte abspielte.
Mit Beginn des Jahres 1904 erhoben sich die Herero gegen das Kolonialregime. Im August 1904 kam es zur für die Herero sehr verlustreichen Schlacht am Waterberg, in deren Anschluss die Deutschen die Aufständischen in die Omaheke trieben. In der Wüste starben viele Tausende Herero. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Die Mehrheit der Historiker ist sich einig, dass am Fuß des Waterbergs der erste Genozid des 20. Jahrhunderts stattfand. Grill relativiert diese Deutung und greift eine Debatte auf, die er mit dem Kolonialhistoriker Jürgen Zimmerer im Jahr 2016 im Spiegel geführt hat. Grill beschreibt Grausamkeiten, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und unfassbare Brutalität. Auch spricht er von „genozidale[n] Züge[n]“ (S. 263), die der Vernichtungskrieg annahm. Aber mit dem Begriff Völkermord seien die Ereignisse nicht korrekt beschrieben. Eine Position, die ihm viel Protest einbrachte. Aber auch Zustimmung – etwa von vielen Deutschstämmigen in Namibia, die darin eine Verharmlosung der Verbrechen erkennen wollen. Heute leben in Namibia noch rund 20.000 Deutschstämmige, die das Deutschtum in Sprache, Alltagskultur, Bräuchen oder Baustilen pflegen. „Keine andere Ex-Kolonie ist so unverkennbar deutsch geblieben“ (S. 182), schreibt der Autor. Es sind Spuren einer kolonialen Nostalgie, die sich an vielen Orten des Landes finden, etwa in Swakopmund mit seinen Fachwerkbauten; in Windhoek, der Hauptstadt mit der Alten Feste, der Christuskirche oder dem sogenannten Tintenpalast, in dem das namibische Parlament tagt; oder in Kolmannskuppe, einer Geisterstadt, die in den 1920er-Jahren als reichster Ort der Welt galt – bis die Diamantenvorräte erschöpft waren.
Die wilhelminische Kolonialpolitik wurde angetrieben von den Vertretern der Handelshäuser wie beispielsweise der Hamburger Firma Woermann, wie Grill im Kapitel „Sechs Pullen Rum“ schildert. Bis heute hat die im Jahr 1837 gegründete Firma ihren Sitz im Afrikahaus in der Hamburger Innenstadt. Im Eingangsportal begrüßt die Statue eines afrikanischen Kriegers die Eintretenden und verweist auf die Geschichte eines kolonialen Handelsimperiums ebenso wie auf die Anfänge der Globalisierung. Naturalien wie Palmöl und exotische Produkte wurden eingekauft und nach Deutschland importiert, wo sie etwa bei Edeka, der 1898 in Berlin gegründeten Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler, in den Regalen landeten. Exportiert wurden durch Woermann beispielsweise Stoffe, Salz, Reis, Tabak, Werkzeug und vor allem alkoholische Erzeugnisse. Ein wertvoller Naturstoff aus den Kolonien war Kautschuk, dessen Nachfrage stetig stieg. Kautschuk wurde für die Herstellung von Hartgummi benötigt und zu Reifen verarbeitet oder als Isolierung in der Elektroindustrie gebraucht. Auf den Kameruner Plantagen arbeiteten und lebten Lohnsklaven unter menschenunwürdigen Bedingungen. Die Sterblichkeit war sehr hoch, aber die Geschäfte liefen exzellent. Nicht weit vom Afrikahaus liegt die alte Hamburger Speicherstadt. Ein beliebtes Fotomotiv für Besucherinnen und Besucher der Hansestadt. Die backsteinroten Lager- und Kontorhäuser könnten Geschichten vom Überseehandel erzählen, die Hamburger Kaufleuten großen Reichtum bescherten.
Aber nicht nur in Hamburg finden sich (post-)koloniale Spuren, sondern vielfach auch in deutschen Museen, völkerkundlichen Sammlungen und Depots – in Form von geraubten Kulturgütern und Menschenteilen, wie beispielsweise Schädeln. Im Kapitel „Der Geisterbaum“ beschreibt der Autor seine Suche nach einem von deutschen Kolonialsoldaten geraubten Schädel. Es ist der Schädel von Mangi Meli vom Volk der Wachagga, der am 2. März 1900 im Dorf Old Moshi im heutigen Tansania hingerichtet wurde. Im Naturglauben der Wachagga „kommt die Seele eines Toten nicht zur Ruhe, solange seine sterblichen Überreste nicht nach überliefertem Brauchtum bestattet wurden“ (S. 74). Also macht Grill sich auf eine schwierige Suche, die am Ende erfolglos bleibt. Sie zeigt aber die Bedeutsamkeit von Provenienzforschung und Restitution von sterblichen Überresten aus anthropologischen Sammlungen. Tausende geraubte Schädel aus der Kolonialzeit lagern noch in deutschen Depots.
Das Buch von Bartholomäus Grill zählt viele Beispiele auf, die zeigen, wie präsent die koloniale Vergangenheit in Deutschland noch ist. Und wie sich auch neue Spielarten kolonialer Bevormundung zeigen – etwa getarnt als Natur- oder Tierschutz. Fest steht: Die Globalisierung wie wir sie heute kennen, wäre ohne die Kolonialisierung nicht denkbar.
Diskussion
Das Buch gibt differenzierte Einblicke und zeugt von einer Kenntnis, die nur in jahrzehntelanger Arbeit am Thema erlangt werden kann. Grill ist Journalist, kein Historiker und formuliert griffige Sätze, die für interessierte Laien komplexe Sachverhalte darstellen, aber der Wissenschaft an einigen Stellen verkürzt vorkommen mögen. Angesichts des Schatzes an Zeitzeugeninterviews, Aufzeichnungen und Fotos aus vielen Korrespondentenjahren, die in diesem Buch zu den Lesenden sprechen, kann aber so manche Historikerarbeit verblassen. Die Debatte um den Völkermord an den Herero ist ein schwieriges Thema – insgesamt, aber auch für den Autor persönlich, der lange Zeit „nicht die geringsten Zweifel an der Richtigkeit der Völkermord-These“ (S. 161) hatte. Akribisch beschreibt er, wie sich seine Zweifel verdichteten und verteidigt seine Position gegenüber dem Hamburger Historiker Jürgen Zimmerer – manchmal mit recht viel persönlichem Engagement. Die afrikanischen Länder sind Grill eine Herzensangelegenheit, und er bringt sie den Lesenden nahe in einem raffinierten und anspruchsvollen Mix aus Reisereportage und historischer Rekonstruktion. Die beeindruckende Fülle an Details und die an Clifford Geertz (1987) erinnernden „dichten Beschreibungen“ in den Texten machen das Thema greifbar. Und sie machen betroffen – zumal uns bis heute – wie Grill nachvollziehbar macht – „der koloniale Blick gefangen hält“ (S. 251).
Fazit
„Wir Herrenmenschen“ ist eine „Reise in die deutsche Kolonialgeschichte“ ebenso wie eine Bestandsaufnahme des kolonialen Gebarens in der Gegenwart. In eindrucksvollen Reportagen widmet sich Grill allen ehemaligen Kolonien auf dem afrikanischen Kontinent ebenso wie in China und im Südpazifik. Er berichtet von Grausamkeiten ebenso wie von Kuriositäten, von Schuld ebenso wie von Nächstenliebe. Und er zeigt, dass die deutsche Kolonialzeit zwar seit 100 Jahren Geschichte ist, dass unser koloniales Erbe, aber bis heute tief in unserer Wahrnehmung der Welt verankert ist.
Literatur
Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Rezension von
Dr. Yvonne Niekrenz
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Zitiervorschlag
Yvonne Niekrenz. Rezension vom 07.01.2020 zu:
Bartholomäus Grill: Wir Herrenmenschen. Unser rassistisches Erbe: eine Reise in die deutsche Kolonialgeschichte. Siedler Verlag
(München) 2019.
ISBN 978-3-8275-0110-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25950.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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