Paul Friese: Kultur- und migrationssensible Beratung
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 18.09.2019
Paul Friese: Kultur- und migrationssensible Beratung. Mit Online-Materialien.
Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
184 Seiten.
ISBN 978-3-7799-6029-4.
D: 16,95 EUR,
A: 17,50 EUR,
CH: 23,90 sFr.
Reihe: Basiswissen Beratung.
Thema
Der Autor blickt zurück auf mehrjährige Erfahrungen im konzeptionellen Aufbau und der praktischen Arbeit einer interkulturellen Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Einleitend skizziert er dezidiert seine vorrangigen Intentionen für die Abfassung des vorliegenden Bandes. „Wichtige Voraussetzung für die Aneignung interkultureller Kompetenzen ist eine gelingende interkulturelle Ausrichtung eines Jugendhilfeträgers, d.h. insbesondere dessen Bereitschaft, sich mit der Thematik interkulturellen Zusammenlebens und ihrer Auswirkung auf die fachliche Arbeit zu beschäftigen… Die Idee, dass Menschen mit Migrationshintergrund sich an das Versorgungssystem anpassen sollten, um Unterstützung, Beratung und Therapie zu erhalten, tritt also zurück gegenüber dem Konzept, dass das System selbst und seine Repräsentanten (Fachkräfte und anderes Personal) sich für Migrationsklientel öffnen und qualifizieren müssen. Partizipation von Menschen mit Migrationshintergrund, ihr gleichberechtigter Zugang zu gesellschaftlichen, sozialen und politischen Prozessen und zu den hierfür relevanten Institutionen ist erklärtes Ziel“ (9 f).
Dass dafür in Jugendhilfe und psychosozialer Versorgung besondere Anstrengungen notwendig sind, um das Migrationsklientel überhaupt zu erreichen, erscheint dem Autor selbstverständlich. Kritisch setzt er sich von einem statischen Kulturverständnis ab und plädiert für einen „dynamischen und durchlässigen Kulturbegriff“ (12). Damit bezieht der Autor eine klare fachliche Position und liefert eine überzeugende kontextuelle Rahmung für die folgenden Ausführungen.
Aufbau
Der Aufbau des Buches gliedert sich nach dieser skizzierten kurzen Einführung in vier Abschnitte:
- Fakten zum Thema Interkulturalität
- Häufige Problemkonstellationen und Fragestellungen, aber auch Ressourcen
- Niedrige Zugangsschwelle und gute Kommunikation als Basis der Beratung
- Interkulturelle Kompetenz in der Beratung,
dem sich ein „Schlusskapitel“ anschließt. Ein umfangreiches, aktuelles Literaturverzeichnis und Hinweise zu den über das Buch zugänglichen Online-Materialien runden den Band ab.
Inhalt
Fakten zum Thema Interkulturalität
Eingedenk seiner Erfahrung, dass grundlegende Informationen über die Geschichte der Migration in Deutschland, die Vielfalt und Struktur der eingewanderten Menschen und die relevanten gesetzlichen Regelungen nicht selbstverständlich bekannt sind, stellt Friese seinen Ausführungen zur Beratungspraxis eine knappe Zusammenfassung zu diesem Fragen voran und beschreibt grob die vorhandene Infrastruktur für Beratung und Hilfe für Menschen mit Migrationshintergrund. Er benennt den Familiennachzug Ende der siebziger Jahre, die Verabschiedung des neuen Zuwanderungsgesetzes 2004 und die verstärkte Zuwanderung von Geflüchteten 2015 als wesentliche Zäsuren in der Migrationspolitik und deutet deren Auswirkungen auf das Praxisfeld an.
Mit Verweis auf die SINUS-Studie zu „Migranten-Milieus“ aus dem Jahre 2008 und der Skizzierung aktueller Entwicklungen regt er anschaulich dazu an, das eigene Bild von der MigrantInnenpopulation zu differenzieren und die Vielfalt dahinterstehenden Lebenswelten und -entwürfe zu erkennen. Wichtig ist dabei auch zu erkennen, in welcher Phase der Migration sich die Menschen aktuell befinden. Dazu referiert der Autor knapp die fünf Phasen der Migration nach Slutzki (1998) und deren Weiterentwicklung. Dabei betont er „dass das kritische Lebensereignis Migration individuell sehr unterschiedliche Prozesse in Gang setzt“ (31) und deshalb die Aufgaben und Herausforderungen für Beratung und Begleitung sehr verschieden sein können.
Häufige Problemkonstellationen und Fragestellungen, aber auch Ressourcen
Gelingende kultur- und migrationssensible Beratung bedeutet „sich ständig neu auf die aktuell in der Beratung befindliche Familie einzustellen, ohne sie durch zuvor erworbenes Wissen über Kulturen, Religionen und Nationalitäten und früher gemachte Beratungserfahrungen in einen Bewertungsrahmen zu zwängen, der ihr möglicherweise nicht gerecht wird“ (41). Gleichwohl lassen sich wiederkehrende Beratungsanlässe und -gegenstände beschreiben, die sich aus dem Alltag und der Lebenssituation der MigrantInnen ergeben. Friese nennt hier vor allem
- den Umgang mit Behörden, Ämtern und fremden Institutionen,
- Schwierigkeiten in der sprachlichen Verständigung und im Beziehungsaufbau,
- Besonderheiten der Interaktion im interkulturellen Beratungsprozess,
- (kulturspezifische) Genderaspekte,
- kommunikative Hindernisse,
- migrationsbedingte Belastungsfaktoren und
- besondere Belastungsfaktoren für Kinder und Jugendliche.
Für diese Beratungsanlässe beschreibt er prägnant den jeweiligen Entstehungskontext und dessen Auswirkungen auf den Beratungsprozess und macht diese teilweise durch anschauliche Praxisbeispiele konkret. Diesen Herausforderungen stellt er aber auch die besonderen Schutzfaktoren und Ressourcen in Migrantenfamilien gegenüber. „Nach Schutzfaktoren, Sicherheit und Stabilität gebenden Einflüssen zu suchen und diese zu fördern, kann eine produktive und positive Bearbeitung der Beratungsanliegen erheblich erleichtern“ (63). Dazu gehören beispielsweise häufig eine generationsübergreifende, meist starke Familienorientierung, die Mehrsprachigkeit der Kinder und Jugendlichen, ein erhöhtes Bildungsbewusstsein in vielen Familien, eine hybride, flexible Identität und damit die Fähigkeit, traditionelle Wertstrukturen und neue Lebensentwürfe in Einklang zu bringen. Der Autor moniert eindringlich, dass in der Praxis Sozialer Arbeit häufig eine problemorientierte Sicht vorherrscht und plädiert für eine stärker ressourcenorientierte Sichtweise.
Niedrige Zugangsschwelle und gute Kommunikation als Basis der Beratung
Im darauffolgenden Abschnitt seiner Ausführungen wendet sich Friese zunächst den strukturellen Bedingungen einer kultur- und migrationssensiblen Beratung zu. Dabei stellt sich die Frage, wie gut die Beratungsstelle über die Struktur der MigrantInnen und migrationsspezifische Bedarfe informiert ist und welche Möglichkeiten es gibt, an relevante Informationen zu kommen. Der Autor gibt hierfür zahlreiche Anregungen, ermutigt zur Kooperation mit Kitas und Schulen und plädiert für eine differenzierte institutionelle Vernetzung im Sozialraum. Kritisch ist hier anzumerken, dass sich der Fokus des Autors vorwiegend auf professionelle Einrichtungen der Sozial- und Bildungsarbeit konzentriert, wohingegen Migrantenselbsthilfeorganisationen oder informelle Gruppierungen und Treffpunkte nur am Rande erwähnt werden.
Er gibt auch praktische Hinweise für die Gestaltung einer positiven Willkommensatmosphäre in der Einrichtung und illustriert diese mit praktischen Beispielen. Zentrales Medium der praktischen Beratungsarbeit ist die Kommunikation. Aus diesem Grund widmet der Autor der Kommunikation in der Beratung viel Raum. Da davon auszugehen ist, dass die BeraterInnen selbst nur in seltenen Fällen die „Fremdsprache“ der MigrantInnen beherrschen bzw. diese nicht immer Deutschkenntnisse mitbringen, die für eine zielführende Kommunikation im Beratungsprozess ausreichen, ist es erforderlich, in der Kommunikation sensible und kreativ Kommunikationsformen und -medien zu entwickeln, die entstehende bzw. vorhandene Verständigungsprobleme produktiv überbrücken. Dies können Formen der nonverbalen Kommunikation, die Arbeit mit Symbolen und Piktogrammen oder der gezielte Einsatz einfacher Sprache sein. Der Autor gibt dafür anregende und nachvollziehbare Praxisbeispiele, die auch die eigene Fantasie anregen.
Ein besonderes Kapitel der Kommunikation ist der Einsatz von „mitgebrachten“ Sprachmittlern (Kinder, andere Familienmitglieder, Nachbarn o.ä.) bzw. die Arbeit mit professionellen Dolmetschern. Beides verändert den Beratungskontext grundlegend, weshalb der Autor an dieser Stelle ausführlich die Vor- und Nachteile erörtert. „Sprachkompetenz alleine reicht auch nicht aus: Kenntnis einer erlernten Fremdsprache (in Abgrenzung zur Muttersprache) muss nicht unbedingt bedeuten, dass auch die kulturelle Brückenfunktion … in gleicher Weise erfüllt werden kann wie von einem/einer Muttersprachler/in oder dass die Akzeptanz seitens der Klientel trotz sprachlicher Verständigungsmöglichkeit jeweils die gleiche ist. Hier spielen über die Sprachkompetenz hinaus kommunikative Kompetenzen und andere Persönlichkeitsmerkmale der Fachkräfte eine besondere Rolle“ (87).
Interkulturelle Kompetenz in der Beratung
Dieser Abschnitt geht der Frage nach, welche Anforderungen migrations- und kultursensible Beratung an die Fachkräfte stellt und welche Qualifikationen und Haltungen für diese Arbeit erforderlich sind.
Dazu stellt der Verfasser zunächst eine Reihe sehr unterschiedlich akzentuierter Definitionen interkultureller Kompetenz vor. Die umfassendste und differenzierteste Beschreibung findet sich bei Leenen u.a. (2013), der zwischen „… interkulturell relevanten allgemeinen Persönlichkeitseigenschaften (u.a. Ambiguitätstoleranz, kognitive Flexibilität und emotionale Elastizität), interkulturell relevanten Kompetenzen (u.a. differenzierte Selbstwahrnehmung, Fähigkeit der Rollen- und Perspektivübernahme), spezifischen Kulturkompetenzen (z.B. Sprachkenntnisse, interkulturelle Vorerfahrungen, spezielles Deutungswissen) und kulturallgemeinen Kompetenzen (z.B. Bewusstheit der Kulturabhängigkeit des Denkens, Deutens und Handelns)“ unterscheidet (113).
Ausführlich und anschaulich erläutert der Autor eine Reihe relevanter Komponenten interkultureller Kompetenz, wobei die Abgrenzung zwischen allgemeinen Sozialkompetenzen, die für jedes Praxisfeld Sozialer Arbeit von Bedeutung sind, und spezifisch interkulturellen Kompetenzen unklar bleibt.
Friese ergänzt seine Beschreibung notwendiger individueller Kompetenzprofile der Fachkräfte durch eine nachdrückliche Aufzählung der strukturellen Voraussetzungen auf Seiten des Trägers.
Einen besonderen Schwerpunkt bilden seine Ausführungen zu einer kultur- und migrationssensiblen Diagnostik und einem damit verbundenen sensiblem Fallverstehen. Hier bezieht er sich vor allem auf das Beratungsmodell von Norbert Kunze (2018), das er ausführlich beschreibt und hinsichtlich seiner Praxisrelevanz und -anwendung diskutiert. Zu den wichtigen Aspekten einer kultur- und migrationssensiblen Beratungsarbeit auf Seiten des Trägers gehört auch das interkulturelle Team, dessen spezifische Dynamik der Autor knapp skizziert und für dessen Kooperation er wichtige Praxishinweise gibt. Eher stichwortartig umreißt er auch die Besonderheiten präventiver Arbeit, die spezifische Herausforderungen eines migrationssensiblen Kinderschutzes sowie die Arbeit mit Geflüchteten.
In seinem „Schlusskapitel“ überschriebenen kurzen letzten Abschnitt des vorliegenden Buches unternimmt der Verfasser schließlich den Versuch, auf knapp vier Seiten die aus seiner Sicht zentralen Aussagen seines Buches zusammenzufassen. Ein umfangreiches, aktuelles Literaturverzeichnis schließt den Band ab.
Ergänzend zu dem gedruckt vorliegenden Buch erhalten LeserInnen Zugang zu Online-Materialien. Dabei handelt es sich um Checklisten, die Konzeption der Beratungseinrichtung des Autors, Beispiele für Elterninformationsblätter etc.
Fazit
Das vorliegende Buch ist aus der Praxis für die Praxis geschrieben. Die Ausführungen sind durchweg verständlich und plausibel und bieten eine Reihe von hilfreichen Anregungen für die Gestaltung einer gelingenden migrations- und kultursensiblen Beratungsarbeit. Dieser überzeugende Praxisbezug geht allerdings auf Kosten einer theoriegeleiteten systematischen Herleitung und Begründung eines migrations- und kultursensiblen Beratungskonzepts. Stattdessen hat man es streckenweise mit einem gut gefüllten Zettelkasten zu tun, mit dem Spiegelstrich für Spiegelstrich systematisch abgearbeitet wird.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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Zitiervorschlag
Willy Klawe. Rezension vom 18.09.2019 zu:
Paul Friese: Kultur- und migrationssensible Beratung. Mit Online-Materialien. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2019.
ISBN 978-3-7799-6029-4.
Reihe: Basiswissen Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25960.php, Datum des Zugriffs 10.11.2024.
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