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Christiane Lübke, Jan Delhey (Hrsg.): Diagnose Angstgesellschaft?

Rezensiert von Dr. Renate Kränzl-Nagl, 28.08.2020

Cover Christiane Lübke, Jan Delhey (Hrsg.): Diagnose Angstgesellschaft? ISBN 978-3-8376-4614-6

Christiane Lübke, Jan Delhey (Hrsg.): Diagnose Angstgesellschaft? Was wir wirklich über die Gefühlslage der Menschen wissen. transcript (Bielefeld) 2019. 292 Seiten. ISBN 978-3-8376-4614-6. D: 29,99 EUR, A: 29,99 EUR, CH: 36,80 sFr.
Reihe: Gesellschaft der Unterschiede - Band 51.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Thema

Dieser Sammelband geht der Frage nach, ob bzw. inwiefern das Gefühl „Angst“ als Ausdruck kulturpessimistischer Zeitdiagnosen tatsächlich eine bestimmende Gefühlslage der deutschen Bevölkerung ist. Zur kritischen Prüfung der durchaus gängigen populären Diagnose der Angstgesellschaft – und zwar noch vor der Covid19-Pandemie – werden in den einzelnen Beiträgen zahlreiche Forschungsergebnisse dahingehend beleuchtet, inwieweit sie sich in dieses Bild der Angstgesellschaft einordnen lassen.

HerausgeberInnen

Jan Delhey, Prof. Dr., ist Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Sprecher der DGS-Sektion Soziale Indikatoren.

Christiane Lübke, Dr. rer.soc. oec., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Duisburg-Essen und forscht dort am Lehrstuhl für empirische Sozialstrukturanalyse zu Themen der Sozialen Ungleichheit.

Die beiden HerausgeberInnen, Jan Delhey und Christiane Lübke, beschäftigen sich in ihren Arbeiten mit makrosoziologischen Themen wie sozialen Indikatoren, Sozialstrukturanalyse, sozialen Ungleichheiten, was die Perspektive bei der Diagnose der Angstgesellschaft prägt.

Entstehungshintergrund

Dieser Sammelband geht – folgt man dem Vorwort der HerausgeberInnen – auf eine Tagung der DGS-Sektion „Soziale Indikatoren“ zurück, die am 21. und 22. März 2018 in Duisburg stattfand. Ziel dieser Tagung war es, „die populäre Diagnose einer angstbestimmten Gesellschaft einer kritischen, empirisch informierten Prüfung zu unterziehen und aktuelle Forschungsergebnisse zur Gefühlslage der Menschen in Deutschland zusammenzutragen“ (Vorwort von Christiane Lübke und Jan Delhey, S. 7). Dementsprechend wird der Versuch unternommen, den derzeit vorherrschenden pessimistischen Grundton gegenwärtiger Zeitdiagnosen mit empirischen Befunden aus aktueller soziologischer Forschung zu kontrastieren – mit durchaus manchmal überraschenden Erkenntnissen.

Aufbau

Diese Publikation ist als Sammelband konzipiert, der insgesamt zehn Beiträge zu unterschiedlichen Themen zur kritischen Prüfung der Diagnose „Angstgesellschaft“ enthält. Er besteht aus einem kurzen Vorwort der HerausgeberInnen, den zehn Kapiteln und den Angaben zu den AutorInnen. Jeder Beitrag enthält am Ende ein Literaturverzeichnis.

Die Prüfung der Diagnose „Angstgesellschaft“, die Ziel dieser Publikation ist, erfolgt anhand aktueller Ergebnisse aus verschiedensten Forschungssträngen und damit entsprechend themen- und facettenreich. Der Bogen spannt sich dabei von der grundlegenden Frage, ob wir gegenwärtig in einer Angstgesellschaft leben, über gesellschaftliche Funktionen von Angst im Kontext von Herrschaft und Ordnung bis hin zu Themen mit Bezug zu sozialen Ungleichheiten, Erwerbstätigkeit bzw. Arbeitsmarkt, Familie, Migration und Populismus.

Der Aufbau dieses Sammelbandes gestaltet sich wie folgt:

  1. Sorgen und Ängste in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Eine kritische Bestandsaufnahme (Jan Delhey, Christiane Lübke)
  2. Leben wir in einer Angstgesellschaft? Die Verbreitung von persönlichen und gesellschaftsbezogenen Sorgen in Deutschland (Christiane Lübke)
  3. Abstiegsangst in Deutschland auf historischem Tiefstand. Ergebnisse der Auswertung des Sozio-oekonomischen Panels 1991–2016 (Holger Lengfeld
  4. Angstverhältnisse – Angstfunktionen. Angst im Kontext symbolischer Herrschaft und symbolischer Ordnung (Andreas Schmitz)
  5. Statusängste in Deutschland. Wachsendes Problem oder zeitdiagnostischer Mythos? (Jan Delhey, Leonie C. Steckermeier)
  6. Unsichere Arbeit. Sorgen und Ängste von Beschäftigten im Gastgewerbe nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns (Stefanie Herok, Ralf Himmelreicher, Dorina Spahn
  7. Pessimistische Eltern, pessimistische Kinder? Die beruflichen Zukunftserwartungen Jugendlicher im sozioökonomischen Familienkontext (Frederike Esche, Petra Bähnke)
  8. Das soziale Wohlbefinden von Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Ein dauerhaftes Defizit? (Anne-Kristin Kuhnt, Annelene Wengler)
  9. Treiben Sorgen und Ängste den „populistischen Zeitgeist“? Eine Untersuchung von Erscheinungsformen, Verbreitung und Determinanten populistischer Einstellungen (Luigi Droste)
  10. Die rechte Mitte? Zur Rolle objektiver Position und subjektiver Verunsicherung für die Identifikation mit rechten Parteien (Florian R. Hertel, Frederike Esche)

Inhalt

Das erste Kapitel mit dem Titel „Sorgen und Ängste in soziologischen Gegenwartsdiagnosen. Eine kritische Bestandsaufnahme“, das von den beiden HerausgeberInnen Jan Delhey und Christiane Lübke verfasst wurde, setzt sich einleitend mit dem Hauptthema dieses Bandes auseinander und versteht sich in diesem Sinne als theoretischer Überbau für die nachfolgenden Beiträge. Dabei gehen sie zunächst der Frage nach den Wurzeln der kulturpessimistischen Diagnose einer Angstgesellschaft nach und reflektieren kritisch, ob die damit verbundenen oftmals postulierten Phänomene überhaupt einer empirischen Prüfung standhalten würden. Vor diesem Hintergrund wird die Zielsetzung dieses Bandes formuliert, die darin besteht, „empirische Daten zur Gefühlslage der Menschen zu bündeln und einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen“ (S. 14). Demzufolge soll die angstbestimmte Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft einer kritischen Überprüfung anhand empirischer Daten für Deutschland unterzogen werden. Des Weiteren skizziert das Herausgeberteam in diesem ersten Kapitel die Struktur dieses Sammelbandes, wobei auf die Inhalte der folgenden neun Beiträge Bezug genommen wird sowie die dahinterstehenden Überlegungen zum Aufbau dieses Bandes offengelegt werden. Zudem enthält dieser Beitrag ein Fazit der HerausgeberInnen, indem sie der Frage nachgehen, was aus den Beiträgen dieses Bandes zu lernen sei. Sie nehmen dabei auf die einleitend genannten Kriterien Bezug, anhand derer sich die Diagnose der Angstgesellschaft überprüfen ließe und ordnen die aus den Beiträgen gewonnenen Erkenntnisse in diesen Rahmen ein.

Die nächsten beiden Beiträge gehen der Frage nach der Entwicklung und Verbreitung von Sorgen und Ängsten in Deutschland nach. Christiane Lübke stellt im zweiten Kapitel mit dem Titel „Leben wir in einer Angstgesellschaft? Die Verbreitung von persönlichen und gesellschaftsbezogenen Sorgen in Deutschland“ Befunde des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) dazu vor, welche Bevölkerungsgruppen in welchem Ausmaß sich aktuell bzw. in den vergangenen Jahrzehnten welche Sorgen machten bzw. bei welchen ein Anstieg zu verzeichnen ist. Unterschieden wird dabei zwischen persönlichen Sorgen (z.B. Sorge um den Arbeitsplatz, die eigene Gesundheit und dgl.) und gesellschaftsbezogenen Sorgen (z.B. Kriminalitätsentwicklung, Zuwanderung und dgl.). In diesem Beitrag wird das phasenweise Ansteigen und wieder Abnehmen der analysierten Ängste in der Bevölkerung Deutschlands gut sichtbar, die sie u.a. mit historischen Ereignissen (z.B. Terroranschläge) bzw. Entwicklungen (z.B. Flüchtlingsbewegung) in Verbindung setzen.

Auch das dritte Kapitel „Abstiegsangst in Deutschland auf historischen Tiefstand. Ergebnisse der Auswertung des Sozio-ökonomischen Panels“, das von Holger Lengfeld verfasst wurde, widmete sich dem Thema „Angst“ und seiner Verbreitung, wobei der Fokus auf den Abstiegsängsten der Menschen in Deutschland liegt. Für diesen Beitrag werden ebenfalls die repräsentativen Daten des Sozio-ökonomischen Panels (SOEP) herangezogen, um die Verbreitung und Entwicklung der Abstiegssorgen von Deutschen zu beleuchten. Vor allem die Betrachtung des Zeitverlaufs dieser Sorgen bringt interessante Ergebnisse zu Tage, die abschließend zusammengefasst und diskutiert werden.

Der vierte Beitrag mit dem Titel „Angstverhältnisse – Angstfunktionen. Angst im Kontext symbolischer Herrschaft und symbolischer Ordnung“ von Andreas Schmitz nähert sich dem Thema „Angst“ grundlagentheoretisch, in dem der Autor in Anlehnung an Pierre Bordieus Konzept der symbolischen Herrschaft acht idealtypische Funktionen von Angst (z.B. die Verschleierung oder Legitimierung sozialer Ungleichheit) herausarbeitet. Zudem verweist er darauf, dass Angst immer schon als ein Bestandteil gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen sei. Ängste sind jedoch immer auch gekoppelt an die Kapitalausstattung der Akteure und deren Positionierung im sozialen Raum, so eine der Erkenntnisse des Autors. Zudem nimmt er in seinem Beitrag die gesellschaftliche Konstruiertheit und Funktionalität von Angstrelationen unter ungleichen Machtverhältnissen in den Blick. In seinem abschließenden Fazit bündelt er die gewonnenen Erkenntnisse über die Funktionen bzw. Dysfunktionen von Angst und reflektiert diese im Kontext mit den diesbezüglich vorherrschenden Diskursen.

Im fünften Kapitel namens „Statusängste in Deutschland. Wachsendes Problem oder zeitdiagnostischer Mythos?“ setzen sich Jan Delhey und Leonie C. Steckermeier mit Statusängsten im Sinne von statusbedingten Inferioritätsängsten und -erfahrungen auseinander, wozu sie Daten aus drei Wellen des European Quality of Life Survey (EQLS) 2007 bis 2016 heranziehen. Die Analysen der empirischen Daten erfolgen unter Bezugnahme auf aktuelle Debatten im Kontext der Angstgesellschaft. Dies ist zum einen die Spirit-Level-Theorie von Wilkinson und Pickett, die Statusängste und deren negativen Folgen aus einer ländervergleichenden Perspektive in den Blick nimmt (vgl. S 110 f.). Zum anderen werden populäre Zeitdiagnosen einer Angstgesellschaft herangezogen, wonach Statusängste in Deutschland weit verbreitet und im Zunehmen seien. Die herangezogenen Daten ermöglichen eine Prüfung dieser Thesen vergleichend für die alten und die neuen Bundesländer Deutschlands, ergänzt um Analysen der Statusängste der Deutschen im EU-Vergleich und im Zeitvergleich. Die Ergebnisse werden am Ende des Beitrags diskutiert, wo auch ein Ausblick gegeben wird.

Der sechste Beitrag namens „Unsichere Arbeit. Sorgen und Ängste von Beschäftigten im Gastgewerbe nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns“ des Autorenteams bestehend aus Stefanie Herok, Ralf Himmelreicher und Dorina Spahn ist einer sehr spezifischen Gruppe Erwerbstätiger gewidmet, die in besonderem Maße von atypischer und auch prekärer Beschäftigung betroffen ist. Bei ArbeitnehmerInnen im Hotel- und Gaststättengewerbe sind überlange Arbeitszeiten, geringfügige Beschäftigung und niedrige Löhne weit verbreitet. Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns (ab Jänner 2015) in Deutschland sollte Lohnsteigerungen und damit eine Verbesserung der Situation der ArbeitnehmerInnen im Gastgewerbe bewirken. Vor diesem Hintergrund wurde eine qualitative Untersuchung über die Sorgen und Ängste dieser ArbeitnehmerInnen durchgeführt, deren Ergebnisse in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden. Von Interesse war dabei, ob sich ihre Sorgen, aber auch ihre Arbeitssituation generell durch die Einführung des Mindestlohns verändert haben.

Einem familienbezogenen Thema widmet das siebente Kapitel mit dem Titel „Pessimistische Eltern, pessimistische Kinder? Die beruflichen Zukunftserwartungen Jugendlicher im sozioökonomischen Familienkontext“ von Frederike Esche und Petra Bähnke. Der Beitrag enthält interessante Ergebnisse einer Untersuchung über die Erwartung 17-jähriger Jugendlicher an ihre spätere berufliche Situation (z.B. im gewünschten Beruf einen Arbeitsplatz zu finden, beruflich erfolgreich zu sein). Dabei werden nicht nur die Erwartungen der jungen Menschen vorgestellt, sondern diese werden auch in Bezug zum jeweiligen sozioökonomischen Familienkontext gesetzt. Des Weiteren wird der Frage nach geschlechtsspezifischen Unterschieden nachgegangen. Im Mittelpunkt des Beitrags steht jedoch die Frage der generationalen Tradierung von Erwartungshaltungen sowie von Sorgen und Ängsten hinsichtlich der beruflichen Zukunft. Für die Analyse werden Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) von 2017 herangezogen, bei dem ein Jugendfragebogen zum Einsatz kam. Die Ergebnisse werden anschließend zusammengefasst und diskutiert.

In die Well-being-Forschung sowie in die Migrationsforschung lässt sich der achte Beitrag mit dem Titel „Das soziale Wohlbefinden von Personen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Ein dauerhaftes Defizit?“ von Anne-Kristin Kuhnt und Annelene Wengler einordnen. Die Autorinnen folgen dabei einer Definition von sozialem Wohlbefinden als wahrgenommene Unterstützung durch das soziale Umfeld, das Gefühl der Zugehörigkeit und das Vertrauen in andere Menschen. Bei ihrer Analyse gehen sie von der Annahme aus, dass ein Migrationshintergrund durch das Auseinanderreißen sozialer Netzwerke (bei der ersten Generation) sowie aufgrund verschiedener Benachteiligungen (bei der ersten und zweiten Generation, etwa im Bildungs- und Gesundheitsbereich) zu einem geringen sozialen Wohlbefinden führe, verglichen mit jenem der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. Des Weiteren gehen sie der Frage nach, ob es nicht im Zeitverlauf zu einer Schließung der Lücke über die Generationen, u.a. infolge der Angleichung der Lebensverhältnisse komme. Zur Prüfung dieser Thesen wurde eine generationendifferenzierte Analyse mit Daten des Generations and Gender Surveys (GGS) der Jahre 2005 und 2006 durchgeführt, deren Ergebnisse in diesem Beitrag vorgestellt und diskutiert werden.

Dem Zusammenhang von Ängsten und Sorgen mit populistischen Tendenzen in Deutschland geht der neunte Beitrag namens „Treiben Sorgen und Ängste den »populistischen Zeitgeist«? Eine Untersuchung von Erscheinungsformen, Verbreitung und Determinanten populistischer Einstellungen“ von Luigi Droste nach. Ausgangspunkte sind dabei der zunehmende Anteil an Wählern, die für populistische Parteien votieren, sowie die Diskussionen in den Medien und sozialwissenschaftlichen Fachdisziplinen über die Gründe des Aufstiegs eines derart populistischen Zeitgeists. In diesem Kontext werden auch immer wieder die Ängste und Sorgen als Treiber für die Popularität des Populismus angeführt, denen der Autor in seinem Beitrag nachgeht. Nach Erklärungsansätzen zur Popularität des Populismus werden verschiedene theoretisch fundierte Thesen formuliert (Statussorgenthese, relative Deprivationsthese, Komplexitätsthese) in die die nachfolgende empirische Analyse eingebettet wird. Dafür werden Daten der German Longitudinal Election Study (GLES 2017) herangezogen, die es erlauben, den Einfluss einer Reihe relevanter Variablen auf populistische Einstellungen zu untersuchen. Die Ergebnisse der Prüfung der theoretisch fundierten Hypothesen anhand der erwähnten Daten sind aufschlussreich. Sie werden vom Autor abschließend mit Blick auf die Diagnose Angstgesellschaft kritisch reflektiert und diskutiert.

Der letzte Beitrag und damit das zehnte Kapitel mit dem Titel „Die rechte Mitte? Zur Rolle objektiver Position und subjektiver Verunsicherung für die Identifikation mit rechten Parteien“ von Florian R. Hertel und Frederike Esche setzt einen politikbezogenen Schlusspunkt in der Analyse der Angstgesellschaft dieses Sammelbandes. Die AutorInnen gehen dabei der Frage nach, welche Faktoren die Wahl rechter Parteien wie der AfD in Deutschland begünstigen. Ausgehend von der Modernisierungsverlierer-These, die in Fachkreisen durchaus kontrovers diskutiert wird, unterscheiden sie in ihrer Analyse zwischen objektiven Merkmalen einer Person und der subjektiven Verunsicherung als möglichen Faktor zur Erklärung des Wahlverhaltens. Besonderes Interesse haben die AutorInnen daran, ob sich die These wonach Sympathisanten rechter Parteien einer verunsicherten, aber objektiv gesehen gut abgesicherten Mittelschicht angehören bewahrheitet oder ob es sich dabei nicht vielmehr um „klassische“ Modernisierungsverlierer aus unteren Schichten handelt. Empirisch gesehen werden in diesem Beitrag sowohl Ergebnisse aus Querschnittanalysen als auch aus Längsschnittanalysen vorgestellt, wobei ebenfalls wieder Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP 2007 bis 2016) herangezogen werden. Der Beitrag endet mit einer Zusammenfassung und Diskussion dieser Ergebnisse.

Diskussion

Lesenswert ist diese Publikation aufgrund des Versuchs, Gefühlslagen wie Sorgen und Ängste in einen soziologischen Kontext zu stellen und die Diagnose der deutschen Gesellschaft als Angstgesellschaft anhand empirischer Befunde sehr systematisch und gut theoretisch fundiert zu überprüfen. In diesem Sinne versteht sich dieser Band als Antwort auf populäre bzw. populärwissenschaftliche Annahmen über den Zustand der deutschen Gesellschaft, die vielfach kulturpessimistisch geprägt sind. Deutlich wurde angesichts der unterschiedlichen Themenstellungen der Beiträge, dass es dabei um eine durchaus facettenreiche Aufgabe handelt.

Entsprechend der Zielsetzung des Buches werden für diese Prüfung vorrangig repräsentative Daten herangezogen – nur ein Beitrag nähert sich der Thematik ausschließlich theoretisch an und lediglich in einem Beitrag werden empirische Befunde einer qualitativen Befragung vorgestellt. Diese Fokussierung auf repräsentative Panel-Daten ermöglicht unzweifelhaft Analysen im Zeitverlauf und auch differenzierte Analysen objektiver und subjektiver Einflussfaktoren, die zu einer Reihe interessanter, teilweise auch überraschender Ergebnisse führen. Dennoch hätte eine höhere Anzahl an Beiträgen mit Ergebnissen aus der qualitativen Forschung die Publikation bereichern können, insbesondere dort wo der quantitative Zugang an seine Grenzen stößt – etwa im Hinblick auf vertiefende Analysen subjektiver Deutungen im Kontext von Ängsten und Sorgen der Menschen.

Als positiv zu werten sind jedenfalls die vielen theoretischen Annäherungen an Ängste und Sorgen der Bevölkerung, die sowohl Ausgangspunkte als auch Bezugspunkte der empirischen Analysen darstellen. Dies ist insofern lesenswert da Gefühlslagen und Befindlichkeiten eher eine psychologische Herangehensweise nahelegen würden, die AutorInnen der Beiträge sich jedoch einem soziologischen Zugang verpflichtet fühlen.

Die gelungene theoretische Fundierung, die sich durch alle Beiträge zieht, ist auch als ein wichtiger Beitrag zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Angstgesellschaft zu sehen. Bleibt dieser zunächst noch diffus und unbestimmt – was u.a. den populären Thesen über die heutige Angstgesellschaft geschuldet ist, wie die kritische Bestandsaufnahme der HerausgeberInnen zu Beginn der Publikation aufzeigt – gewinnt die konzeptionelle Rahmung der Ängste und Sorgen der Bevölkerung zunehmend an Konturen. Das vorerst eher noch schwammige Konstrukt einer Angstgesellschaft erweist sich letztlich als fruchtbarer heuristischer Rahmen in den eine Reihe von empirischen Daten zu Sorgen und Ängsten der Bevölkerung Deutschlands eingebettet werden kann.

Der rote Faden ist durch diese Rahmung für den Leser/die Leserin gut durchgängig erkennbar wozu vor allem die abschließenden Diskussionen gegen Ende der Kapitel beitragen in denen darauf Bezug genommen wird. Die durchgeführten Analysen bzw. die Darstellung der Ergebnisse sind methodisch gesehen von sehr guter Qualität. Die Fülle der vorgestellten Befunde birgt allerdings manchmal auch die Gefahr in sich, darin verloren zu gehen.

Der überwiegende Teil der empirischen Analysen zieht Daten für die Bevölkerung Deutschlands heran und es finden sich nur wenige international vergleichende Ansätze, um die Situation in Deutschland in einen geografisch größeren Kontext zu stellen. Dies ist ein Aspekt, den die HerausgeberInnen in ihrem Fazit als ein Forschungsdesiderat formulieren, um nicht nur von der „German Angst“ (S. 26) zu sprechen. In diesen resümierenden Betrachtungen (vgl. Kapitel 1) bündeln sie die Erkenntnisse der einzelnen Kapitel in einer Gesamtschau und versuchen Antworten auf die Ausgangsfrage „Bewahrheitet sich für Deutschland die Diagnose Angstgesellschaft?“ zu geben. Zudem geben sie eine Reihe von weiteren Empfehlungen für zukünftige Forschung ab, die durchaus anregend sind. Irritierend ist für den Leser/die Leserin allerdings, dass die Reflexion und Diskussion der Erkenntnisse aus den Beiträgen sowie die erwähnten Empfehlungen bereits im ersten Kapitel erfolgen. Angesichts der vielen interessanten Befunden und vielfältigen Themen hätte auch ein abschließendes Kapitel der HerausgeberInnen angedacht werden können.

Fazit

Dieser Sammelband geht in zehn Kapiteln der Frage nach, ob bzw. inwiefern das Gefühl „Angst“ als Ausdruck kulturpessimistischer Zeitdiagnosen gegenwärtiger westlicher Gesellschaften tatsächlich eine bestimmende Gefühlslage der Bevölkerung Deutschlands ist. Zur kritischen Prüfung der populären Diagnose der Angstgesellschaft werden in den einzelnen Beiträgen zahlreiche empirische Daten (vorrangig Panel-Daten) dahingehend beleuchtet, ob und inwieweit sie sich in dieses Bild von steigenden Ängsten und Sorgen einordnen lassen.

Insgesamt gesehen, ist es ein sehr lesenswertes Buch, dass auch komplexe Datenlagen verständlich erklärt und letztlich viele Antworten auf die Frage gibt, ob empirische Befunde die Diagnose einer angstbestimmten Gesellschaft stützen können. Fasst man die Erkenntnisse aller Beiträge zusammen, so ist Deutschland zwar keine Angstgesellschaft, dennoch verweisen die Befindlichkeiten der Menschen, ihre Sorgen und Ängste deutlich auf gesellschaftliche Bruchlinien. Diese Bestandsaufnahme der deutschen Gesellschaft vor Corona-Zeiten regt zum Nachdenken darüber an, wie sich aufgezeigte Strukturen und hier insbesondere soziale Ungleichheiten seit Einsetzen der Corona-Krise weiterentwickeln könnten. Zudem kann davon ausgegangen werden, dass Ängste und Sorgen infolge der Covid-19 Pandemie ganz neue Dimensionen erreichen werden, zumal sie auf die vielfach skizzierten Bruchlinien und Verwerfungen treffen – dies zu untersuchen, wäre jedoch Gegenstand eines weiteren Bandes zur Prüfung der „Diagnose: Angstgesellschaft“.

Rezension von
Dr. Renate Kränzl-Nagl
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Es gibt 1 Rezension von Renate Kränzl-Nagl.

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ISSN 2190-9245