Dominik H. Enste (Hrsg.): Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland
Rezensiert von Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker, 17.05.2005

Dominik H. Enste (Hrsg.): Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Eine ordnungspolitische Analyse und Reformagenda.
Deutscher Instituts-Verlag GmbH DIV
(Köln) 2004.
208 Seiten.
ISBN 978-3-602-14678-9.
24,80 EUR.
Reihe: IW-Analysen - 9.
Das Thema
Demografisch und ökonomisch veränderte Rahmenbedingungen führen auch in der Bundesrepublik Deutschland zu einer sich zuspitzenden Diskussion über die Rolle des Sozialstaates. Und diese Debatte trifft ebenso die Wohlfahrtsverbände in ihrer Funktion und Bedeutung als Anbieter sozialer Dienstleistungen. Über alle politische Lager hinweg besteht Einigkeit darüber, dass der Sozialstaat alter Prägung samt seiner organisatorischen Infrastruktur in der bestehenden Form weder weiter zukunftsträchtig noch länger finanzierbar ist. Heftiger Streit allerdings löst die Frage aus, wohin die Reise hingehen soll und welche anderen Lösungen zu präferieren sind. Wahlkampfzeiten täuschen hierbei darüber hinweg, dass diese Debatten sich keineswegs auf substanziell unterschiedliche, klar voneinander abgrenzbare Konzepte zwischen den um politische Macht konkurrierenden Volksparteien gründen. Zu sehen sind vielmehr Positionierungen, die zunehmend quer zu diesen politischen Lagern vorgenommen werden. Die Kritik am Bestehenden und die Suche nach neuen Lösungen sind hierbei gleichermaßen Folgen nicht nur nationaler und politisch gewollter (Rechts-)Entwicklungen, sondern gleichfalls inspiriert durch europäisch sich stellende Herausforderungen. Seit geraumer Zeit stehen deshalb nicht zufällig die Wohlfahrtsverbände als Anbieter sozialer Dienstleistungen im Zentrum der Kritik. Insbesondere für die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben sich nämlich seit Beginn der 1990er Jahre die Rahmenbedingungen dergestalt verändert, dass ein "business as usual" nur noch um den Preis eines drohenden Organisationsversagens möglich ist. Schon lange dem ökonomischen Nischendasein entronnen, sind diese Verbände inzwischen wichtige volkswirtschaftliche Akteuere; ihre Bedeutung als Anbieter und Arbeitgeber in einem prosperierenden Dienstleistungsmarkt ist unübersehbar und von hoher Relevanz. Die Spitzenverbände befinden sich hierbei in einer Zerreißprobe zwischen gleichzeitigen Orientierungen an Mitgliederinteressen, anwaltschaftlichen Optionen, wettbewerblichen Anbieterstrukturen und zunehmender Marktöffnung.. Dies alles ist begleitet vom irreversiblen Prozess einer rückgehenden staatlichen Alimentierung. Die Vorschläge, wie aus der Klemme herausgefunden werden soll, fallen je nach Sichtweise recht unterschiedlich aus. Die öffentlichen und lobbyistisch begründeten Verlautbarungen der Spitzenverbände verdecken hierbei oftmals die innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege gegensätzlich vertretenen Optionen. Sie umfassen eine Bandbreite von wettbewerblicher Positionierung und Marktöffnung einerseits bis hin zum Festhalten an zu modifizierenden Subsidiaritätsstrukuren und damit weiterhin zu schützenden öffentlichen Subventionierungen andererseits. Das was sich nach außen hin als scheinbar gleichartiges Interesse präsentiert, erweist sich somit bei näherem Hinsehen in hohem Maße als strukturell different. Wenn damit "die" Verbände nicht mit einer Stimme zu einer reformpolitischen Agenda aufrufen können, so gelingt dies offensichtlich eher aus externer Sichtweise. Nach der Veröffentlichung von Ottnad/Wahl/Miegel (2000) liegt mit der Studie von Enste eine weitere Publikation vor, die es in sich hat und an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt. Aus dem Blick einer ordnungspolitischen Perspektive, die ganz eindeutig auf mehr Wettbewerb und Markt setzt und in diesem Kontext für subsidiäre Leistungsstrukturen plädiert, erfolgt eine fundierte und gut lesbare Auseinandersetzung mit den deutschen Wohlfahrtsverbänden, die sich nicht nur auf eine beschreibende Kritik begrenzt, sondern mit konkreten Handlungsempfehlungen verbunden ist.
Der Autor / der Hintergrund
Enste, Jahrgang 1967 ist Referatsleiter am Institut der deutschen Wirtschaft in Köln und hier für den Arbeitsbereich "Rechts- und Institutionenökonomik/Wirtschaftsethik" zuständig. Der Ausbildung zum Bankkaufmann folgte ein wirtschaftswissenschaftliches Studium an mehreren europäischen Universitäten. Neben seiner Tätigkeit als Referatsleiter im IW ist Enste als Lehrbeauftragter an verschiedenen Hochschulen tätig.
Der Inhalt
Was das Buch auszeichnet ist das Unterfangen, im Lichte neuer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Herausforderungen die Aufgaben der Wohlfahrtsverbände neu zu justieren. Die vorgenommene ordnungs- und institutionenökonomische Analyse geht hierbei dreischrittig vor. Sie basiert erstens auf einer systematischen Bestandsaufnahme der gegenwärtigen Ist-Situation und der sich hierbei stellenden Herausforderungen an die Wohlfahrtsverbände. Hierauf aufbauend wird aus volkswirtschaftlicher Perspektive die Organisationslogik der Wohlfahrtspflege als Teil eines Dienstleistungsbereiches dargestellt. Die hieraus entwickelt Diagnostik führt drittens zu wirtschaftspolitischen Handlungsempfehlungen, die für eine weitgehende Marktverfassung der Freien Wohlfahrtspflege plädieren.
Der Text ist in sechs Hauptkapitel unterteilt, ergänzt durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis sowie ein Abstract in deutscher und englischer Sprache. Der einleitende Textabschnitt befasst sich mit den neuen Anpassungsanforderungen an die Freie Wohlfahrtspflege, thematisiert die Bedeutung dieses Wirtschaftssektors, referiert die bisherige Kritik an den Verbänden und deren Einrichtungen und erläutert den Aufbau der Studie. Kapitel 2 bis 5 stellen den Kern der Untersuchung dar; gliederungssystematisch werden folgende Hauptaspekte bearbeitet:
2 Wirtschaftliche und gesellschaftliche Herausforderungen
2.1 Demografische Entwicklung
2.2 Die Lage auf dem Arbeitsmarkt
2.3 Wachstum und Konjunktur
2.4 Finanz- und Sozialpolitik
2.5 Gesellschaftliches und bürgerschaftliches Engagement
2.6 Wettbewerbspolitik und Marktöffnung
2.7 Zusammenfassung der Herausforderungen
3 Aufbau, Struktur und Sozialmanagement der Freien Wohlfahrtspflege
3.1 Dritter Sektor: Intermediär zwischen Markt und Staat
3.2 Die Freie Wohlfahrtspflege in Deutschland
3.3 Die sechs Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege im Einzelnen
4 Ordnungspolitische Analyse der Freien Wohlfahrtspflege
4.1 Ordnungsökonomische Basis für die Analyse und die Ableitung von Handlungsempfehlungen
4.2 Markt, Wohlfahrtsverbände und Staat im Vergleich
4.3 Überprüfung der Marktverfassung für soziale Dienstleistungen
4.4 Wohlfahrtsverbände als korporative Akteure
5 Handlungsempfehlungen
5.1 Ordnungspolitische Leitlinie
5.2 Strategische Optionen für die Wohlfahrtsverbände
5.3 Modernes Sozialmanagement
5.4 Ordnungspolitische Reformagenda
Die Argumentation der Studie beinhaltet eine klare Botschaft. Es ist die ordnungspolitische Leitlinie, neben der notwendigen Professionalisierung des Sozialmanagements und der erforderlichen Entflechtung der Wohlfahrtsverbände eine weitgehende marktbasierende Angebotsstruktur zu entwickeln und bisherige Sonderbehandlungen zu beenden. Hinsichtlich des erstgenannten Punktes dürfte es wenig Widerspruch geben. Auch in den Reihen eingefleischter Traditionalisten und "Verbändeverteidiger" werden ähnlich lautende Professionalisierungsprozesse eingefordert. Auch die sich auf des Mesoebene stellenden Strukturreformen dürften innerhalb der Verbände nicht nur auf weitgehende Zustimmung stoßen, sondern führen schon jetzt in vielen Bereichen zu entsprechenden Organisationsentwicklungen. Auf teilweise entschiedenen Widerspruch hingegen dürfte die präferierte Marktöffnung sozialer Dienstleistungen treffen. Aber auch hier wird man Enstes Argumentation nicht mit dem plakativen Etikett "Neoliberalismus" abtun können. Der Gedankengang ist differenzierter und erfordert, sich von bisherigen Scheuklappen lösen zu müssen. Gelingt dies, dann schwinden viele Argumente, die eine Marktorientierung sozialer Dienste prinzipiell verneinen und ein solches Unterfangen als Eintrittstor in eine "entsoldidarisierte" Gesellschaft geißeln. Man muss keineswegs den ordnungspolitischen Denkansatz Enstes teilen, um gleichwohl seinen Schlussfolgerungen in weiten Teilen zuzustimmen. Auch aus anderen Positionierungen heraus ergeben sich ähnliche Forderungen nach überfälligen Strukturreformen bei der Erbringung sozialer Dienstleistungen.
Zielgruppen
Der Text empfiehlt sich nicht nur für Manager in Sozialbetrieben, für Verbandsfunktionäre und Sozialpolitiker (aller Parteien!), eigene Positionen in Auseinandersetzung mit einer klaren ordnungspolitischen Prämisse und damit einhergehenden Optionen zu überprüfen. Ebenfalls geeignet ist der Text für die Hochschullehre. Wird die Studie parallel und ergänzend zu anderen kritischen Veröffentlichungen über die Freie Wohlfahrtspflege rezipiert, so bietet sich insbesondere für fortgeschrittene Studenten/en der Sozialen Arbeit, Sozialpolitik, der Volks- und Betriebswirtschaft eine ausgezeichnete Möglichkeit für eine fundierte Auseinandersetzung mit anstehenden Modernisierungsprozessen einer nicht nur national begrenzbaren sozialen Dienstleistungsstruktur. Die Aufgabe, den eigenen Standort in Auseinandersetzung mit anderen Positionen argumentativ zu finden, erhält durch die vorliegende Veröffentlichung eine weitere wichtige Textgrundlage.
Fazit
Neben der klaren Positionierung zeichnet sich das Buch durch eine erfreulich prägnante Sprache und Gedankenführung aus. Das Zusammenführen von ordnungspolitischen Überlegungen und betriebswirtschaftlichen Prämissen führt hierbei keineswegs zu einer abgehobenen Expertensprache oder zu schlecht-akademischen Sprachverschraubungen. An vielen Stellen ist der Text zusätzlich untermauert durch informative Tabellen und Übersichten, was die Lesefreundlichkeit des Buches unterstützt. Die einzige Sorge ist, dass die Veröffentlichung von Enste im Getöse der allgemeinen Debatte untergeht oder als Folge habitualisierter Voreinschätzungen/Vorurteile durch die Industrienähe des Autors und des Verlages ignoriert wird.
Rezension von
Prof. Dr. Karl-Heinz Boeßenecker
bis 2009 Leiter des FSP Wohlfahrtsverbände / Sozialwirtschaft der Hochschule Düsseldorf; Prof. am Zentrum für Planung und Organisation sozialer Dienster, Universität Siegen; Prof. für Sozialmanagement an der Hochschule des DRK Göttingen (nicht mehr bestehend!); hauptamtlicher Dekan a.D./Vizepräsident und Professor für Verwaltungs- und Organisationswissenschaften an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW), Fakultät Wirtschaft und Soziales, seit 2011 im Ruhestand. Lehrbeauftragter an der Leuphana Universität Lüneburg. Nebenberuflicher Direktor am Institut für Zukunftsfragen der Gesundheits- und Sozialwirtschaft – IZGS - der Evangelischen Hochschule Darmstadt, www.izgs.de. Inhaber und Leiter des Instituts für sozialwissenschaftliche Politik- und Organisationsberatung – ISP – Köln
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Zitiervorschlag
Karl-Heinz Boeßenecker. Rezension vom 17.05.2005 zu:
Dominik H. Enste (Hrsg.): Die Wohlfahrtsverbände in Deutschland. Eine ordnungspolitische Analyse und Reformagenda. Deutscher Instituts-Verlag GmbH DIV
(Köln) 2004.
ISBN 978-3-602-14678-9.
Reihe: IW-Analysen - 9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/2600.php, Datum des Zugriffs 28.09.2023.
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