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Thomas Boggatz: Betreutes Wohnen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 03.02.2020

Cover Thomas Boggatz: Betreutes Wohnen ISBN 978-3-662-58404-0

Thomas Boggatz: Betreutes Wohnen. Perspektiven zur Lebensgestaltung bei Bewohnern und Betreuungspersonen. Springer (Berlin) 2019. 328 Seiten. ISBN 978-3-662-58404-0. D: 54,99 EUR, A: 51,39 EUR, CH: 55,50 sFr.

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Thema

Betreutes Wohnen als ein Wohn- und Versorgungsangebot für Senioren scheint in Österreich ein noch recht neues Leistungsangebot zu sein. In Deutschland liegen bereits ca. 30 Jahre Erfahrung mit dieser Sonderwohnform vor und in Großbritannien und den USA sind es noch einige Jahrzehnte mehr (Lind 2005). Allen bisher vorliegenden Untersuchungen und Erhebungen zum Betreuten Wohnen ist der Sachverhalt gemein, dass es sich hierbei um eine „Zwischen- oder auch Übergangswohnform“ zwischen Rüstigkeit und Gebrechlichkeit bzw. Pflegebedürftigkeit handelt. Es ist zugleich eine Institution, die selbst mit dem Tatbestand der eigenen Alterung als Versorgungeinrichtung konfrontiert wird. Ein Einrichtungstypus also, der im Gegensatz zu einem Pflegeheim stark auf die zunehmende Hinfälligkeit seiner Bewohnerschaft zu reagieren hat, gilt es doch zugleich auf die veränderten Bedarfe und Interessen des Klientel zu achten und gleichzeitig ein Mindestmaß an Versorgungssicherheit zu gewährleisten (Kremer-Preiß et al. 2019). Und gleichzeitig darf bei allen Nachbesserungen der ergänzenden Dienstleistungen nicht der Charakter eines Wohnmilieus verloren gehen. Dieser Themenstellung hat sich die vorliegende Publikation mittels einer empirischen Erhebung gestellt. Das Untersuchungsfeld bildeten Betreute Wohneinrichtungen im Bundesland Salzburg.

Autor

Dr. Thomas Boggatz, FH-Professor an der Fachhochschule Salzburg im Studiengang Gesundheits- und Krankenpflege, Pflegepädagoge und Pflegewissenschaftler.

Aufbau und Inhalt

Die Veröffentlichung ist in zehn Kapitel und einen umfangreichen Anhang untergliedert.

In Kapitel 1(Einleitung, Seite 1 – 6) wird knapp auf die „Lebensgestaltung im Pflegeheim“ eingegangen, die als so genannte „totale Institution“ (Goffman) äußerst negativ und fast schon abschreckend geschildert wird. „Der Aufenthalt im Pflegeheim bringt so eine Abwärtsspirale aus Degeneration, Kontaktverlust und Selbstaufgabe in Gang, die dann mit dem Tod der Betroffenen endet.“ (Seite 3). Anschließend werden in wenigen Worten „Alternative Wohn- und Betreuungsformen“ wie „Sheltered Housing“ in Großbritannien, „Assisted Living“ in den USA und „Betreutes Wohnen“ in Deutschland angeführt. In Österreich wird diese Wohnform als „Betreubares Wohnen“ bezeichnet.

In Kapitel 2 („Assisted Living“ und Betreutes Wohnen – eine Begriffserklärung, Seite 7 – 17) werden diese Wohn- und Betreuungsformen eingehender hinsichtlich ihres Leistungsspektrums (u.a. Grund- und Wahlleistungen bezüglich hauswirtschaftlicher, sozialer und pflegerischer Angebote) beschrieben. Ergänzend wird eine Einschätzung bezüglich der „Autonomie und Privatsphäre“ in diesen Einrichtungen gegeben.

In Kapitel 3 (Wohn- und Betreuungsformen für ältere Menschen im Spiegel der Forschung, Seite 19 – 76) wird der sehr umfangreiche Forschungsstand über das Leben in Einrichtungen des „Assisted Living“ in den USA referiert. Bei den „Assisted Living“-Einrichtungen handelt es sich um Wohneinrichtungen mit Angeboten der Betreuung, Hauswirtschaft und begrenzten Pflegeleistungen. Die Bewohnerschaft ist somit um einiges gebrechlicher als im Betreuten Wohnen, die in der Regel erst nach längerem Aufenthalt zunehmend hinfällig wird und erst dann Pflegeleistungen in Anspruch nehmen muss. Zusätzlich ist der Anteil der Bewohner im „Assisted Living“ recht groß, der auf Druck der Angehörigen und somit nicht aus freien Stücken in die Wohnanlagen eingezogen ist. Das soziale Klima in diesen Einrichtungen wird je nach Einstellung und Persönlichkeitstyp teils als familiär und freundschaftlich, aber auch als oberflächlich und einsamkeitsfördernd beurteilt. Ebenso unterschiedlich werden die Gemeinschaftsaktivitäten eingeschätzt. Den Untersuchungsergebnissen ist deutlich zu entnehmen, dass aufgrund der überwiegend mittelgradig körperlichen und geistigen Gebrechlichkeit der Klientel nicht mehr nur selbstbestimmte Lebensformen, sondern zunehmend zugleich auch heimähnliche Versorgungsformen mit allen damit verbundenen Einschränkungen und teils auch Widrigkeiten den Alltag bestimmen.

In Kapitel 4 (Die Methoden der Untersuchung, Seite 77 – 99) werden die Vorgehensweisen dieser empirischen Arbeit dargestellt, die aus einer Zusammenfügung von drei Studien besteht:

  • Studie I: In einer qualitative Befragung wurden 13 Bewohner des Betreuten Wohnens und 24 Senioren in Privathaushalten mittels eines halbstrukturierten Leitfadeninterviews bezüglich ihrer Einstellung zum Betreuten Wohnen, zu Pflege- und Hilfeleistungen und hinsichtlich ihrer sozialen Kontakte befragt.
  • Studie II bestand aus einer qualitativen Befragung von 15 Betreuungspersonen aus elf Einrichtungen bezüglich ihrer Beschäftigungsschwerpunkte, ihrer Einschätzung des Unterstützungs- und Pflegebedarfs und ihres Wirkens hinsichtlich der Gestaltung der sozialen Kontakte in ihren Einrichtungen.
  • In Studie III, einer quantitativen Bewohnerbefragung von 287 Bewohnern aus 24 Einrichtungen des Betreuten Wohnens, wurde u.a. Folgendes ermittelt: überwiegend Frauen (ca. 65 Prozent), überwiegend älter als 70 Jahre (ca. 59 Prozent), überwiegend alleinlebend (ledig, geschieden und verwitwet ca. 60 Prozent), Erhalt von Pflegegeld (ca. 27 Prozent) und Inanspruchnahme von Dienstleistungen (Haushaltshilfen ca. 28 Prozent, Essen auf Rädern ca. 10 Prozent und Mittagstisch ca. 6 Prozent).

In Kapitel 5 (Einstellung zum Betreuten Wohnen, Seite 101 – 125) wurde herausgearbeitet, dass Betreutes Wohnen für ältere Menschen mit starker Verbundenheit mit dem bisherigen Wohnquartier einschließlich der vertrauten Lebensweise keine angemessene Option darstellt, denn die neue Lebenswelt vermag das Altvertraute nicht zu ersetzen. Betreuungspersonen halten hingegen Bewohner nicht für das Betreute Wohnen geeignet, wenn sie für diese Institution bereits zu gebrechlich sind und wenn sie sich nicht in das soziale Leben ausreichend einfügen können.

Kapitel 6 (Auseinandersetzung mit Pflegebedürftigkeit, Seite 127 – 165) thematisiert die Achillesferse des Betreuten Wohnens, die mit längerem Aufenthalt meist verbundene zunehmende Gebrechlichkeit bzw. Pflegebedürftigkeit der Bewohner. Entweder werden die Einrichtungen in diesen Fällen versorgungstechnisch nachgerüstet und sie verlieren damit tendenziell ihr auf Selbstständigkeit beruhendes Wohnmilieu, oder es drohen Verlegungen in Pflegeheime, das wiederum auch nicht dem Klientel zugemutet werden soll. Es besteht somit Klärungsbedarf, wo idealtypisch die Toleranzgrenze bezüglich der Gebrechlichkeit in diesen Einrichtungen liegen könnte.

In Kapitel 7 (Soziale Kontakte im Betreuten Wohnen, Seite 127 – 222) wird das Kontaktverhalten der Bewohner des Betreuten Wohnens dargestellt: die meisten Kontakte werden mit den Mitbewohnern gepflegt. Das zunehmende Alter und die damit verbundenen Mobilitätseinbußen führen zu einer verstärkten Binnenorientierung im Sozialverhalten. Die Abnahme an Kontakten zu alten Freunden und Bekannten wird teils durch verstärkte Kontaktaufnahmen mit den Kindern ersetzt. Gemäß dem Frauenanteil im Betreuten Wohnen herrscht dort auch eine eher „frauenspezifische Sozialatmosphäre“ im Umgang vor. Die Persönlichkeitseigenschaften und das damit verbundene Kontaktverhalten bestimmen das Ausmaß an Integration und Lebenszufriedenheit in diesen Einrichtungen. Eine fehlende familiäre Eingebundenheit kann im Betreuten Wohnen nur teilweise durch die dortigen Kontaktmöglichkeiten ersetzt werden.

Kapitel 8 (Die Beziehung zur Betreuungsperson, Seite 223 – 245) thematisiert die Kontakte der Bewohnerschaft der Wohnanlagen mit den Betreuungspersonen. Meist entstehen die Begegnungen anlässlich der Vorbereitung und Gestaltung des sozialen Miteinanders überwiegend in Form von Gruppenaktivitäten. Weit weniger werden funktionale Dienstleistungen wie Informations-, Organisations- und Vermittlungstätigkeiten nachgefragt. Somit steht zentral die Aktivierung einer anregenden sozialen Milieugestaltung im Fokus der Kontakte. Die Personen, die an diesen Angeboten der Geselligkeit regelmäßig teilnehmen, sind auch mit den Leistungen der organisierenden Betreuungspersonen recht zufrieden.

In Kapitel 9 (Betreutes Wohnen im Kontext gerontologischer Theorien, Seite 247 – 270) werden zu Beginn die gängigen gerontologischen Modellvorstellungen über das Altern und das Alter wie Aktivierung und Disengagement vorgestellt, um anschließend die Dynamik des Alterns im Betreuten Wohnen unter diesen Gesichtspunkten zu reflektieren.

In Kapitel 10 (Zusammenfassung, Seite 271 – 275) wird nochmals auf das zentrale Problemfeld des Betreuten Wohnens, die zunehmende Gebrechlichkeit bzw. Pflegebedürftigkeit, verwiesen. Der Autor empfiehlt hierbei das Ausmaß der Toleranz diesem Gebrechen gegenüber in den Einrichtungen auszuloten und diesbezüglich regelmäßige Überprüfungen durchzuführen. Ein entscheidender Faktor für das soziale Leben und damit auch für das Wohlbefinden der Bewohnerschaft besteht aus der Vertrautheit der Beziehungen zu den Betreuungspersonen, die häufig schon einen familiären Charakter annehmen.

Diskussion

Wie bereits weiter oben in der Einleitung angedeutet, sind die Einrichtungen des Betreuten Wohnens ein äußerst fragiles Gebilde, das immerzu mit den Problemlagen konfrontiert ist, sich in eine suboptimale Pflegeeinrichtung zu wandeln oder gebrechlichen Bewohnern den Umzug in eine Pflegeeinrichtung nahezulegen. Erhebungen in den USA, Großbritannien und Deutschland vor einigen Jahrzehnten haben ergeben, dass ca. jeder zweite Bewohner in den Einrichtungen verstirbt (Lind 2005). Im Umkehrschluss bedeutet dies zugleich, dass die andere Hälfte der Bewohnerschaft die Einrichtungen verlässt (Pflegeheim, Krankenhaus, eigene Häuslichkeit oder zu Angehörigen). Dieses zentrale Spannungsfeld zwischen Wohnen und Pflegen im Betreuten Wohnen herauszuarbeiten, ist dem Autor der vorliegenden Studie mittels der detaillierten Datenerhebung und Dateninterpretation gelungen. Positiv hervorzuheben ist darüber hinaus, dass er die ermittelten Ergebnisse sehr plastisch veranschaulicht hat, denn die Befragten kommen durch die Darstellung von kurzen Interviewfragmenten ständig zu Wort.

Für eine fachlich ausgewiesene Studie hingegen sehr befremdlich sind die verkürzten und verzerrten Ausführungen über das Pflegeheim ohne ausreichende empirische Fundierung (Seite 3). Hier wird nicht der Tatbestand erfasst, dass nach dem Stand der Forschung es für Demenzkranke im fortgeschrittenen Stadium und für schwer pflegebedürftige alte Menschen im Rahmen institutioneller Versorgung keine Alternative zum Pflegeheim gibt.

Kritisch gilt es des Weiteren anzuführen, dass die Einrichtungen des „Assisted Living“ aus den USA keinen passenden Referenzrahmen für das Betreute Wohnen darstellen, denn hierbei handelt es sich um „Wohn-Pflege-Einrichtungen“, in denen die Pflegeleistungen bereits von vornherein konstitutionell integriert sind. Betreute Wohnanlagen hingegen sind primär Wohneinrichtungen mit zusätzlichen Betreuungs- und gegebenenfalls ergänzenden hauswirtschaftlichen Leistungsangeboten. Angemessen als Vergleichsrahmen für das Betreute Wohnen ist aus der Sicht des Rezensenten der immense Wissensstand über das Betreute Wohnen in Großbritannien („Sheltered Housing“) und den USA (Butler et al. 1983, Fennell 1986, Lawton et al. 1985, Lind 2005). Der Autor muss sich somit den Vorwurf gefallen lassen, diese Fachliteratur nicht berücksichtigt und aufgearbeitet zu haben.

Neben der fehlenden Fachliteratur wird auch die nicht angemessene philosophische Literatur als Orientierungsrahmen in dieser Studie kritisch bewertet. Mit den vom Autor angeführten Vorstellungen von Foucault und Heidegger mögen sich vielleicht geisteswissenschaftliche Diskurse interpretieren lassen, für die Analyse empirisch erfasster Verhaltens-, Wahrnehmungs- und Einstellungsweisen der Bewohner und Mitarbeiter des Betreuten Wohnens sind diese Ausführungen aufgrund der fehlenden Stringenz nicht adäquat.

Fazit

Trotz dieser kritischen Einwände kann das Fazit gezogen werden, dass die vorliegende Studie es verdient, in Fachkreisen angemessen berücksichtigt zu werden. Für die Forschung ist das Faktum von Bedeutung, dass auch schon bei Einrichtungen von recht geringer Betriebsdauer die Problemlagen Gebrechlichkeit und Pflegebedürftigkeit von den Betroffenen erkannt werden. Auf der anderen Seite hingegen wurde faktenreich auch der Umstand belegt, dass Betreutes Wohnen für alleinlebende und teils hilfebedürftige ältere Menschen eine konkrete Alternative zum Privathaushalt bedeuten kann. 

Literatur

Butler, A. et al. (1983) Sheltered housing for the elderly: Policy, practise and the consumer. London: Allen and Unwin.

Fennell, G. (1986) Anchor tenants' survey report. Oxford: Anchor Housing.

Kremer-Preiß, U. et al. (2019) Betreutes Seniorenwohnen. Heidelberg: medhochzwei Verlag. www.socialnet.de/rezensionen/​25938.php

Lawton, M. P. et al. (1985). The changing service needs of older tenants in planned housing. The Gerontologist, 25, 3, 258 - 264.

Lind, S. (2005). Betreutes Wohnen im Alter. Eine Literaturrecherche und Sekundäranalyse zur Entwicklung des Betreuten Wohnens in Deutschland, Großbritannien und den USA. https://www.svenlind.de/wp-content/​uploads/2019/01/Lind_Betreutes_Wohnen_im_Alter.pdf

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 03.02.2020 zu: Thomas Boggatz: Betreutes Wohnen. Perspektiven zur Lebensgestaltung bei Bewohnern und Betreuungspersonen. Springer (Berlin) 2019. ISBN 978-3-662-58404-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25984.php, Datum des Zugriffs 24.09.2023.


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