Robert Baar, Jutta Hartmann et al. (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Professionalisierung
Rezensiert von Elisabeth Sommer, 23.10.2019

Robert Baar, Jutta Hartmann, Marita Kampshoff (Hrsg.): Geschlechterreflektierte Professionalisierung. Geschlecht und Professionalität in pädagogischen Berufen.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2019.
194 Seiten.
ISBN 978-3-8474-2277-8.
D: 32,00 EUR,
A: 32,90 EUR.
Reihe: Jahrbuch erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung - 15 (2019).
Thema
„Geschlechterreflektierte Professionalisierung – Geschlecht und Professionalität in pädagogischen Berufen“ ist als 15. Ausgabe des Jahrbuches erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung (ehemals: Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft) erschienen. Im Buch werden theoretische Bezüge wie empirische Ergebnisse zur geschlechterreflektierten wie geschlechterreflektierenden Professionalität und diesbezügliche Herausforderungen in verschiedenen Teilbereichen der Erziehungswissenschaft dargestellt. Es wird herausgearbeitet, dass die Genderreflexivität respektive eine Genderkompetenz Voraussetzung für professionelles Handeln in der Erziehungswissenschaft ist, wenngleich sie in der Praxis wie in der Qualifikation des Fachpersonals vermeintlich oder einseitig stattfindet.
AutorInnen
Der Sammelband eint eine Vielfalt von Autorinnen und Autoren. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Qualifikationen, welche sich von der studentischen Hilfskraft, über wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben bis zu Professor*innen, überwiegend an Universitäten, erstrecken. Von außerhalb des Hochschulbetriebes sind Referent*innen beteiligt. Sie kommen überwiegend aus den Bereichen Erziehungs- und Sozialwissenschaft, häufig mit der Ausrichtung auf Gender/Queer/Diversität. Die methodologischen Hintergründe beziehen sich auf die qualitative, rekonstruktive Forschung. Mit Bezug auf eine geschlechterreflexive Publikation darf darauf verwiesen werden, dass sich sieben Autoren und 15 Autorinnen versammeln, wenngleich damit auf eine (zu überwindende) Bipolarität der Geschlechter zurückgegriffen wird.
Entstehungshintergrund
Der Titel des Sammelwerkes umfasst die Themen Professionalität/Professionalisierung und Geschlecht im Feld der Erziehungswissenschaften. Diese Themen blicken jeweils für sich auf eine lange Tradition und sind bis heute aktuell. Die Frauen- und Geschlechterforschung in der Erziehungswissenschaft hat zur Sichtbarmachung des Geschlechts im wissenschaftlichen Diskurs beigetragen. Im vorliegenden Jahrbuch werden seit 2005 Diskurse geführt und Forschungen dokumentiert. Die Beiträge haben ein Peer-Review-Verfahren durchlaufen.
Aufbau und Inhalt
Einleitung
Die Einleitung zum Sammelband gliedert sich in drei Artikel.
Zunächst begründet die Redaktion des Jahrbuches ihre Entscheidung zur Umbenennung, indem sie einen über die Erziehungswissenschaften hinausgehenden Diskurs thematisieren. Sie stellen dabei infrage, inwieweit es im Kontext von Forschung sinnvoll ist, Frauen begrifflich zu nennen und gegen ‚Geschlechter‘ zu ersetzen. Einerseits werden so „… Wurzeln, Traditionen und Errungenschaften der Frauenbewegung und der Frauenforschung, aber auch Frauen* und deren Lebenslagen selbst weniger sichtbar…“ (13), andererseits markiert der Terminus ‚Frauenforschung‘ eine „…Bipolarität der Geschlechter [die] Zwischenräume in vielerlei Hinsicht ausblendet …“ (ebd.) und Diskurse einschränkt. Der Begriff ‚Geschlecht‘ soll diese Bipolarität überwinden und Offenheit für Zwischenräume anzeigen. Mit dem Wechsel zum Titel „Jahrbuch erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung“ sollen Frauen nicht unsichtbar, sondern die Vielfalt der geschlechtsbezogenen Lebensweisen sichtbar gemacht werden.
Auf diese Begründung folgt ein Artikel von Maja S. Maier mit dem Titel: „Erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung? Ein Essay zu Verhältnisbestimmung und Forschungsprogrammatik“ (15). Maier entwickelt eine wissenschaftstheoretisch begründete Programmatik der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung. Sie identifiziert gemeinsame und verbindende Herausforderungen der Erziehungswissenschaften mit der Geschlechterforschung. Sinn macht die Verschränkung der beiden Forschungsfelder unter anderem ausgehend ihrer Gegenstände. Einerseits spiegeln sich Geschlechterdifferenzen in institutionellen Gegebenheiten und richten „… Individuen ihr Verhalten, ihre Deutungen und ihre Performances danach [aus].“ (24) Andererseits ist dieses Zusammenwirken einem Wandel unterlegen, der „…eng mit dem generationalen Wandel verknüpft ist…“ (ebd.). Folgernd definiert Meier den Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Geschlechterforschung als die „… Relevanz von Geschlecht und Geschlechterdifferenzierung auch vor dem Hintergrund differenter generationaler Erfahrungen…“ (25, Hervorhebung im Original).
Die Einleitung zum Sammelband endet mit einer titelbezogenen Einführung durch die Herausgebenden: „Geschlechterreflektierte Professionalisierung – Geschlecht und Professionalität in pädagogischen Berufen. Eine Einführung.“ (31) Diese beginnt mit dem Aufzeigen einiger Parallelen zwischen den Diskursen um Professionalität und Geschlecht. Insbesondere bezeichnend sind grundlegende Ansätze, die man mit den Begriffen ‚erlernbar‘ (sich weiterentwickelndes Wissen – Erzieher*in werden) und ‚naturgemäß‘ (Persönlichkeitsmerkmale, Charaktereigenschaften – Erzieher*in sein) fassen kann. Mit Bezug auf Rousseau sowie die Konzepte der ‚geistigen Mütterlichkeit‘ und der ‚Kulturaufgabe der Frau‘ beweisen die Autor*innen die Verschränkung von Professionalität und Geschlecht. Auch gegenwärtig werden berufliche Aufgaben mit Wesenseigenschaften von Frauen verbunden, sowie abgewertet. Der Beleuchtung der im Titel auftauchenden Geschlechterreflexivität dienen aktuelle Konzepte, die nicht weiter auf die Erläuterung einer Bipolarität der Geschlechter, sondern auf „… Praktiken in der Geschlechterunterscheidung“ (36) und deren De-Konstruktivierung abheben. In Professionalisierungstheorien wird bisher weder das Eine noch das Andere aufgegriffen, obgleich es empirisch erwiesene Korrespondenzen zwischen dem Geschlechter- und dem Professionalisierungsdiskurs (nicht nur) in den Erziehungswissenschaften gibt: Genderkompetenz wird als „…notwendige Voraussetzung für professionelles Handeln im pädagogischen Feld…“ (40) erkannt und damit zu einem wichtigen Kriterium pädagogischer Professionalität. Außerdem ist es eine pädagogische Aufgabe, „…genderbezogene Spannungsverhältnisse zu reflektieren und zu moderieren“ (ebd.) vor allem nachdem „…Geschlecht als strukturierende Kategorie in den beruflichen Orientierungen…“ (ebd.) nachgewiesen wurde. Abschließend fordern die Autor*innen die Überwindung des Spannungsverhältnisses zwischen Theorie und Praxis durch Vermittlung, die mithilfe der Etablierung von Reflecting Groups geschafft werden kann.
Vielfältige Lebensweisen im Fokus von Professionalität
In diesem Kapitel beginnt die Darstellung verschiedener empirischer Studien zu geschlechterreflektierter Professionalisierung und Professionalität, an dieser Stelle mit dem Schwerpunkt auf vielfältige Lebensweisen. Drei Artikel behandeln vielfältige geschlechtliche und sexuelle Lebensweisen an den Orten:
- Schulpädagogik,
- Jugendbildungsarbeit
- und der Ausbildung von Lehrkräften.
Florian Crostobal Klenk fragt im Artikel „Interdependente Geschlechtervielfalt als un/be/deutende Anforderung an pädagogische Professionalität“ (57) wie Lehrkräfte mit „…Irritationen [und] Handlungsungewissheiten…“ (44) im Schulalltag umgehen und aufgrund welcher Normen sie diesen Umgang pflegen. Er entdeckt eine gelebte Heteronormativität unter Marginalisierung von Homosexualität. Mart Busche und Uli Streib-Brzic forschen im Beitrag „Die Entwicklung heteronormativitätskritischer Professionalität in Reflexions-Workshops – Zur Verbindung von pädagogischem Erfahrungswissen und wissenschaftlichem Erkenntniswissen im Kontext von Praxisforschung“ (83) an der Lücke zwischen Theorie und Praxis durch das „… Rückspiegeln empirisch generierten Wissens in die Praxis…“ (45). Sie werfen die Idee auf, heteronormativitätskritische Professionalität durch interdisziplinäre Reflexionsarbeit zu gewährleisten. Carolin Vierneisel und Johannes Nitschke stellen in ihrem Beitrag „(De-) Professionalisierungstendenzen?! Vielfalts*sensible Bildung im Lehramtsstudium“ (103) fest, dass es Universitäten bei der Ausbildung von Lehrkräften nicht gelingt, eine Brücke zwischen der Bedeutung von Vielfalt und der Berücksichtigung des Themas im Lehrbetrieb zu schlagen.
Geschlechterreflektierte Professionalität im Elementarbereich
In diesem weiteren Kapitel sammeln die Herausgebenden zwei Artikel mit dem Fokus auf Kitas. Zusammengenommenes Ergebnis ist ein attestierter Entwicklungsbedarf in der Praxis der geschlechterbezogenen Professionalität. Melanie Kuband konkretisiert „Ansprüche an ein geschlechtergerechtes, professionelles Handeln im Elementarbereich [hinsichtlich] Ungewissheiten, Komplexitäten und Grenzen im pädagogischen Alltag.“ (121) Chancen und Grenzen beziehen sich auf eine gendersensible ethnographische Forschungsstrategie in welcher Geschlechtergerechtigkeit ganz unterschiedlich und teils widersprüchlich gedacht werden kann. Sie deckt „… vermeintlich geschlechtersensible[s] Handel[n]…“ (46) auf, welches in unbewussten Prozessen bei den Fachkräften gründet. Die Herstellung und Ordnung von Professionalität und Geschlecht in Kitas durch berufliches Handeln ist Thema des Beitrags von Susann Fegter, Anna Hontschik, Eszter Kadar, Kim-Patrick Sabla und Maxine Saborowski mit dem Titel „Bezüge auf Familie als Moment der Vergeschlechtlichung pädagogischer Professionalität: Diskursanalytische Perspektiven auf Äußerungen in Gruppendiskussionen mit Kita-Teams“ (135). Sie stellen traditionelle Familienordnungen im professionellen Setting fest, in dem ‚geistige Mütterlichkeit‘ als naturgemäß und ‚Väterlichkeit‘ als erfahrungsbasiert erworben, verhandelt wurde.
Herausforderungen sexualpädagogischer Professionalisierung
In diesem Kapitel wird die geschlechterreflexive Professionalisierung im Teilbereich der Sexualpädagogik thematisiert. Anja Eichhorn entwickelt im gleichnamigen Artikel Ideen zur „Doing Sexual Agency …“ (153). Mit diesem Herangehen soll einer Reviktimisierung missbrauchter jugendlicher Mädchen vorgebeugt und sexuelle Selbstbestimmtheit im Sinne einer „…gelingenden Jugendsexualität…“ (47) ermöglicht werden. Marion Thuswald formuliert Ergebnisse aus einer ethnographischen Studie bei Weiterbildungsveranstaltungen für pädagogisches Personal im Bereich Sexualpädagogik in Österreich in ihrem Beitrag: „Geschlechterreflektierte sexuelle Bildung? Heteronormativität und Verletzbarkeit als Herausforderungen sexualpädagogischer Professionalisierung“ (167). Dem pädagogischen Personal wird eine Heteronormativität attestiert, die im Zusammenhang mit Verletzbarkeit und sexueller Gewalt steht. Zur Begegnung derartiger Missstände fordert die Autorin die Etablierung eines nicht-heteronormativen Verständnisses von Sexualität in der geschlechterreflektierten Sexualpädagogik.
Rezension
Der Sammelband schließt mit einer Rezension von Marina Dangelat, Frauke Grenz und Christine Thon zu den Büchern: „Gesicht Zeigen! (2017) (Hrsg.): „Weiße können nicht rappen“. Das Positionierungsspiel gegen Vorurteile und Klischees“ und „Wedl, Juliette (2018): Identitätenlotto. Ein Spiel quer durchs Leben“ (183)
Diskussion
Der Sammelband liefert Belege für die in der Einleitung genannte Tatsache, dass die Diskurse über Professionalität und Geschlecht aktuell bleiben, obgleich beide auf lange Traditionen zurückblicken. Es zeigt sich, dass sowohl innerhalb der Diskurse, als auch in deren Verschränkung bezogen auf die Erziehungswissenschaften Forschungs- und Handlungsbedarf besteht. Bereits die Umbenennung des Jahrbuches ist ein Beleg dafür. Nicht nur in der Verschränkung der Diskurse um Professionalität und Geschlecht, sondern auch in der Überwindung der Lücke zwischen Theorie und Praxis bleiben Bedarfe. Beides konnten die Herausgebenden anhand der gewählten Beiträge und der gelungenen Gliederung des Sammelbandes auf theoretischer wie empirischer Basis beweisen. Während des Lesens zeigt sich, dass nicht bloß thematisch passende Beiträge aneinandergereiht werden, sondern ein abschließendes Ergebnis zusammengenommen werden kann: Die Reflexion eines heteronormativen Verständnisses in der Praxis der Erziehungswissenschaft kristallisiert sich als bestehende Aufgabe auf dem Weg zur geschlechterreflektierten Professionalität heraus und muss bereits und unter anderem in der Ausbildung der Fachkräfte stattfinden.
Die Kapitelüberschriften ermöglichen eine rasche inhaltliche Orientierung, wenngleich die Listung der aufgegriffenen Themen: Vielfältige Lebensweisen, Elementarbereich und Sexualpädagogik, nicht endlich ist.
Äußerlich hat die Publikation einen ansprechenden Umfang und ein wenig eindrucksvolles Cover.
Fazit
Aufgrund der Umbenennung des Jahrbuches weißt dieser Sammelband eine Besonderheit auf: In der Einleitung werden ganz grundlegende Überlegungen und Kenntnisse zum Professionalisierungs- wie Geschlechterdiskurs, sowie zu deren Schnittstelle in den Erziehungswissenschaften dargestellt. In Verbindung mit den sieben Artikeln, die drei spezifische Praxisfelder zum thematischen Schwerpunkt beleuchten, eignet sich der Sammelband dazu, sich im Thema Professionalität in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung zu orientieren, sowie Kenntnisse anhand empirischer Einblicke zu vertiefen. Es werden Forschungsdesiderate zur Umsetzbarkeit geschlechterreflexiver Professionalität in der Erziehungswissenschaft aufgezeigt, die Anlass zu neuen Forschungsprojekten geben. Wir dürfen uns demnach auf weitere Ausgaben des Jahrbuches erziehungswissenschaftliche Geschlechterforschung freuen, in denen es gelingen mag, die Vielfalt der Geschlechter unter Überwindung einer vermeintlichen Bipolarität populär zu machen.
Rezension von
Elisabeth Sommer
Promovendin an der HAW Landshut und der Universität Bamberg; M. A. Soziale Arbeit; B. A. Soziale Arbeit; Examinierte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin
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