Andrew Stuart Bergerson: Nationalsozialismus in alltäglichen Interaktionen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 01.08.2019

Andrew Stuart Bergerson: Nationalsozialismus in alltäglichen Interaktionen. Freundschaft und Nachbarschaft in Hildesheim zwischen den Kriegen.
Gerstenberg Verlag
(Hildesheim) 2019.
472 Seiten.
ISBN 978-3-8067-8843-3.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Schriftenreihe des Stadtarchivs und der Stadtbibliothek Hildesheim - 37.
„Historische Gewohnheitserinnerungen“
Wenn Bücher, die in einer Fremdsprache geschrieben sind, in die deutsche Sprache übersetzt werden, ergeben sich – gelingt die Übersetzung – zahlreiche Fragen der Deutung und Bedeutung von Begriffen. Es ist nicht zuletzt die Übersetzungs-, lektorische und herausgeberische Arbeit, die vom Autor intendierte Meinung sach- und bedeutungsgerecht umzusetzen. Das Buch „Ordinary Germans in Extraordinary Times. The Nazi-Revolution in Hildesheim“ wurde vom New Yorker Historiker Andrew Stuart Bergerson 2004 als Dissertation vorgelegt. Dass das Buch erst eineinhalb Jahrzehnte, 2019, in deutscher Sprache erscheint, hat zum einen damit zu tun, dass die notwendigen finanziellen Mittel nicht leicht zu beschaffen waren und es mehrerer Sponsoren dafür bedurfte; zum anderen aber auch, weil bestimmte Begriffe in der bereits 2006 erfolgten Übersetzung des Buches in die deutsche Sprache für den Autor, für Rezensenten und die Literaturkritik zum Teil missverständlich oder als missdeutend verstanden wurden. Als Beispiel kann angeführt werden, dass im Amerikanischen „habit“ = „Verhaltensweise“ verstanden wird, während der Autor damit eher „gewöhnliche Handlung, die auch subtil verändert und manipuliert werden kann“ zum Ausdruck bringen wollte. Die erneute Lektorierung des Originaltextes bringt schließlich den Autor zu der überraschenden Aussage, dass diese (späte) deutsche Fassung der amerikanischen vorzuziehen und damit die langen Verzögerungen im Veröffentlichungsprozess nicht zu bereuen seien.
In den Zeiten von Ego-, Ethnozentrismus, Rassismus und Populismus, von Fake News und Fake Followers wird in lokalen und globalen gesellschaftspolitischen Analysen darauf hingewiesen, dass die gegen- und undemokratischen Tendenzen in der Menschheitsgeschichte nicht neu wären, sondern sich immer wieder ereignet hätten. Es wäre also an der Zeit, dass die Menschen doch aus der Geschichte lernten und die richtigen Schlüsse für ein allgemeingültiges, humanes Leben ziehen könnten.Es sind die Bedenken, wie es gelingen könne, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen (Jos Schnurer, in: Pädagogische Rundschau, 3/2018, S. 363ff).
Im psychologischen, soziologischen, philosophischen und pädagogischen Denken kommt zum Ausdruck, dass positives und negatives menschliches Wirken am besten dadurch zu erkennen und zu ermitteln sei, dass man den Menschen aufs Maul schaue. Diese Motive sind es, die historische Analysen, Biographien und Erzählungen entstehen lassen. Die von Bertolt Brecht in der Parabel „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturio Ui“ benutzte Warnung – „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch“ – wird verwendet, wenn Hier und Heute auf rechtsradikales, nazistisches und populistisches Gedankengut verwiesen wird. Es geht darum, Bollwerke gegen Tendenzen zu bilden, „die Vergangenheit endlich ruhen zu lassen“, die naiven Entschuldigungen: „Davon habe ich nichts gewusst!“, Relativierungen wie „Vogelschiss“ (Gauland) und Ratschläge, die Nachkommen nicht für die nationalsozialistischen Verbrechen verantwortlich zu machen (siehe dazu auch: Christoph Clark, Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25474.php).
Bergerson spricht von einer „mikropolitische(n) Revolution“, wenn er den Fragen nachgeht, wie es möglich war, dass die nationalsozialistische, ideologische und menschenfeindliche Machtergreifung durch die Mehrzahl der Menschen in den ländlichen und städtischen Regionen befürwortet und unterstützt wurde. Aber warum ist Bergerson bei seinen Forschungen, wie sich Rassismus, Nationalsozialismus und Ideologismus, „das Gift des Nazi-Regimes (…) ins Private schlich“, auf Hildesheim gestoßen? Nicht dadurch, dass sich in der niedersächsischen Stadt zwischen Hannover und Braunschweig besonders viele Nazis hervortaten, sondern weil die Situation in Hildesheim so „normal“ war und dadurch exemplarisch für Deutschland stehen kann. Der Historiker sieht in der späten deutschen Veröffentlichung seiner Forschungen die Chance, den deutlichen, lokalen und globalen Anzeichen von Faschismus alltägliche, vergangene Lebens- und Geschichtserfahrungen entgegen setzen zu können (Hildesheimer Allgemeine Zeitung vom 15.6.2019).
Aufbau und Inhalt
Die Studie über die Rassenpolitik des nationalsozialistischen Regimes fokussiert insbesondere die Alltags-, Nachbarschafts-, sozialen, kulturellen, stadtteilbezogenen und weltanschaulich orientierten Kontakte der Hildesheimer Bevölkerung. Der Forscher richtet dabei seine Aufmerksamkeit nicht zuallererst auf „typisierte Personengruppen wie z.B. Kollaborateure, Opfer, Widerstandskämpfer, Arbeiter, Frauen oder Juden“, sondern er beschreibt stattdessen, „wie Hildesheimer auf dem halbdurchlässigen Terrain zwischen der öffentlichen und privaten Sphäre mit Nachbarn und Freunden umgingen“. Mit der Forschungsarbeit will der Autor „en detail untersuchen, wie gewöhnliche Hildesheimer dabei halfen, den Nationalsozialismus zu inszenieren, zu praktizieren und im Alltag fest zu verankern“.
Narrative Interviews und Erzählungen von Probanden über ihre eigenen Erinnerungen, Beteiligungen und Distanzierungen während der Nazi-Zeit füllen den größten Teil der Forschungsarbeit. Keiner der anonymisierten Interviewten, von denen die meisten in der Zwischenzeit verstorben sind, sagt aus, bei den nationalsozialistischen Verbrechen direkt mitgemacht zu haben. Diese Einstellungen bezeichnet Bergerson – originell wie zutreffend – als „Epistemologien des Holocaust“. Er betont jedoch ausdrücklich, dass es ihm bei der Forschungsarbeit nicht darum geht, von „Erbschuld“ zu sprechen; er will vielmehr deutlich machen, dass in der Geschichtsschreibung und Gegenwartsanalyse die Frage nach „Normalität“ kritisch betrachtet werden muss (vgl. dazu z.B. auch: Heiner Hastedt, Hg., Deutungsmacht und Zeitdiagnosen, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/25798.php).
Neben dem Vorwort des Herausgebers, des Leiters des Hildesheimer Stadtarchivs, Prof. Dr. Michael Schütz, den Bemerkungen des Autors zur deutschsprachigen Ausgabe des Buches, und der Einleitung, die er als „Neue Sitten“ titelt, gliedert Andrew Stuart Bergerson die Studie in zwei Teile:
- Im ersten Teil geht es um „Taktiken des Eigensinns“, in denen er Aspekte der Freundschaft und Nachbarschaft im Hildesheim der 1920er Jahre thematisiert. Es sind normale, alltägliche und überkommene soziale Gesten und Gewohnheiten, wie z.B. das Grüßen, Motive des gesellschaftlichen Umgangs und Aufstiegs, von Tausch-, Kaufbeziehungen und Moralvorstellungen.
- Im zweiten Teil werden „Strategien von Herrschaft“ und Veränderungen in den 1930er Jahren dargestellt, mit den ideologischen Forderungen nach „Gleichschaltung“, den gesellschaftlichen Polarisierungen, dem machtbestimmten Diktat der Verwaltung von Geselligkeit, und den „Epistemologien der Normalität“ bei alltäglichen Interaktionen. Im Schlusskapitel diskutiert der Autor, wie veränderte, diktierte und angenommene neue Gewohnheiten menschenverachtende, rassistische und populistische Einstellungen und Verhaltensweisen hervorbringen und Menschen zu Unmenschen machen können.
Polykratische Herrschaftssysteme, wie sie sich im Nationalsozialismus und Faschismus herausbildeten, stützen sich bei ihrer diktatorischen Machtausübung auf den Alleinvertretungsanspruch, auf die völlige Abgabe der Individualität von Individuen und Klassen an das System, und nicht zuletzt auf denunziatorische Haltungen. „Indem sie untereinander um mehr Macht und einen höheren sozialen Status eiferten und dabei ihre Sitten der Geselligkeit an den Grundsätzen des nationalsozialistischen Regimes ausrichteten, ähnelte ihr Alltag dem polykratischen Herrschaftssystem, in dem sie lebten“. Hildesheim, als typische provinzielle Mittelstadt unterschied sich von den vergleichbaren Wohnorten in der Weimarer Republik und im späteren Nazi-Deutschland kaum: Alltagskulturelle Mentalitäten, konfessionell gemischte Einwohnerschaft und ein eher distanziertes politisches Denken bestimmte das Leben der Menschen. Sie fühlten sich als typisch Deutsche. Bei den insgesamt 36 Interviews, auf die sich der Autor bei seiner Forschungsarbeit stützt, handelt es sich jeweils zur Hälfte um Frauen und Männer; die Standes- und Klassenverteilung umfasst dabei das Besitz- und Bildungsbürgertum, den Alt- und Neumittelstand, Handwerker, Arbeiter und Hausfrauen.
In der Mentalitätsforschung wird immer wieder auf die unterschiedlichen Distanzgewohnheiten und -erfahrungen verwiesen; etwa, dass die Süddeutschen eher oberflächlich nähere und engere Kontakte pflegten, während die Norddeutschen sich zurückhaltender, bei der Intensivierung der Begegnungen jedoch umso verlässlichere Bekanntschaften eingingen. Lotte Schohl (anonomysiert) drückte das in einem Interview so aus: „Nachbarschaft war was ganz Normales (…) Man kannte sich. Man grüßte sich. Man erzählte auch. Ich als Kind habe gar nicht so viel darüber nachgedacht weiter, weil die Nachbarschaft ja nicht so in unser Haus trat“. In mehreren Fallstudien erläutert der Autor den festgefügten, selbstverständlichen, klassen-, generationen- und konfessionsbestimmten Umgang der Hildesheimer miteinander. Die Moralvorstellungen des „Sowas tut man nicht!“ übertrugen sich schnell in Begrifflichkeiten und Erwartungshaltungen wie: „Sauberkeit“, und zwar im äußerlichen wie im inneren Sinn. „Verschmutzung“ als räumlicher Zustand wurde als kulturelle und politische Verschmutzung gegenüber Menschen übertragen, die „anders sind“. Propagierte und gesteuerte Meinungen wie „Juden sind…“ wurden bewusst und unbewusst übernommen und galten bald als Common Sense.: „Auch in den 1930er Jahren verhandelten Hildesheimer das konfliktbeladene Spannungsverhältnis von Eigensinn und Herrschaft mit den sozialen Techniken, und sie trugen dadurch aktiv dazu bei, dass Hildesheim faschistisch wurde“.
„Der deutsche Gruß“ wurde zum Kennzeichen, Zugehörigkeits- und Zustimmungssymbol. Wer nicht mit der Hitlergeste grüßte, war verdächtig. Er musste nachbarschaftlich, informell und formell beobachtet und notfalls „ausgeschaltet“ werden. Das war nicht Denunziation, sondern „Dienst am Volk“. Die Parolen – „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns!“ und „Deutschland, heiliges Wort“, wie es im „Soldatenliederbuch“ (1940) hieß – wurden im Alltag, in der Schule, im Betrieb, bei Tanzveranstaltungen, Volksfesten und SA-Versammlungen eingeschliffen. Regelmäßige (Pflicht-) Spenden, etwa für das „Winterhilfswerk“, wurden zu öffentlichen Listen-Bekenntnissen, auch was die Höhe der Spende betraf. Die „Gleichschaltung“ aller Vereine und Initiativen in dîe NS-Verbände ließ kaum Raum für Individualität, und schon gar nicht für Widerstand. Der Gewerkschafter und Antifaschist Hans Teich (+1975) hat in dem Buch „Hildesheim und seine Antifaschisten“, das 1979 von der „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschisten / Kreisvereinigung Hildesheim“ herausgegeben wurde, auf den durchaus bemerkenswerten, wenn auch eher unwirksamen Widerstand gegen die Übermacht der Nazis aufmerksam gemacht. Diese und zahlreiche andere Quellenmaterialien hat Bergerson ausgewertet.
Der diktierte, gleichzeitig aber auch überwiegend willige Einstellungswandel bei der Unterscheidung der Hildesheimer in Arier und Andersartige führte dazu, ehemalige Bekanntschaften und Toleranzen aufzukündigen, bei vorhersehbaren Begegnungen auf die andere Straßenseite zu wechseln und nicht weiter nachzufragen, wenn plötzlich jüdische Nachbarn verschwanden. Der Autor weist in diesem Zusammenhang die historiographische Einschätzung zurück, dass bei der Methode der Oral History wesentliche Aspekte einer objektiven Geschichtsanalyse nicht berücksichtigt oder gar verfälscht werden könnten. Er erkennt vielmehr im traditionellen, seit Jahrhunderten entwickelten „Obrigkeits- und ethnozentristischem Denken“ der Deutschen die Gründe für die bereitwillige Anpassung und aktive Zustimmung zur Nazi-Ideologie. Der Antisemitismus wurde nicht von den Nazis erfunden; sie benutzten die jahrhundertealten Ressentiments und Vorurteile gegen Juden für ihre Rassenpolitik.
Fazit
Nationalsozialismus und Faschismus kamen nicht von einem anderen Stern auf die Erde und nach Hildesheim; sie haben sich entwickelt aus den diktierten und selbstgemachten, alltäglichen Gewohnheiten und Einstellungen: „Gewöhnliche Deutsche brachten ihre Ansprüche auf Status und Macht über Gepflogenheiten der Geselligkeit zum Ausdruck, die ihren Handlungen einen Anstrich von Normalität verliehen“. Mit dieser wissenschaftlichen Einschätzung setzt sich Bergerson von der Goldhagenschen Auffassung ab, dass „Hitlers willige Vollstrecker“ (eigentlich) ganz gewöhnliche Deutsche gewesen seien. Dies provoziert die interessante, in den Geschichts- und Zeitanalysen bisher kaum diskutierte Frage, ob es je ‚gewöhnliche‘ Menschen an sich gegeben hat. Das führt hin zu der (eigentlich) bedeutsamen Feststellung, wie sie bereits in der aristotelischen Philosophie zum Ausdruck kommt: Der Mensch ist ein „zôon politikon“, ein politisches Lebewesen, das aufgrund seiner Vernunftbegabung in der Lage ist, Allgemeinurteile zu bilden, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden vermag und das sich bewusst ist, als Individuum nur in einer humanen Gemeinschaft ein gutes, gelingendes Leben führen zu können.
Bergerson hat auch, in Zusammenarbeit mit der University of Kansas City, der FAG-Göttingen, und dem Hildesheimer Bürgerradio „Tonkuhle“ (Fm 105,3 / Live Stream Kabel 97,85), das Projekt „Trug und Schein. Ein Briefwechsel. Geschichte entschleunigen, Geschichte hören, crowdsourcingm history“ initiiert. Unter www.trugundschein.org wird der Briefwechsel von zwei jungen Menschen über den Alltag während des Zweiten Weltkriegs und des Naziregimes zum Lesen und Kommentieren und die Hörfassungen als Podcast angeboten.
Zahlreiche Farb- und SW-Abbildungen, Statistiken und die Benutzung von Archivmaterialien und Fundstellen, das alphabetisch geordnete Schlagwortregister und die 19seitigen Literaturhinweise, machen die Studie „Nationalsozialismus in alltäglichen Interaktionen“ zu einem wichtigen Nachschlagewerk bei der weiterhin notwendigen Aufarbeitung der nationalsozialistischen und faschistischen Politik, insgesamt und lokal. Und die sind weiterhin notwendig.
Gewissermaßen aus eigenem Anlass und Erfahrung erlaubt sich der Rezensent auf die Initiativen hinzuweisen, die von der Robert-Bosch-Gesamtschule (RBG), in der Hildesheimer Nordstadt seit Anfang der 1980er Jahre durchgeführt werden: Eine Schulpartnerschaft mit einer israelischen Schule, Begegnungsprogramme im Rahmen der niedersächsischen Lehrerfortbildung und das Projekt „Beth Shalom“, bei dem eine Schülerarbeitsgemeinschaft den jüdischen Friedhof auf dem abgetrennten Bereich des Nordstadt-Friedhofs pflegt, das Totenhaus renoviert und die Gräber registriert und digitalisiert hat (Hans-J. Hahn, Das Projekt Jüdische Kapelle, 1984, 60 S.; sowie: Hans-Jürgen Hahn, Hg., Gesichter der Juden in Auschwitz. Lili Meiers Album, Berlin 1995, 200 S.). Bergerson hat leider diese Aktivitäten in seiner Studie nicht berücksichtigt. Die Aktivitäten münden in die An- und Herausforderungen, die nationalsozialistischen Verbrechen nicht zu vergessen und im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Das geht nur mit Aufklärung und lebenslanger Bildung!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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