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Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock et al. (Hrsg.): Die Neuen Naturtherapien

Rezensiert von Prof. Dr. Hans Waldemar Schuch, 18.07.2019

Cover Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock et al. (Hrsg.): Die Neuen Naturtherapien ISBN 978-3-8498-1318-5

Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock, Ralf Hömberg (Hrsg.): Die Neuen Naturtherapien. Handbuch der Garten-, Landschafts-, Wald- und Tiergestützten Therapie, Green Care und Green Meditation. Band I: Grundlagen – Garten- und Landschaftstherapie. Aisthesis (Bielefeld) 2018. 1008 Seiten. ISBN 978-3-8498-1318-5. 48,00 EUR.

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Aufbau

Das umfangreiche Buch umfasst neben Geleitwort und einer Einführung 4 Teile:

  1. Theorie,
  2. Gartentherapie,
  3. Landschaftstherapie,
  4. Weiterbildung.

Die Deutsche Nationalbibliothek bietet Einblick in das vollständige Inhaltsverzeichnis (vgl. Link bei den bibliografischen Angaben).

Ausgewählte Inhalte

Im Folgenden konzentriere ich mich auf das Projekt der Naturtherapie als solches sowie auf einige zentrale Ansichten und bemerkenswerte Aussagen der Herausgeber und Haupt-Autoren.

Zunächst wäre die Frage zu klären, welchen Stellenwert die Naturtherapie in einem phänomenologisch-erlebnistheoretisch begründeten Verfahren, wie die Integrative Therapie es darstellt, einnimmt. Vor allem gilt es, ein mögliches Missverständnis auszuschließen: Naturtherapie im Kontext der Integrativen Therapie bedeutet kein „zurück zur Natur“, wie es die romantische Naturphilosophie einst nahe legte. Es geht gerade nicht um eine Wiederbelebung von Physikalismus. Es geht auch nicht darum, die Erkenntnistheorie zu naturalisieren und sich bei den empirischen Wissenschaften einzuschmeicheln (Porty 1993, 7). Es ist vielmehr erkenntniskritisch zu problematisieren, dass im Vordergrund der konventionellen Wahrnehmung von Natur meist die Tendenz steht, die Natur zu objektivieren. Die Objektivierung der Natur vollzieht sich erfahrungsgemäß auf mehreren Ebenen, zum einen in Form der Naturwissenschaft und zum andern als Gegenstand der Bearbeitung und Aneignung. Beide Ebenen umfassen sowohl Theorie als auch Praxis (vgl. Virilio 1997).

Integrative Naturtherapie verlangt deshalb und demgegenüber eine philosophische Einordnung. Was bedeutet es, das Subjekt von der Natur aus zu verstehen? Wenn wir phänomenologisch-erlebnistheoretisch das Subjekt als Ausgangspunkt der Naturbetrachtung ansehen und mit Merleau-Ponty (1966) den Chiasmus von Sehendem und Gesehenen unterstellen, kann das Projekt, das Subjekt von der Natur aus zu verstehen, als Reflexion des Subjekts in seiner Lebenswelt verstanden werden. Denn auch die radikalere Formulierung, die Welt von der Welt her zu verstehen, kommt über den Chiasmus, das wechselseitige Eingelassensein, Verflochtensein von Sehendem und Gesehenen nicht hinaus.

Dies gilt es zu bedenken, wenn es dann heißt, mit den Konzepten der Ökologisation und der Ökologizität Entwicklungsprozesse von der Natur / der Welt / der Ökologie her zu denken – und nicht primär vom Menschen her. Wer Lebewesen untersucht, ist selber eines. Es handelt sich immer um Wissenschaft des Lebens in der ersten Person. Ein Subjekt untersucht Subjekte.

Wir begegnen dann im Kontext der programmatischen, achtsamen Hinwendung zur Natur Ausführungen wie „Leibsein heißt Weltsein“, sowie „sinnliche Leiblichkeit“ und „leibliche Sinnlichkeit“ – mit Rückgriff auf Ludwig Feuerbachs „emanzipatorische Sinnlichkeit“ (Schmidt 1973). Feuerbach hatte den natürlichen Menschen kulturell in den Mittelpunkt seiner Naturphilosophie gestellt. Wenn wir anschließend zwischen Natur und Kultur unterscheiden, davon reden, der Mensch sei ein Natur und Kulturwesen, dann nehmen wir eine Unterscheidung auf, die verdecken könnte, dass auch unser Begriff von Natur ein kultureller ist. Die Natur ist Konvivialitätsraum, der phänomenologisch erlebt und hermeneutisch verstanden werden will. Geht es doch um das Erleben und Begreifen unseres Mit-Seins: Wir sind Teil des mundanen Lebens.

Es geht also nicht um eine Abkehr von der transversalen Moderne durch Idealisierung von Natur oder Rückkehr zur Natur. Es geht schon gar nicht um eine romantisierende Naturverklärung. Zumal man damit in schlechte Gesellschaft geraten kann. Es geht nicht um Regression und auch nicht um esoterische Progression. Es geht um Phänomenologie und Hermeneutik, um Wahrnehmung und Sinnverstehen.

Letztlich führt die Wende hin zur Natur wieder zum Subjekt, zum Thema der komplexen Achtsamkeit. Es führt zu einem Menschenbild, das versucht, den Menschen in seiner Vielfalt zu erfassen, und zu einem Weltbild, das den Menschen als Teil im großen Ganzen der Lebens- und Weltzusammenhänge zu verstehen sucht. Hilarion Petzold: „Wenn immer wir uns unserer Ökologiziät, unserer Naturverwurzeltheit bewusst werden und wir mit offenen Sinnen und in ‚komplexer Achtsamkeit‘ die Reiche der Natur betreten, wird uns unsere unabdingbare Zugehörigkeit (convivialité, connectedness) zu ihr klar. Natur verweist uns an jeder Stelle, wo wir sie in einer primordialen, tiefgreifenden und zugleich breit umfassenden Weise erfahren, auf unsere Verantwortung für sie und für uns, weil wir sie dann – und zugleich uns selbst – in der Qualität der essentiellen, konvivialen Teilhabe alles ebendigen erleben. Wir erfassen unser Mit- Sein: Ja, wir sind Teil des mundanen Lebens!“

Ganz in diesem Sinne spricht sich Hilarion Petzold nachhaltig für die Praktik der „Green Meditation“ aus.

Die therapeutische Wende zur Natur ist nicht nur eine theoretische, sondern auch eine praxeologische. Petzold benennt vier Anwendungsbereiche der Naturtherapie:

  1. Integrative tiergestützte Therapie (ITGT),
  2. Integrative Garten und Landschaftstherapie (IGLT),
  3. Integrative Waldtherapie (IWT),
  4. Wasser- und Klimatherapie, Green Meditation (IGM).

Zum Schluss herauszuheben, weil überaus berührend, ist das Episkript. Hilarion Gottfried Petzold beschreibt darin seine Erfahrung mit der Therapie seiner Krebserkrankung. Er konnte durch diese strapaziösen Prozeduren, die ihn an die Grenze seines Lebens führten, nur mit Hilfe der Green Meditation gehen.

Fazit

Das Buch ist ein Handbuch. Es erfüllt diese Aufgabe ausgezeichnet. Ich kenne nichts Vergleichbares. Die zahlreichen Beiträge decken ein weites thematisches Spektrum ab. Sie verschaffen einen ausgezeichneten Überblick über das Feld der Naturtherapie und reichen von grundsätzlichen Überlegungen zur Natur über Darstellungen naturtherapeutischer Ansätze bis hin zu praxeologischen Aspekten.

Literatur

  • Merleau-Ponty, Maurice (1966): Phänomenologie der Wahrnehmung. München (Fink).
  • Porty, Richard (1993): Eine Kultur ohne Zentrum. Stuttgart (Reclam).
  • Schmidt, Alfred (1973): Emanzipatorische Sinnlichkeit. Ludwig Feuerbachs anthropologischer Materialismus. München (Carl Hanser).
  • Virilio, Paul (1997): Rasender Stillstand. Frankfurt a.M. (Fischer).

Rezension von
Prof. Dr. Hans Waldemar Schuch
Lehr- und Kontrollanalytiker, Lehrsupervisor, Vis. Professor am Departement für Psychotherapie und Biopsychosoziale Gesundheit der Donau-Universität Krems
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Es gibt 5 Rezensionen von Hans Waldemar Schuch.

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Zitiervorschlag
Hans Waldemar Schuch. Rezension vom 18.07.2019 zu: Hilarion G. Petzold, Bettina Ellerbrock, Ralf Hömberg (Hrsg.): Die Neuen Naturtherapien. Handbuch der Garten-, Landschafts-, Wald- und Tiergestützten Therapie, Green Care und Green Meditation. Band I: Grundlagen – Garten- und Landschaftstherapie. Aisthesis (Bielefeld) 2018. ISBN 978-3-8498-1318-5. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25966.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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