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Franziska Martinsen: Grenzen der Menschenrechte

Rezensiert von Arnold Schmieder, 01.10.2019

Cover Franziska Martinsen: Grenzen der Menschenrechte ISBN 978-3-8376-4740-2

Franziska Martinsen: Grenzen der Menschenrechte. Staatsbürgerschaft, Zugehörigkeit, Partizipation. transcript (Bielefeld) 2019. 312 Seiten. ISBN 978-3-8376-4740-2. D: 34,99 EUR, A: 34,99 EUR, CH: 42,70 sFr.
Reihe: Edition Politik - 75.

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Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Autorin

Franziska Martinsen ist Privatdozentin an der Leibniz Universität Hannover. Sie lehrt und forscht als Gast- und Vertretungsprofessorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an in- wie ausländischen Universitäten. Grundlage des vorliegenden Buches ist ihre Habilitationsschrift.

Thema

Was Hannah Arendt das „Recht auf Rechte“ nannte, darauf wird gleich im Klappentext hingewiesen, fehle als zentrales Recht im Katalog der Menschenrechte, wodurch vielen Menschen das Recht auf politische Mitgestaltung vorenthalten würde, all jenen, die nicht StaatsbügerInnen eines Landes sind, eines Nationalstaates. Hier sei, und zwar aus einer radikaldemokratischen Perspektive, wie die Autorin sie vertritt, dringend Nachbesserung angezeigt. Eine kritische Revision der Menschenrechte sei angezeigt und bedeute dann im Resultat, nach siebzig Jahren der Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ein Verständnis zu implementieren, wonach sie weniger als humanitäre, sondern prominent als originär politische Rechte verstanden werden könnten und müssten: Eine Voraussetzung zur weltweiten Entfaltung ihres dann ermächtigenden Potenzials – denn: „Menschenrechte als politische Rechte zu verstehen, bedeutet, dass Menschenrechte die Ansprüche sind, deren Erfüllung Menschen zum politischen Handeln befähigt.“ (S. 10)

Insofern geht es Franziska Martinsen darum, die Optionen zu diskutieren, „inwiefern ein Recht auf politische Mitbestimmung (unabhängig von Staatsbürgerschaft) zum Kernbestand der Menschenrechte gezählt werden müsste, um dem normativen Kriterium der Gerechtigkeit zu entsprechen.“ (S. 14), wobei sich ein politisches Verständnis von Menschenrechten „vom moralischen dahingehend“ abgrenze, „dass moralische Rechte, sofern sie nicht als Grund- bzw. Bürger_innenrechte eines Staates implementiert worden sind, lediglich Appelle an die Barmherzigkeit anderer statt legitime Ansprüche auf fundamentale Rechte darzustellen vermögen.“ (S. 6.) Daher geht es der Autorin darum zu diskutieren, „ob ein Recht auf politische Teilhabe unabhängig von Staatszugehörigkeit dem Katalog der Menschenrechte hinzugefügt werden müsste, damit dieser als ‚gerecht‘ interpretiert werden kann.“ (S. 15)

Die Autorin zielt auf „echte Gerechtigkeit“ und räumt gleichzeitig ein, dass eine „Welt, in der allen Menschen gleichermaßen ein Recht auf Demokratie zukommt, (…) vermutlich kaum noch Züge unserer derzeitigen politischen Realität tragen (würde), wie überhaupt ihre Strukturen und Institutionen uns Heutigen mit hoher Wahrscheinlichkeit unvertraut wären.“ Ob diese Zukunft komme, sei ungewiss, und ob man ihr „eher skeptisch als optimistisch“ entgegenblicken solle, das stelle sich nicht „ernsthaft als Frage“. Was Frau Martinsen aber glaubt beanspruchen zu dürfen, ist mit ihrer Studie plausibel gemacht zu haben, so in ihrem Schlusssatz, „dass die aktuelle Exklusion einer großen Anzahl von Menschen, die als ‚Fremde‘, ‚Geflüchtete‘, ‚Staatenlose‘ oder schlichtweg ‚Andere‘ markiert werden, nicht nur ein moralisches, sondern ein politisches Problem darstellt, das ebenso wie der Ausschluss von Arbeiter_innen und Frauen im 19. und 20. Jahrhundert zu einem historischen Faktum gemacht werden sollte.“ (S. 266 f.) Damit dies eintritt, damit die Menschenrechte „tatsächlich eine Form annehmen, in dem das arendtsche Recht auf Rechte so verstanden wird, dass jedem Individuum das Recht auf politische Subjektivation zukommt“, ist ein „diskursive(r) Raum für eine Pluralisierung und Differenzierung des Menschenrechtsdenkens zu eröffnen“, damit Menschenrechte „dann als eine historisch verortbare Idee“ erscheinen, „die sich ohne eine Ursprungsfixierung als dynamisch und kontextvariabel sowie als Motor einer kritischen Ermächtigung vormals machtloser Akteur_innen zu erweisen vermag“. (S. 24 f.)

Inhalt

Nach der Einleitung, vergleichbar einem Essay, ist das Buch in fünf Kapitel mit jeweils wenigen Unterkapiteln gegliedert, denen ein „Ausblick“ folgt.

Unter Menschenrechte – Kanon und Kontestation wird der begriffs- und ideengeschichtliche Hintergrund der Menschenrechtsidee ausgeleuchtet, dabei ihre seit Beginn progressive wie problematische Dimension entfaltet. Die Autorin zielt darauf, „problematische Aspekte der Reichweite“ von Menschenrechten zu „beleuchten, deren Erläuterung letztendlich jedoch zu einer Verteidigung und Untermauerung der normativen Dimension von Menschenrechten beiträgt.“ (S. 54) Auf Sichtweisen eines „Ideologieverdachts“ will sie sich nicht einlassen und auch nicht auf Debatten um „Minimalstandards oder als umfassende Gerechtigkeitsstandards“. (S. 67) Bestandteil ihrer Studie soll auch nicht eine „Deklination denkbarer praktischer Umsetzungsmöglichkeiten eines normativ zu rechtfertigenden Rechts auf politische Partizipation(…) sein. Im Vordergrund (…) stehen die begrifflichen Weichenstellungen für ein Menschenrecht auf politische Partizipation anhand einer kritischen Rekonstruktion der Konturen und Gehalte der Menschenrechte.“ (S. 71)

Im folgenden Kapitel behandelt Franziska Martinsen Konturen und Gehalte von Menschenrechten, wobei sie um interne Spannungen bis Bruchstellen des Denkens über und rund um Menschenrechte kreist, um schließlich hervorzuheben, dass Menschenrechte „paternalistische Züge anzunehmen“ drohen, „wenn Freiheitsrechte nicht durch die Wahrnehmung von Teilnahmerechten bestimmt und gesichert werden können.“ Daher sei politische Beteiligung – selbstredend im Sinne der Autorin in Absehung von ursprünglicher Herkunft – „als besonders wichtig anzusehen, weil für sie, und zwar unmittelbar nach der Gewährleistung von Leben, Freiheit und Sicherheit, gilt, dass nur sie in Form der gleichen Beteiligung an der Abstimmung über die Bedingungen des gemeinschaftlichen Lebens die anderen Rechte ermöglicht“ (S. 98), weshalb folgerichtig ein Unterkapitel den Menschenrechten gegenüber den BürgerInnenrechten gewidmet ist.

In diesem Sinne zeigt Franziska Martinsen im nächsten Kapitel Kritische Perspektiven auf, dabei besonders abhebend auf eine gesellschaftstheoretische Kritik am Begriff des Individuums, feministische Kritik am Begriff der Autonomie und eine postkoloniale am Begriff des Universalismus, um „zentrale Kategorien des Menschenrechtsdenkens“ zu untersuchen. Veranschaulicht wird insbesondere auch, was sie im Fortgang ihrer Argumentation vertiefen will, „inwiefern Klasse, Geschlecht und race bei der begrifflichen Konturierung des Menschenrechtsverständnisses im Laufe der letzten 200 Jahre eine Rolle spielen und inwiefern diese begriffliche Konturierung im Zusammenhang mit kolonialen Praktiken sowohl auf dem europäischen als auch auf alle den nicht-europäischen Kontinenten steht“. (S. 114)

Wo es um die Grenzen der Menschenrechte geht, leiht die Autorin bei Hannah Arendt an, für sie wesentliche Referenz, und zeigt, dass die bereits thematisierte Differenz zwischen Bürgerrechten bzw. Grundrechten und Menschenrechten für diejenigen, die nicht über entsprechende Staatsbürgerschaft verfügen, politische und soziale Exklusion bedeutet, was, so Arendt, aus der „sogenannten Aporie der Menschenrechte“ folge, die sich nicht nur in der „Vorenthaltung eines einzelnen Menschenrechtes“ ausdrücke, „sondern in dem prinzipiellen Fehlen einer Möglichkeit, Rechte zugesprochen zu bekommen – zumindest in allen politisch und sozial relevanten Hinsichten, die über rein humanitäre Bedingungen hinausgehen“. So zuspitzend setze Arendt „Menschenrechte-Haben mit einem Zustand faktischer Rechtlosigkeit gleich“, allemal ein „Dilemma“ aus einem Universalitätsanspruch und zugleich exkludierender Wirkung, letztere besonders deutlich in Bezug auf Chancen und Möglichkeiten zur politischen Teilhabe. (S. 149) Unter den wesentlichen Problemfacetten Staatsbürgerschaft, soziale Zugehörigkeit und vor allem politischer Partizipation diskutiert die Autorin kritisch diese Grenzen, um wiederum abschließend Arendt aufzugreifen, „das Recht auf Rechte oder das Recht jedes Menschen, zur Menschheit zu gehören, (muss) von der Menschheit selbst garantiert werden“ (zit. S. 193), was die Autorin kommentiert, diese Formulierung ließe sich „als Verweis auf einen demokratischen Aushandlungsprozess denn auf die Verabsolutierung eines aristotelischen Ideals einer elitären Aktivbürgerschaft lesen.“ (ebd.) Vornehmlich aber zeigt Franziska Martinsen in diesem Kapitel, wie vom Konzept der Staatsbürgerschaft bis zu letztlich politischer Partizipation, verortet im nationalstaatlichen Gefüge, „das menschenrechtliche Potenzial der politischen Teilhabe des Individuums im Keim zu ersticken“ scheint. (S. 19)

Dieser – aus radikaldemokratischer Sicht – wenig ermutigenden Bilanz hält die Autorin unter der Kapitelüberschrift Aporien versus Aspiration ein von staatsbürgerlicher Zugehörigkeit unabhängiges Menschenrecht auf politische Teilhabe entgegen, prospektiv möglichst weltweit. Entgegen anderen theoretischen Erörterungen will die Autorin den „aspirative(n) Überschuss“ der Menschenrechte weder verleugnen noch übersehen. Politische Partizipation jenseits von Territorial- oder Abstammungsprinzipien sei nicht nur Frage akademischer Reflexion, sondern eine Frage politischen Aushandelns, was sich in der bestehenden Praxis diesbezüglicher Organisationen zeige, womit sich „Erwartungen an eine streitbare Öffentlichkeit“ ausbildeten, die sich nicht nur an TheoretikerInnen und Institutionen richteten, sondern sich „prinzipiell an alle Menschen weltweit“ richten. Dabei verweist die Autorin auf die Perspektiven etwa einer „globalen politischen Sphäre einer Demokratie ohne ‚Demos‘“ und an eine „transnationale Staatsbürgerschaft“, wo, wie sie vermutet, der „Schritt zur Etablierung einer globalen Ordnung, in der alle Menschen gleichberechtigte Weltbürger_innen sind, (…) an diesem Punkt dann nicht mehr weit“ wäre. (S. 195 f.) Auf diesem Wege wäre „Freiheit in Form öffentlicher Autonomie und Gleichheit in Form von gleichem Zugang zu Partizipation realisiert“. (S. 211) Wie ein Menschenrecht auf Demokratie zu schaffen ist und inhaltlich auszugestalten, dieser Frage widmet die Autorin – wie immer unter kritischer Aufnahme von theoretischen Erklärungsansätzen und Positionen – ein eigenes Unterkapitel. Ihr Fazit: „Dass dieses selbst nicht von vornherein inhaltlich definiert sein kann, sondern offen für Auslegungen, Kontestationen und fortwährende Auseinandersetzung bleiben muss, um bestehende politische Autoritäten und die Bedeutung des Begriffs ‚Menschheit‘ im Sinne einer politischen Zuschreibung (…) zu befragen, ergibt sich aus dem spezifischen ‚Lücke‘-Charakter des fundamentalen Rechts auf Rechte, das allen, die sich in einem Ermächtigungsprozess befinden, zusteht.“ (S. 256)

Im abschließenden Ausblick greift Franziska Martinsen Theoretiker wie Foucault mit seiner Machtkritik und seiner mangelnden, den Gegenstand betreffenden Unterscheidung zwischen Recht und Pflicht, Hardt/Negri mit ihrer Multitude-These, auch Rancière mit seiner Einschätzung eher einer temporären Labilisierung von „Gegen-Ordnung“ auf. Ganz offensichtlich, so die Autorin, sehen sich AktivistInnen von Emanzipationsbestrebungen mit dem „Paradoxon“ konfrontiert, dass sie einerseits „um der emanzipatorischen Forderung willen freiheitsversprechendes Recht anrufen (müssen), andererseits stellt sich jedoch zugleich das Problem ein, dass sie sich dabei bestimmter Strukturen und Instrumente der zu bekämpfenden Rechtsordnung unweigerlich bedienen.“ (S. 261) Doch ein „fortwährendes Attackieren der Ordnung“, ein „Sammeln von Widerstandserfahrungen“ könne zeitigen, dass sich „Akteur_innen (…) als kollektives politisches Subjekt konstituieren, das dadurch nicht notgedrungen zu einer homogenen Einheit verschmelzen muss, sondern sich seine Vielheit bewahrt“, und zu erreichen sei, „dass auch Subalterne sich als Subjekte ihrer eigenen Geschichte begreifen und sich zu politischer Handlungsfähigkeit ermächtigen.“ Dabei unterschlägt die Autorin kritische Einwände nicht, Menschenrechte hätten „höchstens das Potenzial, Leid abzuschwächen, nicht aber, die Strukturen des weltweiten kapitalistisch geprägten Staatengefüges von Grund auf zu verändern“. (S. 263 ff.)

Diskussion

Hier wäre an Diskussionen um Strategie und Praxis emanzipatorischer, kapitalismuskritischer Bewegungen anzuknüpfen, was auf der vorletzten Seite des Buches in einem Zitat von Lefort (ausgezeichnet mit dem Hannah-Arendt-Preis) anklingt, der in „Politik der Menschenrechte und demokratischer Politik (…) zwei Varianten der Antwort auf die gleiche Anforderung“ sieht, die da laute: „Ressourcen der Freiheit und Kreativität auszuschöpfen, aus denen eine Erfahrung ihre Kraft zieht, die die Auswirkung der Teilung auszuhalten vermag; der Versuchung zu widerstehen, die Gegenwart gleichsam gegen die Zukunft auszutauschen, sondern im Gegenteil die Anstrengung zu unternehmen, in der Gegenwart die Erfolgsaussichten aufzuspüren, die sich durch die Verteidigung erworbener Rechte und die Forderung nach neuen Rechten abzeichnen, und dabei zu lernen, diese von der bloßen Befriedigung von Interessen zu unterscheiden.“ Zuzustimmen ist dem Autor, dass es einer solchen Politik nicht „an Kühnheit mangelt“ (zit. S. 266), was allenthalben und weltweit zu beobachten ist wie ebenso, wie die oppositionelle Politik betreibenden AkteurInnen befriedet und integriert werden oder mundtot gemacht und gewaltsam unterdrückt – schon ein Gemeinplatz. Wo es nach Revolte oder Revolution riecht, zumal wenn kapitalismuskritisch infiziert, wird das Versprechen des Abschleifens der allzu scharfen Ränder dieses ökonomischen Systems als Antidot angedient und im Subtext wird auf das hin moderiert, was vormals unter das in the long run heilbringende Social Change fiel oder eben in einen ‚langen Marsch‘ einweist, auf den man sich die Fußfesseln selbst anzulegen hat. Dass Menschenrechte interessiert und dann mit ökonomischem Hintergrundrauschen, was jeweils zu analysieren wäre, instrumentalisiert werden, spricht die Autorin an und delegiert solche Bearbeitung: „Dass Menschenrechte auch – oder gerade – von jenen im Munde geführt werden, die sie verletzen, ist ein weit verbreitetes Phänomen (…), dessen Gründe allerdings eher einer soziologischen Untersuchung zu unterziehen wären.“ (S. 67) – Abgesehen davon, welche Einwände Lefort vermutlich gegen eine auf revolutionäre Umwälzung optierende Perspektive erheben würde, dabei auf radikaldemokratische Veränderungsbestrebungen setzend, so ist doch – wenn auch hier zuspitzend und verkürzend – jener nicht zu unterschlagende Abschnitt an der Frontlinie einer weitaus facettenreicheren Diskussion einzuspeisen, innerhalb derer sich Franziska Martinsen nicht nur verorten lässt, sondern sich selbst positioniert. Dies leistet sie in einer sehr breiten Aufnahme der (nicht nur) politologischen thematischen Befassungen, dabei interdisziplinär anleihenden und ihr engeres Menschenrechts-Thema auch sozialphilosophisch unterfütternd, um schlussendlich zu dem nur dem ersten Anschein nach bescheidenen Ergebnis zu kommen, dass die Exklusion von zurzeit über Kontinente migrierenden und in Nationalstaaten zu- oder einwandernden Menschen eben nicht nur ein moralisches, sondern – in ihrem Sinne – politisches Problem darstellt.

Zwar nicht nur in Anmerkungen, da aber Anschlussdiskussionen provozierend, bezieht sich die Autorin auf Philosophie (vgl. bspw. Anm.31, S. 58 u. Anm. 19, S. 229), auf u.a. Philosophen der Aufklärung, Herder, Kant, schließlich auch Hegel, hier dann mit Hinweis auf Verurteilung der Sklaverei mit gleichzeitig rassistischen Zuschreibungen gegenüber den Betroffenen und auch der insbesondere Kantischen Konzeption des Rechtssubjekts. So laviert sie in dieser Weise auf die Ebene einer ihr scheint‘s entgegenkommenden neukantianischen Position, an den Werten der Aufklärung erst einmal festzuhalten und es stünde an, sie zu reklamieren und zu verwirklichen, wobei die Bruchstellen aus der inneren Logik des Kapitalismus außen vor bzw. außer Acht gelassen werden. Kritische Philosophen würden hier sicherlich intervenieren – wie auch gegen die Position, die Franziska Martinsen vertritt.

Die Autorin setzt auf den „politischen Aushandlungsprozess“ und auf die „Entfaltung einer streitbaren Öffentlichkeit“ (S. 195; s.o.), worin ein Optimismus mitschwingt, den man nicht teilen muss. Und allen, die sich in einem „Ermächtigungsprozess“ befänden, stünde jenes Arendtsche, „fundamentale()“ Recht auf Rechte zu (S. 256; s.o.); ob und wie und mit welchen Mitteln diese Aushandlungsprozesse in actu und womöglich weiterhin abgebrochen und jenes Recht auf Rechte weit im Vorfeld durch Macht und Herrschaft und alle Anstrengungen, den Status quo zu erhalten, torpediert wird, ist durchaus diskussionswürdig – und Gegenstand praktischer Erfahrung politisch oppositioneller Gruppen, auch derer, die sich in die Bereinigung dilemmatischer Problemzonen verbeißen und nicht ‚das Ganze‘ infrage stellen, als Ursache sehen, bekämpfen. Auch ist nach Ansicht der Autorin nicht davon auszugehen, dass sich (nach dem Modell der Multitude von Hardt/Negri) AktivistInnen „auch nur annähernd zu einem globalen Demos oder zu einem Pendant einer weltweiten Arbeiterklasse zusammenschließen“ wegen Fehlens einer gemeinsamen Interessenlage und eines gemeinsamen Fundaments „an normativen Vorstellungen.“ Man verabschiede sich also vom offensichtlich abgewirtschafteten Ziel einer ‚Weltrevolution‘ und bescheide sich damit, was Menschenrechte vermöchten – nämlich in „Prozessen der Subjektivation (…) eine bedeutsame Rolle spielen, als sie zum einen Bezugspunkt für historische politische und soziale Kämpfe um politische Gleichheit und die Erlangung von Rechten bilden, zum anderen eng verknüpft mit der Vorstellung einer demokratischen Ordnung jenseits des Empire (resp. polizeilicher Ordnungen) sind.“ (S. 263) Im ‚Manifest‘ von Marx und Engels war die Optik auf soziale Kämpfe in ihrer Dynamik in etwa vergleichbar, doch aber im Hinblick auf ihre Wirkung unterschieden: Die Arbeiter stifteten „selbst dauernde Assoziationen, um sich für die gelegentlichen Empörungen zu verproviantieren. Stellenweise bricht der Kampf in Emeuten aus. Von Zeit zu Zeit siegen die Arbeiter, aber nur vorübergehend. Das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“, um im Folgesatz zu betonen, dass dabei die „wachsenden Kommunikationsmittel“ förderlich wirkten, was bekanntlich auch heute noch genutzt wird. Allein die Geschichte der Arbeiterbewegung, sollte, was (weltweite) „Vereinigung“ betraf, da eines Anderen belehren, bislang, ebenso das scheint’s fortlaufende Scheitern gegenwärtiger oppositioneller Bewegungen, was allerdings auch nicht ausgestanden ist. – Man wird sehen…

Fazit

Politikberatung ist es bestimmt nicht, was Franziska Martinsen mit ihrem bemerkenswerten Anliegen um sinnhafte Erweiterung und somit Korrektur der Menschenrechte reklamiert. Jedem Rechten oder Rechtslastigen bis Wertekonservativen dürfte ihre Schrift ein Graus sein. Die „monokulturell geprägte Schrebergartenmentalität“ (Legnaro) der deutschen Mehrheitsbevölkerung, wenn es denn so ist, dürfte erheblich irritiert werden, eine gutmenschelnde Grundhaltung des Friedlich-Schiedlich weniger. Doch darum geht es der Autorin nicht; das Anliegen, das sie höchst elaboriert vorträgt, bietet sicherlich nicht nur Studierenden der Politikwissenschaft und der Sozialwissenschaften reichlich Diskussionsstoff und eröffnet – weshalb es zu empfehlen ist – eine gebotene Perspektive, die auf der aktuellen Agenda steht.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 01.10.2019 zu: Franziska Martinsen: Grenzen der Menschenrechte. Staatsbürgerschaft, Zugehörigkeit, Partizipation. transcript (Bielefeld) 2019. ISBN 978-3-8376-4740-2. Reihe: Edition Politik - 75. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/25992.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.


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